Gebärden für den Glauben finden
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Inklusion bedeutet: Verschiedenheit wird wertgeschätzt. Das klingt selbstverständlich, doch in der Praxis bedeutet es harte Arbeit. Zum Beispiel, wenn gehörlose und hörende Menschen so Gottesdienst feiern wollen, dass wirklich alle beteiligt sind.
Das Orgelspiel hat schon eingesetzt, aber in den ersten Bänken laufen weiter lebhafte Unterhaltungen. Nicht unauffällig flüsternd, verstohlen, sondern voller Dynamik. Trotzdem ist es still, denn die Gottesdienstbesucher in den ersten Reihen sprechen mit den Händen. Sie hören das Orgelspiel nicht und drehen sich erst nach vorne, als Bewegung in den Raum kommt.
Botschaften ins Bild bringen - mit vollem Körpereinsatz
Pfarrer Hermann-Josef Reuther betritt den Altarraum und mit ihm Juliane Mergenbaum, auf die alle gehörlosen Besucher und Besucherinnen sich augenblicklich fokussieren. Sie übersetzt alles, was jetzt folgt, in Gebärdensprache. "Ich muss ein Wissen haben über das Phänomen, über die Behinderung: Jemand ist schwerhörig oder gehörlos", sagt Mergenbaum. "Ich muss mich reindenken können. Derjenige soll die Information haben, hört sie nicht, ich muss es also ins Bild bringen."
Juliane Mergenbaum steht, genau wie auch der Pfarrer, ein wenig erhöht und dadurch gut sichtbar. Jede ihrer Bewegungen ist Sprache, Information und auch Deutung für die gehörlosen Gottesdienstbesucher und -besucherinnen. Die Art und Weise, wie sie Arme, Hände und Finger bewegt, die Art, wie sie ihre Mimik sprechen lässt, hat wenig mit dem zu tun, was man von Gehörlosen-Dolmetschern aus den Fernsehnachrichten kennt. Ihre Bewegungen sind fließender und ruhiger.
"Ich spreche nicht vom Dolmetschen, weil ich vom Berufsprofil keine Dolmetscherin bin", erklärt Mergenbaum. "Eigentlich ist meine Aufgabe, die Texte des Gottesdienstes zu übersetzen, indem ich sie in Gebärdensprache umsetze – aber nicht im Sinne eines professionellen Dolmetschers, wir sprechen lieber vom Sichern der Kommunikation."
Hände empfangen und leiten zum Herzen
Juliane Mergenbaum erklärt ihre Arbeit an einem Beispiel aus der Messe: "Man muss schon wissen: Was hat das eigentlich für eine inhaltliche Bedeutung? Also, ein 'Herr, erbarme dich, Christus, erbarme dich' wird 1:1 übersetzt, indem ich beide Hände nach oben halte und sie zusammen aufs Herz hin führe. Das heißt also, Gott schenkt mir da etwas, was im Herzen stattfindet. Und so antworten Gehörlose auch auf diese Texte."
Hier wird also nicht die Vokabel "erbarmen" übersetzt, sondern ihre Bedeutung: Auch der Heilige Geist wird ähnlich gebärdet. Die Hand bekommt hier die Form einer Dusche, die über dem Kopf etwas ausgießt – und ebenfalls ins Herz fließen lässt.
"Und kein Gehörloser wird denken, dass da jetzt Wasser von oben kommt", sagt Mergenbaum, "sondern Geist ist etwas, was mir geschenkt wird und was mir ins Herz geht."
Übersetzung in eine andere Form des Denkens
Eine Übersetzung für Gehörlose kann die komplizierte Grammatik und den umfassenden Wortschatz der deutschen Sprache nicht vermitteln. Und erst recht nicht die alte, biblische Sprache. Umso wichtiger ist es, die Bedeutungsebene zu vermitteln, ohne sich allerdings dabei auf Kinderbibel-Niveau zu begeben, wie Pfarrer Hermann-Josef Reuther betont, der selbst die Gebärdensprache beherrscht:
"Es ist im Zusammenhang mit Hörbehinderungen auch immer davon zu sprechen, was daran schwer auszuhalten ist, und immer wieder mit dem Gefühl von: Warum werde ich nicht gesehen? Warum werde ich infantilisiert, behandelt, als wenn ich blöd wär? Immer wieder kommt sowas zumindest im Untergrund hoch. Und Vertrauen baut sich dadurch auf, das kann man sagen, dass die wissen: Das passiert bei uns nicht."
