Graffiti-Workshop für Senioren

Sprühende Lebensfreude

Die 100-Jährige Dona Chica trägt einen Plastikkittel und steht mit einer Sprühdose vor einer Wand. Sie nimmt an einem Graffiti-Kurs für Rentner teil.
Dona Chica, 100 Jahre alt, nimmt an einem Graffiti-Kurs für Rentner in Lissabon teil. © Tilo Wagner
Von Tilo Wagner |
Dona Chica ist 100 Jahre alt, sieht nicht mehr richtig – und ist Sprayerin. Zusammen mit 14 weiteren Rentnerinnen nimmt sie an einem Graffiti-Workshop in Lissabon teil. Das Ziel: Die Seniorinnen und Senioren sollen fit bleiben!
In einem Altersheim im Süden Lissabons steht Lara Rodrigues inmitten einer Gruppe von älteren Frauen und Männern und verteilt Plastikschürzen, Handschuhe und Mundschutze. Am letzten Tag des dreitägigen Workshops sollen die über 70jährigen das Gelernte in die Praxis umsetzen: Graffitis an die Wand sprayen:
Lara: "Am ersten Tag rede ich allgemein über Streetart und Graffiti, am zweiten Tag arbeiten die Teilnehmer an ihren Schablonen, und am dritten Tag gehen wir raus an eine Wand und üben mit der Spraydose umzugehen, bevor wir dann die Schablonenmotive aufsprühen."

Die Stimmung ist ausgelassen

Rund fünfzehn Senioren machen sich auf den Weg zu einer grauen Mauer, die das Grundstück begrenzt. Ganz vorneweg: Dona Chica, die mit ihren 100 Jahren wacker durch die Gänge tapst. Sie habe immer gerne mit ihren Händen gearbeitet, sagt sie: Häkeln, Stricken, Nähen. Und trotzdem hat sie leise Zweifel, ob sie ihr Kunstwerk richtig auf die Mauer sprayen werde.
Dona Chica: "Malen macht mir Spaß. Aber ich sehe kaum noch was. Gestern habe ich die Schablonen vorgemalt. Aber das war gar nicht so einfach. Alles, was ich sehe, ist wie von einem großen Nebel verhüllt."
Neben ihr läuft José Silva. Der Rentner hat mit seinem gemeinnützigen Verein vor vier Jahren das Altenheim bauen lassen – und jetzt den Graffiti-Workshop ins Haus geholt:
Silva: "Uns älteren Menschen tut so was richtig gut. Wir kommen raus und bewegen uns. Unser Altenheim ist offen für neue Ideen. Wir wollen, dass unsere Senioren geistig weiter fit bleiben. Mir persönlich gefällt Graffiti sehr gut. Und eine andere Wand im Garten des Altenheims wollen wir demnächst von echten Künstlern besprühen lassen."
Lara Rodrigues lotst die Gruppe nach draußen. Am Stock, am Arm, im Rollstuhl oder ganz ohne Gehhilfe – die Rentner laufen geschlossen eine kleine Straße hinunter. Die Plastikschürzen flattern im Wind, die Stimmung ist ausgelassen.

Sprühen lernen in Lissabon – einem Zentrum für Streetart

Vor der Steinwand hat Lara mit ihrem Team bereits Plastikstühle aufgestellt, auf denen dürfen sich die Workshopteilnehmer kurz ausruhen. Lara schüttelt die Spraydosen durch und gibt ein paar nützliche Tipps: Nicht zu nah an die Wand treten, die Dose immer in Bewegung halten, die Farbe nicht gegen den Wind sprühen. Die gelernte Architektin organisiert seit mehr als fünf Jahren Kulturveranstaltungen mit dem Schwerpunkt Graffiti.
Lissabon hat sich inzwischen zu einem Zentrum für Streetart entwickelt und portugiesische Künstler erobern mittlerweile sogar die internationale Kunstszene. Die Idee, Graffiti-Workshops Senioren anzubieten, kam Lara Rodrigues jedoch nicht in der portugiesischen Hauptstadt, sondern in der Provinz.
Lara: "Ich habe seit 2011 bei verschiedenen Streetart-Projekten mitgemacht. Wir hatten ein Festival in einer Provinzstadt und mir ist aufgefallen, dass vor allem ältere Leute sich für unsere Projekte interessiert und viele Fragen gestellt haben. Das war dann in anderen Kleinstädten ähnlich. Also habe ich gedacht: Warum soll man diese Leute nicht mal selbst an die Wand lassen?"

Eine feine Farbstaubwolke schwebt über weißhaarige Köpfe

Die Senioren greifen sich eine Spraydose und grundieren die Wand mit bunten Farbtönen. Dona Chica hält ihren Zeigefinger etwas verkrampft auf dem Druckknopf, das Grün will nicht wirklich rauskommen.
Es läuft noch nicht so richtig rund, sagt sie und wechselt die Dose in die andere Hand. Die Wand wird bunter und eine feine Farbstaubwolke schwebt über den weißhaarigen Köpfen.
Lara Rodrigues zeigt einer stämmigen Frau mit lichten Haaren, wie man richtig mit der Schablone arbeitet. Die Rentnerin klebt ein Motiv auf die grundierte Wand und lässt die Spraydose in ständiger Bewegung über das Papier laufen. Lara nickt
Lara: "Wir wollen mit unserem Projekt auch zeigen, dass die älteren Menschen genauso gerne mit neuen Sachen experimentieren wie die jungen Leute. Und so lernen die Senioren etwas, was eigentlich Teil einer Jugendkultur ist. Sie machen Dinge, die sie im allgemeinen Verständnis in ihrem Alter eigentlich überhaupt nicht mehr tun sollten: Zeichnen, mit dem Teppichmesser hantieren oder mit Spraydosen auf die Straße gehen. Das Wichtigste ist: Sie vergessen dabei für eine Weile ihre Wehwehchen und haben eine Menge Spaß."

Während viele Rentner pausieren sprayt Dona Chica weiter

An der Wand ist es ruhiger geworden. Nach einer Stunde ruhen sich die meisten Senioren auf den Stühlen aus. Nur Dona Chica steht noch vor der Wand und betätigt fleißig ihre Spraydose. Unter ihrer Nase hat sich ein grüner Farbflaum gebildet, der Mundschutz hängt schief über dem Kinn.
Ihre bunte Blume schmückt die Mauer, die sie zusammen mit einem Helfer an die Wand gesprayt hat. Dona Chica lehnt sich an den Arm des jungen Mannes und läuft mit ihm über die Straße zu ihrem Plastikstuhl. Für heute ist es genug, sagt die Hundertjährige, und stellt die Spraydose zurück in den Karton.
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