Der Herr der Schlüssel
Eifersüchtig wachen die verschiedenen christlichen Konfessionen über jeden Winkel der Grabeskirche in Jerusalem. Doch die Hoheit über die Schlüssel zum heiligsten Ort der Christenheit liegt in den Händen einer muslimischen Familie - und das schon seit Jahrhunderten.
Der Vorhof zur Jerusalemer Grabeskirche ist selten still und andächtig. Denn zum heiligsten Ort der Christenheit strömen allein oder in Reisegruppen täglich aus aller Welt Tausende Gläubige. Tritt man in die Kirche ein, liegt vor einem der Balsamstein, auf dem der tote Leib des Heilands zur letzten Salbung gelegen haben soll. Heute knien dort Gläubige nieder, küssen den Stein, reiben Kleidungsstücke daran, um den Steingeruch aufzunehmen.
Etwas abseits des Balsamsteines, gleich neben dem linken Flügel der schweren hölzernen Eingangstür, kann man oft einen älteren Mann treffen, der auf einer Holzbank sitzt und den Gläubigen zuschaut. Der Name des Mannes ist Wajeeh Nuseibeh. Herr Nuseibeh hat eine besondere Aufgabe an diesem Ort.
Saladin gab die Schlüsselhoheit an die Familie Nuseibeh
"Wir sind eine muslimische Familie, und wir haben die Schlüssel zur Grabeskirche seit dem siebten Jahrhundert zuerst vom Kalifen. Einer aus unserer Familie bekam den Schlüssel, der dann vom Vater zum Sohn immer weitergegeben wurde, bis die Kreuzfahrer kamen. 88 Jahre lang hatten sie den Schlüssel. Dann gab ihn uns Saladin."
Kalif Omar Ibn Khattab verfügte im Jahr 637 per Dekret, dass die Familie Nuseibeh die Schlüsselgewalt über die Grabeskirche haben soll. Als Sultan Saladin 1187 die Kreuzfahrer aus Jerusalem vertrieb – sie hatten den Nuseibehs die Schlüssel abgenommen – setzte er die Familie Jehoudeh als neue Schlüsselverwalter ein. Die Jehoudehs verwahren die Schlüssel bis heute, während die Nuseibehs nur aufschließen.
"Jeden Morgen um vier Uhr wird die Kirche geöffnet. Um 19.30 Uhr wird sie geschlossen. Im nächsten Monat wird sie um acht Uhr geschlossen. Jeden Morgen, wenn wir zur Kirche kommen, öffnen wir erst das untere der beiden alten Schlösser. Dann öffnet sich eine Luke und ein griechischer, katholischer oder armenischer Mönch gibt uns eine Leiter, mit deren Hilfe wir das oberste Schloss erreichen und die Kirche öffnen. Wir öffnen für jeden Menschen, alle sind willkommen. Wir haben aber auch noch die Aufgabe, den Platz zu bewachen und hohe Gäste zu empfangen, Präsidenten, Popen, manchmal den Bürgermeister Jerusalems."
"Wir leben wie Brüder mit unseren christlichen Nachbarn"
Während die Aufgabenverteilung hinsichtlich der Schlüssel seit Jahrhunderten klar ist, ist das Arrangement in der Grabeskirche äußerst filigran und schwierig. Jede christliche Konfession wacht eifersüchtig über jeden Winkel der Kirche. Griechisch-orthodoxe, armenisch-apostolische, römisch-katholische Mönche, ägyptische Kopten, äthiopisch-orthodoxe Mönche - sie alle leben in einem diffizilen Status Quo in der heiligen Kirche. Alles ist genau geregelt: wer zu welcher Zeit an welchem Ort welche Riten ausführen darf, wer den Boden wischt, wer die Kerzen anzündet, wer an der Kirche etwas reparieren darf, wer Platz für wen wann macht, wann nicht. Gibt es in diesem komplizierten Regelwerk Abweichungen, fliegen schon mal die gläubigen Fäuste. Wajeeh Nuseibeh hat damit nichts zu tun.
"Wir sind Moslems, ich bete fünfmal am Tag. Wir respektieren jeden, und Sie sehen, jeder kann in die Kirche."
Über allem wird es Abend, die Kirche wird geschlossen.
"Es sind zwei Türen. Abends schließen wir erst eine Tür und klopfen um sieben Uhr, und um 19.15 Uhr noch einmal. Um 19.30 Uhr wird die Kirche geschlossen."
Auf die Frage, wie es sich anfühlt mit so eine Aufgabe zu leben, lächelt der Schlüsselverwalter.
"Wir sind sehr stolz und wir leben wie Brüder mit unseren christlichen Nachbarn und Freunden hier. Wir feiern die Feiertage zusammen und wenn jemand stirbt, dann gehen wir zu den Beerdigungen. Wir sind wie eine Familie. Wir glauben, Jesus ist einer der Propheten, und Mutter Maria eine der heiligsten Frauen in der Welt."
Dann wird es langsam Zeit, und Herr Nuseibeh erhebt sich zu seiner abendlichen zweiten Aufgabe. In der Grabeskirche ist noch immer Andrang. Er geht zur Tür, schiebt den ersten Flügel langsam zu.