Graphic Novel von Obdachlosen

"Sie haben ein Recht darauf, ihre Geschichten selbst zu erzählen"

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Seite aus der Graphic Novel "Book of Homelessnes".
„Hier sitze ich vor McDonalds“, erzählt der Obdachlose Mitchel Ceney. Seine schwarz-weißen Comiczeichnungen zeigen Ausschnitte aus seinem Leben. Ceney ist einer der 18 Autoren des „Book of Homelessness“. © Accumulate
Von Natalie Klinger |
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Die Londoner Organisation "Accumulate" hat jetzt eine Graphic Novel veröffentlicht, in der Obdachlose selbst von ihrem harten Alltag erzählen. Die Kreativkurse werden für einige Mitwirkende zum Weg in ein neues Leben.
Gerade um die Weihnachtszeit räumen die Medien dem Thema Obdachlosigkeit gerne wieder etwas mehr Platz ein. Oft kommen Hilfsverbände zu Wort oder Freiwillige, die an den Tafeln mitwirken – seltener die Betroffenen selbst. Die Londoner Organisation "Accumulate" will das ändern: Sie hat Menschen, die Obdachlosigkeit erlebt haben, zusammengebracht und mit ihnen das "Book of Homelessness" erstellt – die erste Graphic Novel von Obdachlosen.

Einblicke in den Alltag

"Auf diesem Bild hier verstecke ich mich hinter dem Bett, da steht "Bang Bang Bang", sagt der Obdachlose Mitchel Ceney. "Mein Vermieter klopft an die Tür, um die Miete zu verlangen. Ich konnte nicht zahlen, also bin ich obdachlos geworden." Ceney ist einer der 18 Autoren des "Book of Homelessness" - das Buch der Obdachlosigkeit. Seine schwarz-weißen Comiczeichnungen zeigen Ausschnitte aus seinem Leben. Sie erzählen von Drogensucht, Ladendiebstahl, dem Alltag auf der Straße.
"Hier sitze ich vor McDonalds", erzählt er weiter. "McDonalds wurde zu so etwas wie einem roten Faden in meinem Leben. Es gibt überall Filialen. Sie haben lange auf. Der Kaffee kostet nur 1,50 und selbst wenn man die nicht hat, kann man die kleinen Sticker sammeln, für sechs kriegt man dann einen Kaffee. Das Internet ist kostenlos. Die Behindertenklos sind geräumig und man kann darin für sich sein."
In riesigen Buchstaben füllt der Titel des Buches das großformatige Hardcover aus. Jede Erzählung beginnt mit einer Seite, auf der nichts als der Name des Autors oder der Autorin steht. Menschen, die sonst keine Stimme haben, eine Stimme zu geben – darum ging es Marice Cumber mit diesem Projekt. Sie leitet die Organisation "Accumulate", eine Art Kunstschule für Obdachlose, die regelmäßig Kreativkurse in Hostels anbietet.
"Oft berichten Nicht-Obdachlose über Obdachlose, die allein wegen ihrer Wohnsituation zum Subjekt werden", sagt Cumber. Diese falsche Hierarchie wollte sie umdrehen und Obdachlosen die kreative Eigenverantwortung geben. "Sie haben ein Recht darauf, ihre Geschichten selbst zu erzählen."

Harte Geschichten

Diese – teils brutal, oft herzzerreißend – kommen mal in Bild- und mal in Textform daher. Die kindlichen Zeichnungen der 71-Jährigen Jade Amoli-Jackson zeigen, wie ein Soldat ihren Vater und ihre Zwillingsschwester tötet. Die 21-Jährige Ria Wallace schrieb ein Gedicht über ihre Missbrauchserfahrung, begleitet von einem Fotoessay. Ihr Mund ist mit Klebeband verschlossen, auf dem das Wort "Opfer" steht.
Die Inhalte entstanden in wöchentlichen Workshops in einer Galerie im Osten Londons. Profis unterrichteten im kreativen Schreiben, Zeichnen und Ablaufplanung. Wallace wusste besonders den Austausch mit den anderen in der Gruppe zu schätzen. "Ohne diesen Kurs wäre es sicher nicht gut ausgegangen für mich", sagt sie. "Ich habe mein Hostel, in dem ich in der Zeit untergebracht war, kaum verlassen, wenn dann nur um Party zu machen und zu trinken." Es habe ihr geholfen, zu wissen, dass sie morgens zu "Accumulate" gehe und dort ihre neuen Freunde treffen konnte, die Ähnliches durchgemacht hätten wie sie.

Kreativität als Ausweg

Damit liefert Wallace Antwort auf eine Frage, die Cumber oft über ihre Kurse von "Accumulate" gestellt werden. Sollte eine permanente Unterkunft nicht höher auf der Prioritätenliste stehen als Kreativität? "Natürlich ist ein Dach überm Kopf das absolut Wichtigste", sagt Cumber. "Aber das heißt nicht, dass Obdachlose nicht trotzdem auch von kreativem Schaffen profitieren können. Es kann Menschen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, dabei helfen, sich zu verändern, sich selbst mit neuen Augen zu sehen und so aus ihrer Situation herauszukommen. "
Und das kann tatsächlich passieren: Ceney hat den Kaffee bei McDonalds inzwischen für Kaffee in seiner WG eingetauscht. Er ist heute clean. Und über "Accumulate" hat er ein Stipendium für die Ravensbourne University bekommen, eine Londoner Hochschule für digitale Medien und Design. Dort belegt er derzeit einen Kurs, der ihm 2021 ein Studium ermöglicht. Er will Illustration studieren und irgendwann all seine Erlebnisse in einem eigenen Buch zusammenfassen. Ceney wünscht sich: Wenn du das nächste Mal einen Obdachlosen siehst, dann denk daran, dass jeder eine Geschichte hat.


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