Jacques Tardi: Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB
Graphic Novel
Aus dem Französischen von Christoph Schuler
Edition Moderne, Zürich 2013
200 Seiten, 35 Euro
Hunger, Kälte und Demütigung
Mit "Ich, René Tardi" hat Jacques Tardi ein furioses Meisterwerk abgeliefert. Der beklemmende Comic basiert auf den Erlebnissen seines Vaters im Zweiten Weltkrieg - koloriert in allen Graunuancen.
Drei Schulhefte eng beschrieben, mit Skizzen. 30 Jahre lagen sie bei Jacques Tardi, Stoff für ein Meisterwerk. Sein Vater René hatte sie gefüllt, nachdem der Sohn endlich bereit war, ihn nach seiner Soldatenzeit auszufragen. Aber zunächst wurden nur eine Widmung und ein kleiner Cameo-Auftritt daraus – 1988, in der Comicversion von Léo Malets erstem Roman "120, rue de la Gare" (1943), in dem Nestor Burma (wie Malet selbst) im Stalag XB sitzt und René Tardi im Dreistockbett ein Buch liest.
Meisterwerke haben ihre eigene Zeit, erst recht die aus eigenem Herzblut gewonnenen, und der Meister hat sie genutzt und an Gewalterzählungen aller Art seine detailversessene und gleichzeitig einzigartige klare Bildsprache geschliffen. Vielleicht brauchte er noch eine Meisterprobe, die Graphic Novel "Grabenkrieg", über seinen Großvater und den Ersten Weltkrieg, bevor er endlich so weit war, sich seinem Vater und dem Zweiten Weltkrieg auszusetzen. Oder, wie seine Frau Dominique Grange im Vorwort sagt, "das Wort endlich einem der 'Kollateralschäden' zu erteilen". Einem der "ruhmlosen Helden", der Kriegsgefangenen, die von den Nazis quer durch den Kontinent verschleppt wurden, nach Pommern etwa, ins Stalag IIB.
Beklemmende Farblosigkeit
In "Grabenkrieg - La Grande Guerre" gellen die Farben. "Ich, René Tardi" ist beklemmend farblos, nicht schwarz-weiß, sondern grau in allen Nuancen, fein koloriert von Tardis Tochter Rachel. Nur drei Mal leuchtet es sattrot auf: ein Kriegshimmel, Nazifahnen und zwei Punkte auf einer Lagerkarte. Das Cover dagegen ist üppig rot, von weit weg wirkt es wie eine im Matsch zerknautschte Reichskriegsflagge.
Das Buch erzählt vom Überleben des Panzerfahrers René Tardi, der gleich im Mai 1940 in Lothringen gefangen genommen wird und bis zum Januar 1945 im Stalag IIB Zwangsarbeit verrichten muss. Von Hunger, Kälte, Seuchen, Demütigung, Dreck und von der Vorgeschichte. In scheinbar ordentlichen Panels, je drei pro Seite. Aber darin explodieren die Graus und legen eine zweite Ebene frei - den Vater-Sohn-Konflikt. Jacques Tardi, geboren 1946, ganz pazifistischer 68er, hatte seinem Vater immer verübelt, erst Soldat geworden und dann gebrochen aus dem Krieg gekommen zu sein. Jetzt lässt er sich auf ihn ein: Er stellt sich selbst mit ins Bild, als Teenager, der mit dem Vater hadert und patzig abwehrt, dass der den Krieg auch hasst.
Paradoxer Geniestreich
Ein Geniestreich voller paradoxer Volten. Der Vater ist tot, als der Sohn seine Geschichte erzählt, der Sohn ist nicht mal gezeugt, als der Vater mit ihm durch den Krieg geht. Obendrein ist das Ganze ein Familienroman, nicht nur weil Tardi auch seinen Schwiegervater Jean Grange ironisch einschmuggelt und die halbe Familie am Buch arbeitet. Sondern weil es die Kriegsgeschichte so vieler europäischer Familien erzählt, ohne jedes chauvinistische Schwarz-Weiß, mit der ganzen Wucht der Empathie, die nur ganz große Erzähler hervorbringen. Jacques Tardi ist einer, und dies ist ein furioses Meisterwerk. Beziehungsweise die erste Hälfte davon – die Nachkriegsgeschichte erscheint 2014, 100 Jahre nach "La Grande Guerre".