"Greif zur Feder, Kumpel!"
Die 50er-Jahre waren in der DDR eine widersprüchliche Zeit. Einerseits übte das Regime Druck auf die Bevölkerung aus. Andererseits gab es Hoffnung auf eine Realisierung der gesellschaftlichen Utopie und auf die Entwicklung eines "neuen Menschen". So sollten Arbeiter zugleich Kulturschaffende sein und ihre Erfahrungen literarisch verarbeiten.
"Ich kam mit einem Auto gestern an, mit einem schönen Anzug, ich bin noch drin, (Heiterkeit) ich kam satt, ich war eingepackt in einer Decke, habe einen Fuchs nennt man das, nicht? Dass ich mir sagte: Bist du wirklich nicht doch ein bisschen zu vornehm geworden. Nein, ich glaube, ich bin nicht zu vornehm geworden, Genossen.
Ich bleib der Hans der Kohlenheuer,
und steckt Ihr mich ins Märchenhaus,
ich bleib der Berg von Kraft und Feuer,
und brech aus jedem Sessel aus"
, rezitiert der Bergarbeiter und Schriftsteller, Hans Marchwitza, auf der 1. Bitterfelder Konferenz im April 1959.
"Ja, wir werden uns Schwielen an die Hände holen müssen, bei dieser Arbeit. Wie der Bergmann muss unser sozialistischer Schriftsteller an unserem neuen Dasein arbeiten. Die Tiefen und Weiten dieses Daseins durchforschen, durchgraben und alle Schätze aufwühlen und das Gold, Wärme und Licht und Freude herausholen helfen.
Ich liebe meine schwarze Pütte.
Solange unsere Kohle brennt,
wird diese alte Liebe, bitte,
mein lieber Hans, durch nichts getrennt.
Ich will nicht um das Magere hadern -
da draußen brüllt das Leben voll,
und es rumort in meinen Adern,
ich brauch' es für mein Dichtersoll."
Der Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld ist feierlich geschmückt. Über dem Podium prangt die Losung: "Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalliteratur braucht dich!" Fast 700 Konferenzteilnehmer sind gekommen: Schriftsteller, Arbeiter, Kulturfunktionäre, Wissenschaftler, Verlagsmitarbeiter und Pressevertreter. Eine vom Mitteldeutschen Verlag geplante kleine Autorenkonferenz ist zu einer politischen Großveranstaltung geworden - auf Initiative des Arbeiterschriftstellers und SED-Funktionärs Otto Gotsche.
"Er hatte die Meinung, es müsse eine große Konferenz sein, mit dem Ziel, die Arbeiter dazu aufzufordern, selber zu schreiben. Ihren Betriebsalltag und ihr Leben zu beschreiben und in diesem Zusammenhang wurde die Losung "Greif zur Feder, Kumpel" aufgegriffen."
Leonore Krenzlin, Literaturwissenschaftlerin.
"Gotsche hat es verstanden, Walter Ulbricht einzunehmen für diese Idee. Walter Ulbricht ist darauf eingegangen, aber die Gotscheschen Vorstellungen wurden dann in der Sache sehr stark modifiziert. Gotsche konnte dort auch kein Referat halten und keinen Diskussionsbeitrag, sondern Ulbricht hat den Auftrag, das Hauptreferat zu halten, an Alfred Kurella gegeben, den Vorsitzenden der Kulturkommission, und der war keineswegs so radikal wie Gotsche, so dass sein Referat von dem Gotscheschen Konzept durchaus abweicht."
Die Autoren, klagt Alfred Kurella, würden zwar über Themen wie den antifaschistischen Widerstand und den Zweiten Weltkrieg schreiben, aber nur ganz wenige, junge Schriftsteller arbeiteten an den bedeutungsvollen Themen wie das Leben und die Kämpfe beim sozialistischen Aufbau in der Großindustrie, bei der Lösung des Chemieprogramms und in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Die Trennung von Kunst und Leben, von Künstler und Volk müsse überwunden werden. Eine Forderung, die der erste Vorsitzende des Zentralkomitees der SED, Walter Ulbricht, schon 1958 auf dem fünften Parteitag formuliert hatte. Damals hatte er auch angekündigt, dass in nur wenigen Jahren der Pro-Kopf-Verbrauch der DDR-Bürger den der Bundesrepublikaner übertreffen werde. Die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung sollte demonstriert werden, sagt der Historiker Michael Lemke.
