Graf Kerssenbrock: Historische Ursache für Koalitionsbruch

Trutz Graf Kerssenbrock im Gespräch mit Gabi Wuttke |
Der schleswig-holsteinische Unionspolitiker Trutz Graf Kerssenbrock sieht das Auseinanderbrechen der Großen Koalition in Kiel auch in der Vergangenheit begründet. Kerssenbrock sagte, die Barschel-Affäre sei in beiden großen Parteien bis heute nicht bewältigt.
Gabi Wuttke: Peter Harry Carstensen, der christdemokratische Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, hat seine vier SPD-Minister vor die Tür gesetzt, die Große Koalition im Norden ist zu Ende. Heute tritt das Parlament zur Vertrauensabstimmung an, und am Ende werden wohl Neuwahlen am 27. September stehen. Schon vor über einem Jahr hat Trutz Graf Kerssenbrock vorausgesagt, dass die Koalition zwischen CDU und SPD nicht hält. Jetzt ist der Christdemokrat aus Kiel, seit fast 40 Jahren in der Partei, am Telefon. Guten Morgen!

Trutz Graf Kerssenbrock: Guten Morgen!

Wuttke: Sind Sie Prophet oder nur genauer Beobachter?

Graf Kerssenbrock: Ach, ich glaube, ich bin nur genauer Beobachter.

Wuttke: Na immerhin.

Graf Kerssenbrock: Das hat sich ein bisschen abgezeichnet. Es war ja eigentlich schon jetzt im Sommer, also im Frühsommer war eigentlich schon, hing es am seidenen Faden, als es um Haushaltsbeschlüsse ging. Ich hab mich gewundert, dass es da noch gehalten hat. Und insofern war es, wenn man so will, folgerichtig, dass es jetzt dann doch zu Ende gegangen ist, wenn auch vielleicht der Anlass etwas seltsam war.

Wuttke: Was fanden Sie da persönlich seltsam dran?

Graf Kerssenbrock: Na ja, es wirkt im Verhältnis zu dem, was eigentlich an Themen nicht bewältigt worden war, klein, dieses Missverständnis oder – verkürzte Darstellung – der Boni für Herrn Nonnenmacher. Das ist eigentlich nicht ein Anlass, um eine Große Koalition platzen zu lassen. Aber es hatte sich eben sehr viel anderes aufgestaut, und man war in der Haushaltspolitik, in der Bildungspolitik eigentlich doch nach wie vor sehr überkreuz und kriegte nichts mehr zustande. Und da hätte man auch im Mai schon sagen können, es ist zu Ende, und wir machen Neuwahl, eben beispielsweise am 27. September.

Wuttke: Das heißt, sowohl als Christdemokrat als auch als Jurist sagen Sie, es gab keine Not, die Vertrauensfrage zu stellen?

Graf Kerssenbrock: So wohl nicht, aber Herr Carstensen hätte beispielsweise möglicherweise früher die sozialdemokratischen Minister vor die Tür setzen können, und dann wäre es wohl dazu gekommen. Also der Weg jetzt dahin, der wird etwas holprig, einfach weil die Sozialdemokraten so tun, als hätten sie noch Vertrauen zu diesem Ministerpräsidenten gehabt und wollten deshalb den Landtag nicht auflösen. Also das war schon etwas auch seltsam von den Sozialdemokraten aus.

Wuttke: Ist das eigentlich jetzt eine persönliche Geschichte zwischen Peter Harry Carstensen und Ralf Stegner, also CDU und SPD, oder was ganz Prinzipielles zwischen diesen beiden Parteien?

Graf Kerssenbrock: Also man muss schon berücksichtigen, dass die Parteien sehr weit auseinander waren, immer auseinander waren, und dass sich da schon auch sehr intensive Konflikte sozusagen erneut leider aufgebaut haben, das kann man gar nicht bestreiten. Aber natürlich ist es auch eine persönliche Geschichte zwischen den beiden, zwischen Carstensen und Stegner, wobei ich auch im Grunde nicht nachvollziehen kann, dass Stegner diesen provokanten Stil gepflegt hat, der ihn ja ständig ins Abseits geführt hatte.

Wuttke: Na ja, nun kann man aber nicht sagen, dass Herr Carstensen nichts Provokatives hat, oder?

Graf Kerssenbrock: Also das kann ich nicht ganz nachvollziehen, wenn Sie das sagen. Er hat möglicherweise, ihm ist jetzt der Faden gerissen, das muss man möglicherweise so darstellen, rein menschlich. Aber ich kann immer nur sagen, es hat politische Ursachen, und zwar sehr eindeutige politische Ursachen.

Wuttke: Lassen Sie uns doch mal in die Geschichte gehen. Ich hab gehört, bis vor wenigen Jahren wäre ein Christdemokrat nach einer Landtagssitzung beispielsweise niemals nie mit einem Sozialdemokraten ein Bier trinken kann. Woher kommen diese tief verwurzelten Ressentiments?

