Gott und die Verfassung
Kirchenrepräsentanten und mit ihnen viele Bürger hätten gern gehabt, dass dem vorerst gescheiterten Entwurf einerEuropäischen Verfassung eine Präambel mit "Gottesbezug" vorangestellt worden wäre. Andere Bürger halten den Verzicht darauf für besser, und sogar Gläubige, die zu beten wissen, halten einen "Präambelgott" für entbehrlich.
Aber hinter dieser ironischen Rede vom Präambelgott verbirgt sich ein Missverständnis. Auch der Gott, der in der Präambel des deutschen Grundgesetzes genannt wird, ist ja keine religiöse Schwundstufengröße. Es handelt sich vielmehr um denselben Gott, den Christen, auch Juden und Moslems in frommer Absicht bekennen.
Andere Verfassungen europäischer Länder werden sogar noch konkreter als die deutsche und ziehen die Anrufung Gottes vor, wie ihn exklusiv Christen kennen, den Gott der "Allerheiligsten Dreifaltigkeit" nämlich – so die Verfassung der Republik Irland oder auch das griechische Grundgesetz.
So oder so: Das laizistische Frankreich will das nicht und Portugal ebenso wenig.
Wir in Deutschland hingegen beziehen uns nicht nur im Grundgesetz, vielmehr auch noch in anderen Rechtstexten von großer Bedeutung immer wieder einmal auf Gott – zum Beispiel in der vertrauten Anrufung der Hilfe Gottes in der Regelform unserer Eide. In Nordrhein-Westfalen sind unverändert die Lehrer kraft Verfassung verpflichtet, die Schulkinder zur Ehrfurcht vor Gott zu erziehen, und der Sonntag, der ja kulturell ein Erbstück christlicher Tradition darstellt, ist im Grundgesetz festgeschrieben.
Handelt es sich bei solchen religiösen Beständen unserer öffentlichen Ordnung um Relikte unserer Vormodernität? Stirbt die Religion unaufhaltsam ab und wäre ihre aktive Verdrängung aus der politischen Öffentlichkeit ein Progressivitätsbeweis und überdies eine überfällige, toleranzgebotene Massnahme mit Rücksicht auf die wachsende Zahl der Nicht-Christen unter uns?
In den USA, in der Tat, sind Staat und Religion strikt getrennt. Andererseits: Gerade in diesem Land pflegen die Präsidenten in ihre öffentlichen Reden immer wieder einmal Gebete einzuflechten. Mit dem Segenswunsch "God bless you!" werden Staatsbesuche beschlossen, und die Einschwörung des Präsidenten erfolgt auf die Bibel.
Das alles bedeutet: Die Idee, Modernität und öffentliche Präsenz religiösen Lebens vertrügen sich nicht, ist ihrerseits ein intellektuelles Relikt aus dem verstaubten Anteil der speziellen kontinentaleuropäischen Aufklärungstraditionen. Das Bürgertum, fand Karl Marx, habe die Religionsfreiheit durchgesetzt. Nachbürgerlich handle es sich nun um die Befreiung der Menschheit von der Religion, und die Emanzipation der Juden sei durch die Emanzipation der Menschheit vom Judentum zu überbieten.
Hitler hingegen glaubte an eine Traditionslinie zersetzenden jüdischen Glaubens, die in der Gestalt des Bolschewismus von Moses bis Lenin reiche, und die gewalttätige Phase des nationalsozialistischen Judenpogroms begann konsequenterweise mit der Abfackelung der Synagogen.
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der grossen totalitären Schrecken, und die totalitären Ideologien hatten nicht zufällig den Status von Anti-Religionen. Es wäre naiv, jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Religion für ein politikgeschichtlich erledigtes Kapital zu halten und den Laizismus des 19. Jahrhunderts mit seiner Parole, Religion sei Privatsache, für ein realistisches religionspolitisches Zukunftsprogramm.
Wahr ist, dass religiöser Glaube sich nicht mit dem Hinweis öffentlich anempfehlen, gar kräftigen liesse, Glaube sei doch als Medium gemeinschaftsbindender "Werte", ja als Antidot gegen totalitäre Versuchungen politisch sehr nützlich. Nützlich ist er in der Tat. Aber das resultiert nicht aus dem Glauben an diese Nützlichkeit. Der Nutzen des Glaubens ist vielmehr einzig als Folge der Glaubensgewissheit zu haben.
Vermutungen über die Zukunft der Religion sollte man nicht auf demoskopisch vermessene Trends stützen. Man muss vielmehr fragen, ob sich denn modernisierungsabhängig an den Gründen, die Menschen seit eh und je bei der Religion haben Zuflucht suchen lassen, irgendetwas geändert hat. In Lebenslagen, wo nur noch Beten hilft, geraten wir unverändert auch heute, und wo wir uns stattdessen unserer Könnerschaften erfreuen, erfahren wir stets zugleich deren Abhängigkeit von Umständen, auf die sich unsere Könnerschaften gar nicht beziehen lassen, so dass wir schließlich zu danken haben.
Entsprechend wird, um es exemplarisch zu sagen, auch im Zeitalter hiesiger Agrarüberschüsse das Erntedankfest gefeiert werden, und der Adressat der Feier wird nicht die EU-Subventionsgeldverwaltung sein.
