Städtebau

Unterwegs in den Metropolen des Mittelalters

06:26 Minuten
Buchcover des Buchs "Gründerzeit 1200". Im Hintergrund ist eine mittelalterliche Stadt zu sehen
© Propyläen Verlag

Matthias Wemhoff, Gisela Graichen

Gründerzeit 1200Propyläen Verlag, Berlin 2014

464 Seiten

29,00 Euro

Von Anne Kohlick |
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Um das Jahr 1200 wurden im heutigen Deutschland hunderte Städte gegründet. Ein Archäologe und eine TV-Journalistin erzählen lebendig von der "urbanen Revolution”.
"Stadtluft macht frei”: Noch heute sagt man das mitunter. Im Mittelalter war damit ein fundamentaler Unterschied gemeint – der zwischen hörigen Bauern, die für ihren Grundherren das Land bestellen, und den freien Stadtbewohnern. Leibeigene, denen es gelang, von ihrer Scholle zu fliehen und hinter den schützenden Mauern einer Stadt ein Jahr und einen Tag zu verbringen, waren fortan frei.
Solche einprägsamen Fakten schildern der Mittelalter-Archäologe Matthias Wemhoff und die auf Geschichts-Dokumentationen spezialisierte Journalistin Gisela Graichen in ihrem gemeinsamen Buch „Gründerzeit 1200”.
Ihr Sachbuch erzählt von einer Epoche, in der die Zahl der Städte im deutschsprachigen Raum rapide anstieg: von weniger als 200 im Jahr 1150 auf 1.200 hundert Jahre später.

Alte Städte von biblischem Jerusalem inspiriert

Es sind die Städte, in denen wir heute noch leben – und es war eine Zeit, in der vieles begann, das unsere Gegenwart prägt: bürgerliche Selbstverwaltung, eine einheitliche Zeitmessung dank neuer mechanischer Uhren oder das Rechnen mit arabischen Zahlen inklusive der zuvor unbekannten Null.
Faszinierend, dass Stadtgründungen damals schon nach einem einheitlichen Plan abliefen – inspiriert von den biblischen Beschreibungen des himmlischen Jerusalem, dem man auf Erden nacheifern wollte. Verantwortlich für die bauliche Umsetzung waren oft professionelle „Lokatoren“, die im Auftrag des Landesherrn Siedler anlocken sollten: vor allem Kaufleute, denen attraktive Grundstücke in der Nähe von Marktplatz und Rathaus angeboten wurden.

Stadtmauern und Pfarrkirchen prägten Stadtbild

Im Buch wechseln sich Essays von Wemhoff und Graichen ab: Die Journalistin übernimmt die Vogelperspektive und schreibt über größere Phänomene wie die Entwicklung des deutschen Rechts am Beispiel des prägenden “Sachsenspiegels” oder die mittelalterliche Warmzeit, die durch reichere Ernten das Bevölkerungswachstum und damit den Städteboom befördert.
Der Archäologe zoomt an den Einzelfall heran und liefert detaillierte Beschreibungen von Bauten, die Stadtgründungen im Mittelalter prägten: Stadtmauern, Marktplätze, Rathäuser, Pfarrkirchen. Beim Beispiel Herford kann Wemhoff aus eigenen Erfahrungen von Grabungen im dortigen Damenstift schöpfen, an denen er in den 90er Jahren teilgenommen hat. Inzwischen ist er Landesarchäologe in Berlin, leitet das dortige Museum für Vor- und Frühgeschichte und moderiert History-Dokus wie Terra X.

Brandkatastrophe im mittelalterlichen Berlin

Auch in seinen Texten gelingt es ihm oft, Geschichte lebendig werden zu lassen – etwa wenn er anschaulich ein Schlachtfest im mittelalterlichen Berlin beschreibt, das in einer Brandkatastrophe mündete.
„Archäologen sind die Profiteure solcher Katastrophen“, erklärt Wemhoff. Denn das in sich zusammenstürzende Gebäude bewahrte die verkohlte Kellerkonstruktion, die mitsamt der Schweineknochen ausgegraben werden konnte. Holzreste ließen sich auf 1174 datieren – was beweist, dass Menschen schon 60 Jahre eher in Berlin lebten, als es die ersten Schriftquellen vermuten ließen.
An anderen Stellen wirkt die Vielzahl aufgezählter Beispiele von Städten und Gebäuden mit exakten Maßen und Datierungen ermüdend. Graichens Überblickstexte dagegen reißen manches spannende Phänomen nur an. So erwähnt sie, dass Frauen im mittelalterlichen Köln sich in eigenen Zünften organisierten. Wie gern hätte man mehr darüber erfahren, als nur in einem Satz zu lesen, dass diese Handwerkerinnen im Textilbereich tätig waren!

Raubbau an Umwelt durch Städtebau

Am stärksten ist „Gründerzeit 1200” in den Passagen, in denen es Bezüge in die Gegenwart aufmacht – über die Hanse und die Bettelorden, die schon damals urbane europäische Netzwerke bildeten. Oder wenn das Buch den Raubbau an der Umwelt zum Thema macht: Wegen des Baubooms wurden damals riesige Waldflächen gerodet; schon um 1200 herrschte vielerorts Holzmangel.
Im Epilog reißt das Autorenteam eine spannende Frage an: Gab es etwas, das die mittelalterliche Stadt unseren Metropolen der Gegenwart voraus hat? Die Antwort stimmt nachdenklich: Vielfach fehle der Zusammenhalt zwischen den Menschen, die damals durch Gilden und Pfarrgemeinden verbunden waren – ein „Rahmen für eine Interaktion der Bewohner, der auf vielen Ebenen Teilhabe und Mitwirkung zuließ.”
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