Gottes Geschöpf oder Produkt des Zufalls?

Ist der Mensch ein Geschöpf Gottes oder nur ein Zufallsprodukt einer zufällig entstandenen Natur? - Um diese Frage gibt es seit der Aufklärung einen heftigen Schlagabtausch zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften. In "Das Säugetier von Gottes Gnaden" legt der Theologe und Biologe Ulrich Lüke seine Sicht auf den aktuellen Stand des Diskurses dar und kommt zu der Erkenntnis, dass sich beide Perspektiven keineswegs ausschließen müssen.
Im Titel ist ja schon beides enthalten: Die naturwissenschaftliche Beschreibung des Menschen als "Säugetier" und seine theologische Erklärung als ein Geschöpf "von Gottes Gnaden". Ist denn beim Autor eine gewisse Tendenz zu einer Seite zu erkennen, vielleicht auch aus seiner Vita?

Lüke ist eigentlich immer zweigleisig gefahren, studierte katholische Theologie, Biologie und Philosophie in Münster und Regensburg und erhielt 1980 die Priesterweihe. Von 1980 bis 1992 war er Gymnasiallehrer für Biologie und Religion. Seit 1993 ist aber die Theologie stärker in den Fokus gerückt, in diesem Jahr wurde er Dorfpfarrer im Münsterland, was er bis 1998 blieb. Nach der Promotion und Habilitation wurde er Professor für Philosophie und Fundamentaltheologie an der KFH Freiburg, zurzeit ist er Professor für Systematische Theologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Universität Aachen.
Lüke hat bereits eine ganze Reihe von Büchern zum Thema Theologie und Naturwissenschaften publiziert. Da er einen Fuß in jedem Lager hat, scheint er für dieses Thema geradezu prädestiniert.

Wie ist seine Vorgehensweise?

Lüke sucht sich die besonders umstrittenen Punkte zwischen den Naturwissenschaften und der Theologie heraus, also zum Beispiel Evolutionstheorie versus Schöpfungsgeschichte, oder medizinische Entwicklungen wie Stammzellenforschung versus christliche Ethik, und diskutiert die Argumente beider Seiten aus historischer und aktueller Perspektive.

Und was sind seine Erkenntnisse?

Es mag paradox klingen, aber Lüke konstatiert, dass eigentlich beide Disziplinen auf dem Glauben beruhen. Dazu zitiert er unter anderen Einstein: "Die Wissenschaft kann [hingegen] nur von denen aufgebaut werden, die durch und durch von dem Streben nach Wahrheit und Erkenntnis erfüllt sind. Diese Quelle der Gesinnung entspringt aber wiederum auf religiösem Gebiet… Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Naturwissenschaft ist blind." Und das ist auch Lükes Credo in diesem Buch: Die beiden Wissenschaften müssten sich gegenseitig respektieren und sich befruchten, statt sich zu bekämpfen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die lange Liste von Theologen und Kirchenmännern, die auch bedeutende Naturwissenschaftler waren, wie zum Beispiel der belgische Priester Georges Lemaître, der die Urknalltheorie entwickelte, oder der Augustinermönch Gregor Mendel, der die klassische Genetik begründete und damit ja sogar die Evolutionstheorie stützte. Lüke ist zwar wissenschaftskritisch – zumal wenn es um Themen wie Stammzellenforschung geht – er ermahnt aber auch die Theologie, sich nicht in der Bibelexegese zu vergraben, sondern sich zu bilden, um "auf Augenhöhe" mit den Naturwissenschaftlern diskutieren zu können. Es geht ihm, wie er immer wieder betont, um die "intellektuelle Redlichkeit" des Diskurses.

Nun weiß man ja aus leidiger Erfahrung, dass die Sprache in solchen Veröffentlichungen oft sehr trocken ist. Wie sieht es bei Lüke aus?

Das größte Plus dieses Buches ist wohl sein Sprachwitz. Andere Publikationen Lükes tragen zum Beispiel Titel wie "Erregung öffentlichen Umdenkens" oder "Fahrlässige Tröstung". Man muss gelegentlich laut Auflachen. Er zitiert Albert Einstein und Kant genauso wie Helmut Qualtinger oder Erich Kästner. Im Aspekt der Sprache ist aber auch das große Minus dieses Buches zu sehen: Lüke verwendet viel philosophisches und wissenschaftliches Fachvokabular sowie lateinische Zitate, von denen einige unübersetzt bleiben. Gelegentlich beschleicht einen das Gefühl, dass er bei der Abfassung dieses Textes zu sehr an seine "Kontrahenten" gedacht hat statt an den interessierten Leser.

Also eine harte Nuss?

Ja, aber eben auch eine lohnenswerte. Dieser Diskurs hat etwas von einem spannenden Krimi, von dem auch noch jeder persönlich betroffen ist – schließlich sind wir alle Menschen. Ständig findet die Naturwissenschaft neue Details, ständig kommt auch die Theologie mit neuen Antworten.

Und was sind wir denn nun: Produkte der Evolution oder Geschöpfe eines Kreators?

Würde Lüke hier zu einem simpel formulierten Endergebnis kommen, so wäre ihm ja schon zu misstrauen. Lüke stellt lediglich fest, dass für beide Disziplinen gilt: Da, wo sie einen Alleinvertretungsanspruch auf die Wahrheit postulieren, irren sie. Insgesamt tendiert Lüke schließlich dennoch zu einer eher theologischen Grundhaltung. Diese zeigt sich in seiner Vermutung, dass das, was die Naturwissenschaft als zufällige Evolution begreift, eine Chiffre für einen Schöpfergott sein könne, der sich hinter für uns zu komplexen Zusammenhängen verbirgt und den wir nicht erfassen können. Vielleicht, so Lüke, zieht der liebe Gott ja den grauen Kittel an, den wir Menschen Zufall nennen, wenn er inkognito bleiben möchte.

Rezensiert von Ralf Bei der Kellen

Ulrich Lüke: Das Säugetier von Gottes Gnaden
Herder Verlag
336 Seiten, 19,90 Euro