Gregor Gysi über Ausstellung "Russische Revolution"

"Stalin ist einfach ein Verbrecher"

Gregor Gysi, scheidender Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linken im Bundestag, vor einer Betonwand
Im Gespräch. Politiker Gregor Gysi ("Die Linke") © picture alliance / dpa - Michael Kappeler
Gregor Gysi im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Das Deutsche Historische Museum widmet der Russischen Revolution von 1917 eine Ausstellung. Der Linkspolitiker Gregor Gysi war für uns bei der Eröffnung und konnte bereits einen ersten Blick auf die Exponate wagen. Im Gespräch berichtet er von seinen Eindrücken.
Liane von Billerbeck: Gestern Abend wurde in Berlin eine Ausstellung eröffnet – "1917" heißt sie, "Revolution Russland und Europa" – über die Oktoberrevolution im Deutschen Historischen Museum – eine Revolution, ein Ereignis, das für das vorige Jahrhundert und auch für unser jetziges wahrscheinlich noch prägend war, von der aber gerade im Sozialismus ein Bild gezeichnet wurde, das höchst ideologisch gefärbt war.
Mit dabei bei der Eröffnung gestern Abend auch der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei und Chef der Europäischen Sozialisten, Gregor Gysi, und wir haben ihn gebeten, für uns mal in die Rolle des Rezensenten dieser Ausstellung zu schlüpfen. Jetzt ist er am Telefon, schönen guten Morgen!
Gregor Gysi: Schönen guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Revolutionen sind bekanntermaßen höchst emotionale Ereignisse, große Gefühle sind im Spiel, und deswegen wahrscheinlich auch sind sie so präsent in unserem Bewusstsein. Wie stellt man denn bitteschön eine Revolution aus?

Not und Elend der Bauern

Gysi: Das ist gar nicht so leicht, muss ich sagen. Ich bin auch noch nicht dazu gekommen – leider, weil die Eröffnung so lange dauerte und ich anschließend noch einen Termin hatte –, mir die Ausstellung wirklich gründlich anzusehen, aber sie ist ganz schön aufgebaut in verschiedenen Stufen, und zwar zeigt sie zunächst Not und Elend der Bauern, überhaupt der armen Bevölkerung in Russland und den Reichtum des Adels und der Zarenfamilie, und dieser Widerspruch wurde irgendwann unerträglich und führte dann eben zu dieser Oktoberrevolution.
Wobei man sagen muss, es ist ja interessant, daraus können wir auch Lehren von heute ziehen, ich sag mal, die finanziell untere Hälfte der Menschheit hat in den letzten fünf Jahren 41 Prozent ihres Vermögens verloren, irgendwann geht das nicht gut. Das ist zum Beispiel schon mal eine Lehre, die man ziehen kann. Dann kommt der zweite Teil …
von Billerbeck: Sie rechnen also mit der nächsten Revolution?

Soziale Ungleichheit führt zum Aufstand

Gysi: Sozusagen, so ungefähr, zumindest fliegt uns das irgendwann um die Ohren, in welche Richtung kann ich gar nicht sagen. Das muss nicht nach links gehen, das kann auch ganz nach rechts gehen. Das Zweite, was dann gezeigt wird, ist, dass Lenin natürlich hoffte, dass es Revolutionen in Deutschland und in anderen Ländern gibt, denn, man muss ja wissen, Karl Marx hat gesagt, den ersten sozialistischen Versuch kann es nur im entwickeltsten kapitalistischen Land geben, nicht im unterentwickeltsten, wie es Lenin gemacht hat.
Deshalb hoffte er ja, dass die anderen Länder das Ganze nachvollziehen. Das klappte aber nicht, und dann hatte er eines begriffen, mit seinem neuen ökonomischen System, dass der Sozialismus nicht taugt für die Industrialisierung, das ist die Aufgabe des Kapitalismus, und dann führte er marktwirtschaftliche Elemente ein, ließ Privateigentum zu, privaten Handel …
von Billerbeck: Die neue ökonomische Politik.
Gysi: Richtig. Und das war, so sagte auch ein Redner, die beste Phase bis 1928, und dann wickelte Stalin das alles ab. Das heißt, er ließ marktwirtschaftliche Elemente nicht mehr zu und ersetzte das Ganze durch Terror und hat dann industrialisiert über Terror. Und dann begann die eigentliche Katastrophe.
Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern, Isaak I Brodski (1883-1939), Sowjetunion, 1924
Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern, Isaak I Brodski (1883-1939), Sowjetunion, 1924© Staatliches Historisches Museum, Moskau
Wissen Sie, was ich gestern, als ich so durchlief, dann gesehen habe, natürlich auch die ganzen Schauprozesse und die Hinrichtungen, und vor allen Dingen, er war ja auch so ein Typ, wissen Sie, der wusste, dass Lenin an einen Parteitag geschrieben hat, dass er unbedingt abgesetzt werden muss, weil er viel zu grob ist. Und alle, die das gelesen hatten, mussten vernichtet werden.
Übrigens auch wieder merkwürdig, psychologisch merkwürdig, dieser Brief von Lenin, der lag in seinem Schreibtisch im Schubfach, als er starb, wurde er eben gefunden. Das ist auch irgendwie seltsam, warum hat er den nicht vernichtet – das traute er sich auch wieder nicht.