"Neue Menschen, neue Gesellschaft, das hing eben zusammen mit der Modernisierung der DDR von Grund auf. Er war ja im Grunde genommen schon auf dem fünften Parteitag vorgezeichnet, wenn Ulbricht da erklärte, dass die Werktätigen die Höhen der Kultur erstürmen müssen, man sieht es förmlich, wie die Brigaden da anrücken und die Kultur erstürmen, und dass auch die Künstler mehr Volksnähe haben müssten. Die Künstler sollen sich mehr mit dem Leben beschäftigen, da aus ihrem Elfenbeinturm 'rausklettern, die Werktätigen sollten sich künstlerisch betätigen, niederschreiben, was sie erleben, also, im Grunde genommen Erinnerungskultur pflegen und Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und ihrem Arbeitsplatz. Man wollte stärkere Integration der Werktätigen auch über den Mechanismus Kunst in die neue sozialistische Ordnung und da war im Grunde genommen jedes Mittel recht."
Die Schriftsteller und Künstler sollen selbst am sozialistischen Aufbau teilnehmen, das Neue erkennen, begreifen, aufspüren und schöpferisch darstellen, fordert Walter Ulbricht ausdrücklich in seinem Schlusswort auf der Bitterfelder Konferenz.
"Die Konferenz formulierte das gewissermaßen als Forderung an die Schriftsteller, dass sie das in breitem Maße leisten sollten, und sie stellte vor allen Dingen die ökonomischen Mittel dafür bereit. Es gab Gelder, und die Betriebe wurden streng angehalten, dass sie das fördern, dass sie also diese Schriftsteller, die willig waren, einstellen sollten, und dass sie ihnen eine Wohnung zuweisen sollten, das war in der damaligen Zeit der großen Wohnungsnot ein großes Lockmittel, so dass man eigentlich gar nicht weiter politischen Druck anwenden musste, sondern es gab viele Schriftsteller, die dazu bereit waren. Ich nenne als Beispiel Brigitte Reimann, die ja aus solchen Gründen, um etwas Geld zu verdienen und ein sicheres Einkommen zu haben und eine Wohnung zu kriegen, nach Hoyerswerda gegangen ist."
Heute Morgen, am dritten Adventssonntag, ist ein Eilbrief vom Kombinat gekommen: Die Wohnungen sind fertig, wir können umziehen,
notiert Brigitte Reimann im Dezember 1959 in ihrem Tagebuch. Im Januar 1960 zieht sie mit ihrem Ehemann, dem Schriftstellerkollegen Siegfried Pietschmann, nach Hoyerswerda. Beide arbeiten im Kombinat "Schwarze Pumpe". Anfang Februar schreibt sie:
"Vorige Woche schlossen wir den Vertrag mit dem Kombinat. Sie hatten den bedeutsamen Akt recht würdig vorbereitet, mit gutem Wein und belegten Brötchen, und sie waren recht sauer, als wir gegen den Vertrag Einwände erhoben und betonten, dass auch unser Verband ein Wort dabei mitzureden hat. Fast hätte es Streit gegeben, und ich musste mit einiger Schärfe erklären, dass wir keineswegs als Privatpersonen hier sitzen, und dass hinter uns genauso gut eine starke Gewerkschaft steht wie hinter den Kombinats-Vertretern."
14. Februar
"Das Kombinat fängt an, uns für die lächerlichen 160 Mark (die ungefähr für's Fahrgeld reichen) geistig auszuquetschen. Wir lesen Manuskripte, empfangen schreibende Arbeiter, stundenlange Diskussionen; jetzt sollen wir eine Broschüre stilistisch überarbeiten. Dazu bin ich nicht hier, verdammt nochmal, das ist Redakteursarbeit."
Brigitte Reimann beklagt, dass sie zu wenig Zeit zum Schreiben habe. Die 27-Jährige arbeitet unter anderem an dem - wie sie es nennt - Jugendroman "Ankunft im Alltag".
"Sie schreibt unter dem Gesichtspunkt, dass drei Abiturienten, ein Mädchen und zwei Jungs, ihr praktisches Jahr im Betrieb machen, das war ja zu Beginn der 60er-Jahre sehr üblich, dass die Abiturienten ein Jahr in den Betrieb gingen und dort sozusagen in der Arbeitsnormalität ankommen. Die kleinen - etwas verwöhnten - Intellektuellen lernen jetzt mal das richtige, krasse Leben kennen in den Betrieben. Und dieser Titel wurde mit Begeisterung aufgegriffen, eben für Bücher, die davon handeln, dass eine Hauptfigur, die das eigentliche Arbeiterleben noch nicht kennt, neu hineinkommt in einen Betrieb und dann so nach und nach die Probleme kennenlernt und sich da hineinfindet. Das war der Begriff "Ankunftsliteratur", wurde auch symbolisch noch ausgedeutet, Ankunft im Sozialismus, also nicht nur im Betrieb und an der Basis, sondern es war ja auch mit ideologischem Erziehungsgedanken verbunden, dass die Helden erkennen sollten, dass der Sozialismus ihre Sache ist und sie sich aktiv für ihn einsetzen müssen."
