Denkfutter für Generationen
In Danzig und Lübeck erinnern Grass-Häuser an Leben und Werk von Günter Grass. Jetzt kommt ein Grass-Archiv in Göttingen hinzu. Sein Verleger Gerhard Steidl hat es in einem kleinen Fachwerkhaus eingerichtet - und gibt dort Einblicke in ein letztes literarisches Experiment des Autors.
"Was wir hier in Göttingen machen, ist eigentlich ein Verlagsarchiv: Layoutstudien, Andrucke, Buchumschlagentwürfe. Von der 'Blechtrommel' gibt es zum Beispiel gut 200 Ausgaben weltweit, als Hardcover, als Softcover, als Paperback. Hinzu kommen die bildkünstlerischen Werke, das komplette Archiv der Radierungen und Lithographien."
Als bildenden Künstler, als Graphiker und Zeichner hat Gerhard Steidl, Verleger von Günter Grass, den Schriftsteller von Anfang an geschätzt: 1986 brachte der gelernte Drucker einen ersten Sammelband mit Prosa, Gedichten und vielen Radierungen heraus, "Die Vorzüge der Windhühner". Solch eine Kreatur, ein struppiger Straßenköter, ist nun fast ebenerdig gleich viermal an dem kleinen Fachwerkhaus direkt neben Steidls Verlagssitz angebracht. Das ist das neue Grass-Archiv. Kein Musentempel, keine Weihestätte - und die Hunde an der Fassade sind womöglich das notwendige Signal für streunende Artgenossen: Hier ist von jetzt an besetzt!
"Die Düstere Straße war immer die Schmuddelecke von Göttingen, historisch betrachtet. Nebenan in der Turmstraße waren die Prostituierten und die Künstler und in der Düsteren Straße immer einfache Leute, Arbeiter."
"Man kann dort Baugeschichte studieren"
Deshalb war über die Jahrhunderte kaum Geld da, das verwinkelte Gebäude von 1310 wurde jetzt erstmals grundlegend renoviert. Geradezu archäologisch konnte Steidl die Schichten der Zeit, alte Anstriche oder Tapetenreste abtragen lassen. Noch kennzeichnen Nummerntäfelchen wie an einem Tatort die einzelnen Fundstellen. Aber schon werden Regale zwischen ein graues Stahlgerüst im Innern des historischen, entkernten Holzgebälks geschoben:
"Im Grunde ist es so, dass das Haus nur seine Bücher enthalten wird und ansonsten sich selbst ausstellt. Man kann dort wirklich Baugeschichte studieren."
"Im Grunde ist es so, dass das Haus nur seine Bücher enthalten wird und ansonsten sich selbst ausstellt. Man kann dort wirklich Baugeschichte studieren."
Aber wer geht dafür in ein Grass-Haus, etwa in Lübeck oder Danzig? In Göttingen heißt "Baugeschichte" denn auch, dass künftig in kleineren Ausstellungen das Zustandekommen der Bücher vor Augen geführt, vom "Bauen" der Romane und Gedichte in allen Arbeitsphasen berichtet wird. Zur Einweihung gibt Steidl den Blick frei für "Vonne Endlichkait", ein literarische Experiment aus Gedichten und Prosa, das Grass noch kurz vor seinem Tod druckreif machte. Neben überspitzt realistischen, deshalb so grotesk anmutenden Zeichnungen von Pilzen, Spinnen oder Käuzchen sind einige Gedichte ausgestellt, etwa "In der Rollwenzelei" oder "Eigengeräusche". Mehrere handschriftliche Fassungen, dann korrigierte Typoskripte, schließlich die Druckvorlage mit den eigenhändigen Illustrationen:
"Er schreibt die Texte wieder ab. Und in seinem Studio stehend brabbelt er sie vor sich hin. Dabei ergeben sich wieder neue Wortspiele, die er wiederum aufschreibt. Also ein Schriftsteller alter Schule. Und wir bekommen am Ende ein piekfeines Manuskript."
60 prall gefüllte Container
Diesem perfekten, fugenlosen Text sind die einzelnen Stufen, die vielen Schritte seines Zustandekommens kaum noch anzusehen. Das macht dieses Göttinger Grass-Haus über die sporadischen und schon vom Raum her beschränkten Ausstellungen hinaus vor allem für Literatur- und Kulturwissenschaftler interessant. Ihnen soll - nach Anmeldung - das komplette, zumeist im Keller verwahrte Archiv zur Verfügung stehen:
"Im Anbau - komplett in Lehmbau, damit wir günstige Klimabedingungen für die Archivalien haben - wo tatsächlich alle Materialien aufbewahrt werden, wird das auf die erste Etage hochgeholt. Dort kann man sich dann ausbreiten und lesen und forschen."
Mit dieser Kooperation von Universitäten und wissenschaftlicher Forschung steht und fällt Steidls Idee des Grass-Archivs. Denn bis dato scheint es in Göttingen kein praktikables Konzept zu geben für die überquellenden, bei Grass durch den Ankauf der Weltrechte und die Unterlagen des Vorgängerverlags Luchterhand noch zusätzlich angereicherten Konvolute:
Mit dieser Kooperation von Universitäten und wissenschaftlicher Forschung steht und fällt Steidls Idee des Grass-Archivs. Denn bis dato scheint es in Göttingen kein praktikables Konzept zu geben für die überquellenden, bei Grass durch den Ankauf der Weltrechte und die Unterlagen des Vorgängerverlags Luchterhand noch zusätzlich angereicherten Konvolute:
"Ich habe alles in Kartons getan und die sind versiegelt. Die dürfen eigentlich bis fünfzig Jahre nach meinem Tod nicht geöffnet werden. Im Fall Günter Grass mache ich jetzt natürlich eine Ausnahme: Das sind ungefähr sechzig Euro-Container, prall gefüllt. Dieses Archiv muss ich erklären, es müssen Sachen datiert werden - und das kann halt nur ich machen."
Günter Grass, mit dem Gerhard Steidl bei jedem Buch erneut "um jedes Detail gerungen hat", der Schriftsteller selbst kann keine Auskunft mehr geben. Und sein Verleger ahnt:
"Das, was er hinterlassen hat, ist Denkfutter und Arbeit - bestimmt für Generationen."
Günter Grass, mit dem Gerhard Steidl bei jedem Buch erneut "um jedes Detail gerungen hat", der Schriftsteller selbst kann keine Auskunft mehr geben. Und sein Verleger ahnt:
"Das, was er hinterlassen hat, ist Denkfutter und Arbeit - bestimmt für Generationen."