Heldentaten und Verbrechen

Aber mal abgesehen davon begann dann die Katastrophe. Und nun haben wir eine Geschichte der Linken im weitesten Sinne des Wortes, vor allen Dingen der kommunistischen Linken, wo ich sagen muss, Heldentaten, wenn ich mal daran denke, welchen Widerstand sie gegen die Nazis geleistet hat, und Verbrechen. Beides gehört dazu. Wer nur die Verbrechen sieht, ist ideologisch borniert und einseitig, und wer nur die Heldentaten sieht, ist genauso borniert und genauso ignorant und einseitig, und genau das geht nicht und das macht die Kompliziertheit aus.
von Billerbeck: Hat sich denn durch die Ausstellung oder das, was Sie davon sehen konnten, Ihr Blick auf die russische Revolution verändert, gab es da neue Einsichten?
Gysi: Ja, ein bisschen schon, und zwar durch die Fotos. Wissen Sie, man vergisst das ja. Als ich plötzlich wieder diese Bilder sah, diese Armut, die dort herrschte, wurde mir plötzlich klar, wieso das Ganze sozusagen so angezündet werden konnte, weshalb man dieser Bevölkerung sagte, ihr habt doch gar nichts zu verlieren. Ich meine, ihr seid so arm, entweder ihr wehrt euch jetzt oder ihr werdet verhungern und eingehen.
Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin.
Diktator Josef Stalin: Terror, Mord und Heldenbilder© picture-alliance / dpa
Übrigens nachher bei Stalin natürlich auch, weil er nicht zugeben wollte, dass durch seine Zwangskollektivierung – ich habe ja nichts gegen die Kollektivierung, Genossenschaften, aber doch bitte schön auf freiwilliger Basis. Und durch die Zwangskollektivierung und andere Umstände entstanden natürlich Hungerkatastrophen, und weil er die nicht zugeben wollte, wieder so typisch Stalin, hat er auch keine Hilfe vom Ausland angenommen, sondern die Leute in seinem Land einfach verhungern lassen – auch wieder eine blanke Katastrophe.
Aber wissen Sie, ich hab vor allen Dingen eines mitgenommen: Ich hab Lenin immer dafür gewürdigt, dass er in einem Brief an den Parteitag schon erkannt hat, dass Stalin eben eine Fehlkonstruktion ist, und zwar schreibt er: Mit der Fülle der Macht eines Generalsekretärs in seinen Händen geht das ganz und gar nicht.
Und heute stört mich, dass er nicht gesagt hat, dann geht so ein Generalsekretär nicht. Also das heißt, es kann doch nicht sein, dass ich nach einer Revolution sage, entweder wir haben Glück und der ist gutmütig oder wir haben Pech und er ist nicht gutmütig und dagegen mache ich nichts. Wer sollte denn die Kraft haben, ihn abzusetzen, und wie? Dafür hat er sich überhaupt keine Struktur einfallen lassen. Das ist zum Beispiel so eine Erkenntnis, die mir auch dabei gekommen ist.
von Billerbeck: Mir ist es als Kind immer so gegangen, da gab es eine Schallplatte mit Lenins Stimme drauf, und ich hatte mir die immer so vorgestellt, so ähnlich wie Ernst Busch, den wir vorhin gespielt haben mit diesem Lenin-Song, und das war eine ganz piepsige, leise Stimme. Können Sie sich daran noch erinnern?

Keine unerschrockene, tiefe Stimme

Gysi: Kaum, aber jetzt wo Sie es sagen, fällt es mir auch wieder ein. Das ist schon wahr, das ist dann enttäuschend, wenn man so ein Bild gezeichnet bekommt in der Kindheit, von einem Helden, der da unerschrocken mit tiefer Stimme und so weiter operiert. Das soll ja übrigens bei Stalin auch so gewesen sein, dass er aus der Nähe eine reine Enttäuschung war und deshalb diese Bilder von ihm geschaffen wurden, die dann natürlich dazu führten, dass die Leute aus der Nähe sagten, ach watt, so sieht der bloß aus. Aber das kommt dann immer von so einem falschen Heldenepos, den man aufmacht.
Natürlich unterscheide ich zwischen Lenin und Stalin, obwohl ich natürlich auch meine Kritik an Lenin habe, aber Stalin ist eben einfach ein Verbrecher, das muss man einfach so sehen, der seine Macht derart missbraucht hat, kann ich nur sagen, eine Katastrophe.
Und beim Zweiten Weltkrieg, da soll er nun auch der große Held gewesen sein, also beim Beginn hat er erst mal bestritten, dass die Deutschen sie angriffen. Wissen Sie, das ist auch interessant, er traute Hitler mehr als seinen eigenen Spionen. Hätte er seinen eigenen Spionen getraut, hätte er gewusst, dass der Krieg beginnt, aber nein, er meinte, er kenne ja das Wort von Hitler, und das hat Gewicht. Na, schönen Dank kann ich bloß sagen.
von Billerbeck: Gregor Gysi war das, unser Rezensent der Ausstellung über die Oktoberrevolution im Deutschen Historischen Museum in Berlin: "1917. Revolution Russland und Europa", gestern eröffnet. Herr Gysi, ich danke Ihnen!
Gysi: Bitteschön, Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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