Graf Kerssenbrock: Also erstens, das stimmt nicht, was da gesagt worden ist, es hat immer Sozialdemokraten und christliche Demokraten gegeben, die miteinander Bier trinken konnten.

Wuttke: Dann müssen das aber wenige gewesen sein, denn vielerorts heißt es, die haben uns Jahrzehnte von der CDU so behandelt, als seien wir die armen Vettern vom Land.

Graf Kerssenbrock: Es gibt sie, und da ist natürlich, ich sag mal, die Zeit nach der Barschel-Affäre etwas ganz Übles gewesen, weil die SPD jahrelang die sogenannte Barschel-Keule geschwungen hat nach dem Motto, die CDU, die barschelt immer noch und die hat nichts gelernt und so weiter.

Das war schon außerordentlich verletzend für Unionsleute und hat eben diese tiefen Verletzungen auch noch mal weiter kultiviert. Andererseits war es vor 1987 eben auch umgekehrt zu tiefen Verletzungen bei Sozialdemokraten gekommen.

Sie erinnern Jochen Steffen, den "roten Jochen", der eine richtig sozialistische Politik für Schleswig-Holstein empfahl und dann eben von Stoltenberg auch regelmäßig unglaublich verspottet worden ist. Und die Sozialdemokraten haben darunter auch unglaublich gelitten.

Und dann hatten sie einen Landesvorsitzenden Jansen, der die Politik inhaltlich fortsetzte, und deshalb wurde dann dieser Gegensatz 1987 so tief, und das hat sich dann eben seit der 87er Affäre dann, ja, bis ins Jahr 2005 fortgepflanzt. Man muss vielleicht berücksichtigen, dass diese Konflikte der Barschel-Affäre in beiden großen Parteien nicht bewältigt sind, bis heute. Es gibt nach wie vor tiefe Gegensätze über die Bewertung der Affäre in beiden großen Parteien.

Und diese tiefen Gegensätze sind möglicherweise auch die Ursache, weshalb diese Parteien immer noch nicht wieder zusammenarbeiten konnten in einer Großen Koalition.

Wuttke: Sie waren ja der Erste, der Uwe Barschel damals als Lügner bezeichnet hat. Das hat Ihnen Ihre Partei damals schwer übel genommen, nimmt Sie’s Ihnen heute noch übel?

Graf Kerssenbrock: Ja, bis heute. Ich gelte in den Augen einiger nach wie vor bis heute als Verräter. Das ist nicht zu bestreiten.

Wuttke: Und warum versuchen nicht Sie es dann trotzdem mit einem Direktmandat in Kiel?

Graf Kerssenbrock: Weil ich eigentlich immer für eine Politik gestritten habe, die für dieses Land möglicherweise vernünftig ist, und ich bin sicher in meiner Partei nicht die Mehrheit, aber es steht auch ein Teil der Partei, sonst würde ich ja nicht nominiert werden, hinter diesem Politikverständnis, aber auch hinter den politischen Auffassung. Und ich hab nichts zu verlieren, das heißt also, ich bin zivil auf einer soliden Grundlage, deshalb kann ich mir das, wenn man so will, leisten.

Wuttke: Das heißt aber auch summa summarum, dass Sie von der Politik, von Ministerpräsident Peter Harry Carstensen so ernsthaft enttäuscht sind, wie Sie es schon seit Jahren sind?

Graf Kerssenbrock: Also sagen wir mal so: Er ist eigentlich schon ein Hoffnungsschimmer für dieses Land und er hat eine Menge auch hinbekommen in diesem Land, aber ich muss zugeben, dass ich nicht völlig unkritisch gegenüber allem bin.

Wuttke: Das heißt, Sie können auch verstehen, dass Ralf Stegner dann doch ab und an mal der Kragen platzt?

Graf Kerssenbrock: Das habe ich nicht verstanden, das muss ich freimütig sagen. So, wie er das gemacht hat – er hat provoziert, er hat regelmäßig provoziert und sehr bewusst und auch vorsätzlich provoziert. Das war nicht irgendwie menschlich aus Enttäuschung motiviert, sondern er wollte sozusagen auf dieser Grundlage die Sozialdemokraten absetzen von der CDU in der Großen Koalition. Und da hat er zum eigenen Schaden provoziert.

Wuttke: Ist es denn jetzt richtig mit Blick auf die Umfragewerte für CDU und FDP, diese Neuwahlen anzustrengen?

Graf Kerssenbrock: Also wenn Sie mich vor einer Woche gefragt hätten, hätte ich Ja gesagt für die CDU. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie das so durchsteht.

Wuttke: Trutz Graf Kerssenbrock, bis 2005 in der CDU-Fraktion des schleswig-holsteinischen Landtages im Gespräch in der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur. Vielen Dank und schönen Tag!

Graf Kerssenbrock: Bitteschön, tschüss!