Unter den Titel "all inclusive" fasst die Gemeinde St. Georg in Köln auch die Beteiligung der Gehörlosen selbst. Sie sind nicht nur Rezipienten eines professionell übersetzten Gottesdienstes, sondern sie werden auch selbst aktiv. Zum Beispiel als Lektoren oder Lektorinnen. An manchen Sonntagen wird die Lesung von einem hörenden und einem nicht hörenden Gemeindemitglied simultan vorgetragen. Das bedarf einiger Vorarbeit, erklärt Hermann-Josef Reuther:
"Die Gehörlosen-Sprache, die Gebärden-Sprache, da geht Gedanke hinter Gedanke hinter Gedanke, die schließen sich an. Was wir gewohnt sind, in der Anfangsformulierung eines Gedankens schon eine Zielsetzung des Gedankens reinzunehmen, das können wir aus dem Schriftlichen schon erschließen. Der Gehörlose kann das aus dem Schriftlichen nicht erschließen.
Textfassung auf den Leib geschrieben
Hier schreibt Paulus: 'Wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, sind auf seinen Tod getauft worden.' Jetzt wird da draus: 'Ihr wisst doch, Taufe bedeutet: mit Jesus sterben. Warum? Ich erkläre es euch. Wir - die Taufe bekommen. Bedeutet: wir - mit Jesus sterben.' Dann kommt schon in die Gebärden-Verwortung etwas rein, was mit der Mimik im Gesicht und mit den Händen vor meinem Körper tatsächlich rübergebracht werden kann."
"Und diese Textfassung wird gemeinsam erarbeitet vom Pfarrer Reuther, von der Gruppe der Gehörlosen und mir", sagt Juliane Mergenbaum, "sodass man auch nachher sagen kann: Das trifft genau den Inhalt, und das ist korrekt so in Gebärdensprache wiedergegeben. Und den Text würde man so nie veröffentlichen, weil man dann denkt: Wie ist das denn hier mit der Grammatik?"
Solche Prozesse erweitern den Gottesdienst zu einem religionspädagogischen Projekt. Dazu gehören auch ein Glaubenskurs und andere Veranstaltungen, die den gehörlosen Gemeindemitgliedern erlauben, immer tiefer in die Liturgie und die Gemeinschaft einzusteigen.
Poetische Gebärden im Chor
Corona erlaubt es nicht, dass die Lieder im Gottesdienst mitgesungen werden. Die Hörenden dürfen unter ihren Masken nur summen, die Gehörlosen dagegen singen nach Leibeskräften. Ganz ohne Aerosole. Wie das geht, erklärt Juliane Mergenbaum:
"Wenn Leute dann zurückfragen: 'Ja, wie singen denn Gehörlose?' - Die singen eben nicht mit Stimme, sondern die singen schlicht und ergreifend mit den Händen, also mit Gebärde."
Dieses Singen findet im Gemeindegottesdienst statt, aber auch in einem Gehörlosenchor, der regelmäßig probt und in dem synchron gebärdet wird, sagt Mergenbaum:
"Dann aber ist diese Gebärdensprache an sich eine poetische Gebärde, hier geht es nicht um eine Übersetzung, hier geht es um eine Form, den Inhalt dieses Liedes so rüberzubringen, dass auch optisch sichtbar wird, was wir in der Melodie im Ohr haben. Da ist was Fließendes, das macht sich in der Bewegung der Hände deutlich. Und schon durch die Tatsache - das machen mehrere gleichzeitig - hat es etwas wie einen Auftritts-Charakter, ja wie eben das gute klangliche Singen eines hörenden Chores."
Einladung zum Erfahrungsaustausch
Eine gehörlose Besucherin hat schriftlich wiedergegeben, was ihr diese Gottesdienste bedeuten:
"Früher dachten viele Gehörlose, es ist besser, allein nur mit Gehörlosen Gottesdienst feiern. Aber hier bei uns in St. Georg finden heute alle viel besser zusammen, auch mit Hörenden und Schwerhörigen. Wir verstehen hier den Pastor Reuther prima. Freue mich auch, wenn wir nach der Messe noch weitersprechen können und andere Gehörlose hier treffen."
Eine schwerhörige Besucherin, die in der Kirche technische Hörhilfen bekommt, ergänzt:
"Ich finde es auch wichtig, hier etwas über andere Behinderungen zu erfahren. Ich möchte wissen, wie Gehörlose hier verstehen. Ich habe selbst Gebärdensprache gelernt und mache mit im Gebärdenchor. Es tut mir gut, dabei zu sein."