Grégoire Chamayou: "Die unregierbare Gesellschaft. Eine Geneaologie des autoritären Liberalismus"
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
496 Seiten, 32 Euro
Als die neoliberale Individualisierung ihren Anfang nahm
05:34 Minuten
Die Bürgerrechtsbewegung der siebziger Jahre kämpfte für mehr individuelle Freiheiten. Dagegen gingen Staat und Wirtschaft vor. Mit welchen Strategien sie die Revolte bremsten, zeigt Grégoire Chamayou in "Die unregierbare Gesellschaft".
Die Siebziger Jahre werden im kollektiven Gedächtnis als bürgerrechtsbewegtes Jahrzehnt aufbewahrt, als Epoche der anti-autoritären Revolte und der Kritik an überkommenen Institutionen.
Sie waren darum aber auch – und diese Seite wurde in der Geschichtsschreibung bislang eher vernachlässigt – eine Zeit, in der die Vertreter eben dieser Institutionen, der staatlichen und ökonomischen Autoritäten, sich um die "Regierbarkeit" des Volkes sorgten und Strategien gegen diese Revolte entwickelten.
Der französische Politikwissenschaftler Grégoire Chamayou hat dieser reaktionären Bewegung gegen "Die unregierbare Gesellschaft" jetzt eine hoch interessante Studie gewidmet. Er zeichnet nach, wie sich aus dem Kampf gegen die libertären und antikapitalistischen Trends jener Epoche eine – so der Untertitel seines Buchs – "Genealogie des autoritären Liberalismus" entwickelt, und wie der unsere politische und ökonomische Gegenwart prägt.
Immer mehr Wegwerfprodukte
An der Wende zu den Siebzigern herrscht ein Geist der Revolte. Fabrikarbeiter lassen sich immer öfter krankschreiben und pflegen auch ansonsten renitentes Verhalten, die Zahl der Sabotage-Akte steigt deutlich. Dass die Menschen mehr Demokratie und Mitbestimmung wollen, gilt eben nicht nur für die Sphären der Gesellschaft und Politik, sondern auch für die Fabriken und andere Arbeitsplätze.
Gleichzeitig wächst das Umweltbewusstsein, man will nicht mehr dulden, dass die Chemiekonzerne die Luft und die Flüsse verpesten und die Kosten dafür auf die Allgemeinheit abwälzen.
Auf diesen inneren und äußeren Druck gegen die etablierten Weisen der Ökonomie – so zeigt Chamayou – reagieren die Unternehmer und ihre wirtschaftswissenschaftlichen Stichwortgeber, indem sie die Arbeiter und Konsumenten in "Eigenverantwortung" zu nehmen beginnen.
Sie ersetzen die klassischen Hierarchien in den Betrieben, indem sie "autonome" Arbeitseinheiten schaffen, in denen die Beschäftigten scheinbar mehr Freiheiten genießen, sich aber tatsächlich gegenseitig in ihrer Leistung überwachen; sie initiieren Pressekampagnen, in denen sie die Bürger an ihre eigene Verantwortung für den Schutz der Umwelt gemahnen, während dieselben Firmen zugleich ihren Profit durch immer mehr Wegwerfprodukte steigern.
Mikropolitische Kontrolle
Diese ideologische Anrufung des "autonomen" Bürgers verfolgt Chamayou durch das gesamte Jahrzehnt hindurch bis zum Beginn der großen Privatisierungswellen, in deren Verlauf viele Sozialleistungen des älteren Wohlfahrtsstaats abgeschafft werden und etwa auch die Rentenvorsorge weitgehend in die individuelle Verantwortung der Bürger überstellt wird.
Seine Gewährsleute sind prominenente Vordenker des Neoliberalismus wie Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, aber auch weniger bekannte Ökonomen, aus deren Reden, Schriften und Texten zur Politikberatung er ausführlich zitiert.
Sie alle eint bis zum Ende der Siebziger die Sorge um den Fortbestand des kapitalistischen Wirtschaftssystems, den sie von den "Auswüchsen" der Demokratie bedroht sehen – und das Interesse daran, dieses System mit neuen Arten "mikropolitischer" Kontrolle gegen das unregierbar zu werden drohende Volk durchzusetzen.
Darum dient ihnen das Chile des Pinochet-Regimes ab 1973 auch als Vorbild und Experimentierfeld: Hier findet sich ein – in ihren Augen – ideales Modell, in dem der Staat "stark gegenüber den Schwachen" auftritt, also gegenüber den einfachen, lohnabhängigen Bürgern, und "schwach gegenüber den Starken", also gegenüber den Profiteuren des Konzernkapitalismus.
Atomisierung im Dienste des Kapitalismus
Chamayous Studie ist erhellend, gerade im Kontext der gegenwärtigen Debatten, in denen die Verantwortung für die neoliberale Individualisierung ganz auf die Bürgerrechtsbewegungen und die Gegenkultur abgeladen werden soll – so wie dies etwa Andreas Reckwitz 2017 in seiner viel gelesenen Studie "Die Gesellschaft der Singularitäten" getan hat.
"Die unregierbare Gesellschaft" zeigt, dass das Projekt der gesellschaftlichen Atomisierung im Dienste eines entfesselten Kapitalismus wesentlich von den Gegnern der emanzipatorischen Bewegungen vorangetrieben wurde.
Freilich kommt Chamayou seinerseits nicht darüber hinaus, wiederum nur eine Seite dieses Prozesses zu beleuchten. Ein umfassender Blick auf die gesellschaftlichen Transformationen der Siebziger, in denen sich – darin hat der Autor unbedingt recht – "die Geburt unserer Gegenwart" findet, müsste das Verhältnis zwischen Emanzipation und Reaktion dialektisch begreifen.
In dieser Hinsicht ist Chamayou zu parteiisch und zu wenig komplex; aber auf dem Weg zu einer solchen Betrachtungsweise ist sein Buch eine wichtige Ergänzung und also ein großer Schritt.