Hermann Lübbe, geboren 1926 in Ostfriesland, studierte Theologie und Philosophie, promovierte in Freiburg und habilitierte sich 1956 in Erlangen. Neben seinen Lehrtätigkeiten war Lübbe zeitweise Staatssekretär für Hochschulangelegenheiten. 1971 wurde er als Professor für Philosophie und Politische Theorie an die Universität Zürich berufen. Das Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien (u. a. des PEN und des "Bundes Freiheit der Wissenschaft") gilt als einer der einflussreichsten Köpfe der Gegenwartsphilosophie. Seit seiner Emeritierung ist er weiterhin als Honorarprofessor tätig. Lübbe ist Autor zahlreicher Publikationen, zuletzt erschienen u. a. "Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual" und "Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart".
Andere Verfassungen europäischer Länder werden sogar noch konkreter als die deutsche und ziehen die Anrufung Gottes vor, wie ihn exklusiv Christen kennen, den Gott der "Allerheiligsten Dreifaltigkeit" nämlich – so die Verfassung der Republik Irland oder auch das griechische Grundgesetz.
So oder so: Das laizistische Frankreich will das nicht und Portugal ebenso wenig.
Wir in Deutschland hingegen beziehen uns nicht nur im Grundgesetz, vielmehr auch noch in anderen Rechtstexten von großer Bedeutung immer wieder einmal auf Gott – zum Beispiel in der vertrauten Anrufung der Hilfe Gottes in der Regelform unserer Eide. In Nordrhein-Westfalen sind unverändert die Lehrer kraft Verfassung verpflichtet, die Schulkinder zur Ehrfurcht vor Gott zu erziehen, und der Sonntag, der ja kulturell ein Erbstück christlicher Tradition darstellt, ist im Grundgesetz festgeschrieben.
Handelt es sich bei solchen religiösen Beständen unserer öffentlichen Ordnung um Relikte unserer Vormodernität? Stirbt die Religion unaufhaltsam ab und wäre ihre aktive Verdrängung aus der politischen Öffentlichkeit ein Progressivitätsbeweis und überdies eine überfällige, toleranzgebotene Massnahme mit Rücksicht auf die wachsende Zahl der Nicht-Christen unter uns?
In den USA, in der Tat, sind Staat und Religion strikt getrennt. Andererseits: Gerade in diesem Land pflegen die Präsidenten in ihre öffentlichen Reden immer wieder einmal Gebete einzuflechten. Mit dem Segenswunsch "God bless you!" werden Staatsbesuche beschlossen, und die Einschwörung des Präsidenten erfolgt auf die Bibel.
Das alles bedeutet: Die Idee, Modernität und öffentliche Präsenz religiösen Lebens vertrügen sich nicht, ist ihrerseits ein intellektuelles Relikt aus dem verstaubten Anteil der speziellen kontinentaleuropäischen Aufklärungstraditionen. Das Bürgertum, fand Karl Marx, habe die Religionsfreiheit durchgesetzt. Nachbürgerlich handle es sich nun um die Befreiung der Menschheit von der Religion, und die Emanzipation der Juden sei durch die Emanzipation der Menschheit vom Judentum zu überbieten.
Hitler hingegen glaubte an eine Traditionslinie zersetzenden jüdischen Glaubens, die in der Gestalt des Bolschewismus von Moses bis Lenin reiche, und die gewalttätige Phase des nationalsozialistischen Judenpogroms begann konsequenterweise mit der Abfackelung der Synagogen.
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der grossen totalitären Schrecken, und die totalitären Ideologien hatten nicht zufällig den Status von Anti-Religionen. Es wäre naiv, jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Religion für ein politikgeschichtlich erledigtes Kapital zu halten und den Laizismus des 19. Jahrhunderts mit seiner Parole, Religion sei Privatsache, für ein realistisches religionspolitisches Zukunftsprogramm.
Wahr ist, dass religiöser Glaube sich nicht mit dem Hinweis öffentlich anempfehlen, gar kräftigen liesse, Glaube sei doch als Medium gemeinschaftsbindender "Werte", ja als Antidot gegen totalitäre Versuchungen politisch sehr nützlich. Nützlich ist er in der Tat. Aber das resultiert nicht aus dem Glauben an diese Nützlichkeit. Der Nutzen des Glaubens ist vielmehr einzig als Folge der Glaubensgewissheit zu haben.
Vermutungen über die Zukunft der Religion sollte man nicht auf demoskopisch vermessene Trends stützen. Man muss vielmehr fragen, ob sich denn modernisierungsabhängig an den Gründen, die Menschen seit eh und je bei der Religion haben Zuflucht suchen lassen, irgendetwas geändert hat. In Lebenslagen, wo nur noch Beten hilft, geraten wir unverändert auch heute, und wo wir uns stattdessen unserer Könnerschaften erfreuen, erfahren wir stets zugleich deren Abhängigkeit von Umständen, auf die sich unsere Könnerschaften gar nicht beziehen lassen, so dass wir schließlich zu danken haben.
Entsprechend wird, um es exemplarisch zu sagen, auch im Zeitalter hiesiger Agrarüberschüsse das Erntedankfest gefeiert werden, und der Adressat der Feier wird nicht die EU-Subventionsgeldverwaltung sein.
Hermann Lübbe, geboren 1926 in Ostfriesland, studierte Theologie und Philosophie, promovierte in Freiburg und habilitierte sich 1956 in Erlangen. Neben seinen Lehrtätigkeiten war Lübbe zeitweise Staatssekretär für Hochschulangelegenheiten. 1971 wurde er als Professor für Philosophie und Politische Theorie an die Universität Zürich berufen. Das Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien (u. a. des PEN und des "Bundes Freiheit der Wissenschaft") gilt als einer der einflussreichsten Köpfe der Gegenwartsphilosophie. Seit seiner Emeritierung ist er weiterhin als Honorarprofessor tätig. Lübbe ist Autor zahlreicher Publikationen, zuletzt erschienen u. a. "Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual" und "Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart".