Gott hat ein Anrecht auf meine Ehrfurcht. Mir ist es ein Anliegen, diesem Gott gegenüberzutreten in all meiner Kleinheit, in all meiner Belastetheit, so, wie ich bin, und dann zu wissen: Ja, das darf ich. Da bin ich willkommen.
Gottesbild im Wandel
Heute haben viele Menschen die Vorstellung eines strafenden Gottes hinter sich gelassen. © Unsplash / Pablo Heimplatz
Vom strafenden Richter zum Barmherzigen
10:30 Minuten
Der furchterregende Gott wurde im Christentum immer wieder als Drohung eingesetzt. Das hat sich längst geändert. Heute wird Gott meist liebend und barmherzig wahrgenommen. Doch: Ist das zu einfach? Wie gehen andere Religionen damit um?
Matthias Schnegg, Anne Rapp und Judith Übing – alle katholisch und in der Kirche aktiv – können Gott problemlos mit dem Begriff Ehrfurcht zusammenbringen. "Mit dem Wort Ehrfurcht kann ich was anfangen, obwohl das Wort Furcht darin steckt, was wir ja sehr schnell mit Angst und Beängstigung verbinden", sagt Schnegg. "Aber die Ehrfurcht macht deutlich, dass es jemanden oder etwas gibt, was für sich in Anspruch nehmen kann, dass ich mich persönlich zurücknehme."
Erstaunen vor Gottes Größe
Das kann er gut mit Gott in Verbindung bringen, erklärt Matthias Schnegg, "weil Gott das unbenennbar Größere ist, und dieses unbenennbar Größere es verdient hat, dass ich ihm in Ehre begegne – und Respekt ist dann da wieder viel zu wenig.“
Anne Rapp erzählt, als Kind habe sie lange gebraucht, um herauszufinden, dass es nicht Furcht war, was Ehrfurcht bedeuten konnte. "Und als Jugendliche bildete sich daraus eine Haltung, die ich heute immer noch habe", sagt Rapp. "Ich knie vor meinem Gott, aber vor keinem Menschen. Da ist der große Unterschied."
„Ehrfurcht ja, Angst nein", sagt Judith Übing. "Ehrfurcht, aber nicht im Sinne von: Es ist etwas Unberührbares und da ist eine unüberschreitbare Grenze, wenn ich die übertrete, habe ich einen Fehler gemacht, sondern einfach Ehrfurcht im Sinne von: Staunen, Erstaunen und Respekt gegenüber dieser unglaublichen Unsagbarkeit, Unfassbarkeit und schier unvorstellbaren Größe.“
Angst vor Strafe und Verdammnis
Sie alle hatten das Glück, Gott nicht als strafende Übermacht kennenzulernen, wie es die 1938 geborene Marlies Görres erlebt hat. „Wir hatten eigentlich immer Angst vor dem großen Gott", erzählt sie. "Der war für uns so hoch und so weit weg und so mächtig, das wir gar keinen Zugang hatten. Mit Gott Vater haben wir nichts am Hut gehabt, da hatten wir Angst vor.“
Die schwarze Pädagogik des 19. Jahrhunderts reichte weit ins 20. hinein. Hätte es nicht wenigstens einen Gegenpol gegeben, wäre das Glaubensleben unerträglich gewesen. „Der Jesus, der war der, der uns zugetan war, weil er eben auch Mensch war“, sagt Görres.
Katholisch zu sein bedeutete ansonsten, der gehorsame Teil eines in erster Linie einschüchternden Glaubensgebäudes zu sein, so Görres: „Wir gingen in die Kirche, weil wir Angst hatten. Wenn wir nicht in die Kirche gingen, dann haben wir eine Todsünde begangen. Dass wir in die Hölle kommen, zum Beispiel, und wir kriegten die Angst eben auch eingebläut: In der Hölle ist ewiges Feuer.“
Hoffen auf Liebe und Verzeihung
„Es geht um Handlungskontrolle, es geht um Gedankenkontrolle, es ist mehr wie ein gut durchgeführtes diktatorisches System als ein Glaubenssystem“, sagt Judith Übing, geboren 1991, die von Anfang an einen ganz anderen Gott kennengelernt hat:
Gott ist mir bisher immer nur als liebendes Wesen begegnet und eher als verzeihend als als rächend. Auch, wenn die Geschichten in der Bibel samt und sonders natürlich auch eine Rache-Seite zeigen, so ist er mir als Kind nie vermittelt worden. Das war dann nicht mehr wegzumachen, als ich mit dem Verstand diese anderen Geschichten begreifen konnte.
Viele Geschichten der Bibel erzählen davon, dass Gott ein rachsüchtiger Verfolger sein kann, der die Sünden der Väter noch bis in die siebte Generation verfolgt. Auch die Begegnung mit Gott, wie sie der Prophet Jesaja beschreibt, zeigt, dass es sich um eine gefährliche Angelegenheit handeln kann.
Selbst die Serafim, die Engel, bedecken mit den Flügeln ihr Gesicht, wenn Gott erscheint. Deshalb sagt Jesaja: "Ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen und meine Augen haben den König, den Herrn der Heere, gesehen.“
Gefährliche Nähe des Heiligen
"Das ist nicht etwas, was für den Menschen oder, selbst dann nach der biblischen Überlieferung, für himmlische Wesen ohne Weiteres zugänglich ist oder womit man einen ganz einfachen Umgang pflegen kann", sagt der katholische Theologe Ralf Rothenbusch, "sondern das ist eben die Gottheit, das Göttliche.“
Dass Gott zwei Seiten hat, die für den Menschen nicht einfach zusammenzubringen sind, betont auch die jüdische Theologin Tamar Avraham aus Jerusalem: „In dem Moment, wo ihm Gott erscheint, sagt er: Ich muss sterben, ich habe Gott gesehen. Also ist das auch in dem Sinne zu sehen: Gott nahe zu kommen, ist etwas Todbringendes, potenziell. Da ist auch dieses Heilige, was eben auch gefährlich ist. Ich denke, das muss zur Wesenheit Gottes dazuzugehören, dass er eben auch nicht in unsere Kategorien passt, sondern etwas darüber ist.“
Herr über Licht und Dunkel
"Nicht ohne Grund haben ja Generationen vor uns im Blitz und Donner und sonstigen Urgewalten eine Ausdrucksform Gottes gesehen", sagt Ralf Rothenbusch. "Wenn jemand den Anspruch hat, letztlich der Richter meines Lebens zu sein, dann gibt es natürlich auch die Seiten, die sagen, mit dem kann man nicht einfach nur Schlitten fahren, wie das Sprichwort sagt."
In der Bibel lässt Jesaja Gott selbst sagen, dass er Gutes und Böses in sich vereint:
Ich bin der Herr und sonst niemand. Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der alles vollbringt.
Zeigt sich in dem "lieben Gott", den wir heute gerne in den Mittelpunkt stellen, also vielleicht das Bedürfnis, die furchterregenden Seiten Gottes zu glätten? „Ich denke, es gibt viele Tendenzen – meiner Meinung nach im Christentum viel stärker, aber natürlich auch im Judentum –, dass man diese Seite mehr beiseitedrängen will, dass man sich halt wohler fühlt mit dem guten und gnädigen Gott", sagt Tamar Avraham.
Beten, um die positive Seite zu betonen
"Gott hat beide Seiten, und vielleicht kann das Gebet dazu führen, dass man ihn mehr auf die gute Seite bringt", überlegt Avraham. "Man versucht, mehr die positive Seite zu betonen, aber man weiß, dass die andere da ist. Dieses Betonen des Positiven ist irgendwo ein Bewusstsein: Wir wollen das Stärken gegenüber dem anderen."
Im Judentum habe sich das Bewusstsein für die Schattenseiten des Gottesbildes im Großen und Ganzen stärker erhalten, meint Avraham, "vielleicht auch aufgrund der jüdischen Geschichte, die ja auch viel Leidensgeschichte ist, dass man einfach nicht so schnell die Augen davor zumachen konnte".
Gott ist größer, als alles Menschenwerk und das, was Menschen erfassen können. Die Muslime erinnern mit ihrem Gebetsruf täglich fünf Mal daran. Dass Gott sowohl barmherzige, als auch zu fürchtende Seiten hat, können Muslime sehr gut akzeptieren, sagt der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza.
Gottes Rockzipfel loslassen
„Gott, wenn wir ihn ernst nehmen, hat auch eine unheimliche Seite", sagt Murtaza. "Im Alltag, als Muslim – man klagt eigentlich nicht. Man erkennt an: Leid gehört zu meiner Existenz. Die Frage ist: Wie gehe ich mit Leid um? Aber für den Gläubigen ist das Leid kein Ort der Gottesverlassenheit, sondern, wo ich Gott begegnen kann."
Gott will nicht, dass wir wie Kinder an seinem Rockzipfel hängen, sagt Murtaza, so jedenfalls laute die Botschaft des Koran: "Gott sagt in Sure 2, Vers 30: Der Mensch ist sein Statthalter. – Du bist kein Kind. Du bist ein Mensch, der erwachsen ist, der in Verantwortung gesetzt ist. Du kannst dir eine bessere Welt vorstellen, aber Gott macht es sich nicht zur Aufgabe, uns diese Arbeit abzunehmen, sondern sagt: Ich zeige euch den Weg, ich lehre euch die entscheidenden Werte, an denen ihr eure Gesellschaft gestalten sollt. Aber ihr müsst den Weg gehen, ihr müsst das selber vollbringen.“
Eine Sichtweise, die von der christlichen Erfahrungswelt gar nicht so weit entfernt ist, wie die drei Katholiken Felicitas Roelofsen, Matthias Schnegg und Anne Rapp bestätigen. „Viele Leute bitten, bitten, bitten, und dieser Gott ist keiner, der auf jede Wunde ein Pflaster klebt, sondern da müssen wir alleine durch“, sagt Roelofsen.
Ehrfurcht von der Furcht befreien
„Ich finde, es lohnt sich, die Ehrfurcht vor Gott zu stärken, aber Gott nicht zu gebrauchen, um bestimmte Regeln auf dem Wege der Angst bei Menschen abzutrotzen", ergänzt Matthias Schnegg.
„Dieses Wort Ehrfurcht, das ja im Endeffekt sich gebildet hat im Mittelalter aus den adligen Hierarchien, den hochgestellten Klerikern, denen man ehrfürchtig begegnen musste, das ist ein Fehler, denen muss man gar nicht ehrfürchtig begegnen", sagt Anne Rapp. "Die können Angst und Furcht verbreiten. Das haben sie ja auch oft genug getan. Aber die Ehrfurcht vor Gott ist ein Dürfen, aus meinem Glauben heraus ein Dürfen, kein Müssen und etwas, was mir guttut: Das sein zu dürfen, da einen Platz zu haben.“