Hoyerswerda, am 2. April 1960
"Am Mittwoch erster Produktionstag. Ventile angeschliffen, nicht mal ungeschickt. Habe ganz schön geschafft. (Am nächsten Tag einen kleinen Muskelkater). Brigade ist sehr freundlich zu mir. Fühle mich großartig stark in Arbeitsklamotten und mit dreckigen Händen."
21. September
"Gestern Zirkel schreibender Arbeiter; unser Kreis wächst, wir haben eine Menge Begabungen; vielleicht können wir schon nächstes Jahr ein kleines Sammelbändchen herausgeben."
"Solche Zirkel schreibender Arbeiter gab es vorher praktisch kaum, also, in ganz geringer Zahl. Da gibt es also Beispiele, dass gestandene Schriftsteller über viele Jahre solche Laienzirkel geleitet haben mit gutem Erfolg. Und es blieb ja auch nicht bei der Literatur. Die Konferenz selber, da ist eigentlich nur von Literatur die Rede, aber es war ja auch so, dass sehr schnell Theaterzirkel gegründet wurden, Chöre gegründet wurden, Zirkel bildender Künstler, Fotozirkel, gerade habe ich jetzt gehört, was ganz wenig bekannt ist, dass es sogar Filmzirkel gab, und dass da relevante Dokumentarfilme entstanden sind durch solche Laienfilmer, die aber sehr professionell angeleitet wurden von guten Leuten. Also, es kam tatsächlich eine sehr breite Laienbewegung in Gang, die bestehen geblieben ist, und von der es sogar Reste bis in die Gegenwart gibt, also, ich kenne einen Zirkel schreibender Arbeiter, wo noch Leute drin sind, die noch tätig sind."
Schon im Juni 1959, wenige Monate nach der Bitterfelder Konferenz, treffen sich im Bezirk Halle Berufs- und Laienkünstler aus der ganzen Republik. Im "Theater der Werktätigen" in Wolfen tragen Literaturstudenten aus Leipzig Selbstverfasstes vor.
Zunächst jährlich, dann jedes zweite Jahr finden die Arbeiterfestspiele statt. Berufs- und Laienkünstler treten in Theater- und Tanzaufführungen auf, geben Konzerte, lesen aus Reportagen und tragen Gedichte vor. Die Zirkel schreibender Arbeiter haben regen Zulauf. Schon 1960 zählen SED-Kulturfunktionäre mehr als 300 Gruppen. "Einer von uns" heißt das halbstündige Portrait des Deutschlandsenders über den Lokomotivführer und Lyriker Werner Barth von der Maxhütte.
"Das ist das Typische bei meinen Gedichten, wenn ich schreibe. Ich habe immer im einen Ohr meine Maschine und im anderen Ohr, da flüstert mir immer das Leben das hinein, was mich gerade interessiert. Aber sehen Sie mal, gerade die Maxhütte, wenn Sie die mal so richtig kennengelernt haben, und wenn Sie die richtig lieben, und ich liebe meine Maxhütte, sonst wäre ich ja nicht da, das ist so 'was Herrliches, das ist so eine unerschöpfbare Quelle, jede Sekunde erleben Sie 'was anderes. Sie müssen das bloß verstehen zu erleben. Das kann nicht jeder Mensch, verstehen Sie das? Man muss verstehen, das Leben auf der Hütte zu erleben, nicht bloß sehen, nein, man muss das erleben, und dann ist es ein wunderbares Gefühl, dass man da in sich mit nach Hause trägt. Dann kommen einem die Gedanken, und dann sprudelt das aus einem heraus, und dann muss das wieder ein Gedicht werden. Ich werde niemals meine Arbeit als Lokomotivführer aufgeben."
Ein Jahr später - auf dem fünften Schriftstellerkongress 1961 - erklärt der Leiter der Kulturkommission beim Politbüro, ZK-Mitglied Alfred Kurella, dass es nicht das Ziel sei, aus den künstlerisch interessierten Arbeitern, "Stoßarbeiter der Literatur" zu machen.
Hoyerswerda, 29. März 1961
"Der Zirkel-Kurs hat mal wieder um 180 Grad gewendet. Bekam fast Vorwürfe, weil unsere Arbeiter gute Geschichten schreiben, weil wir einen Band rausbringen und ein Stück für das Arbeitertheater verfassen - die schreibenden Arbeiter sollen Artikel für die Wandzeitung kritzeln, Missstände im Betrieb aufzeigen etc. Für ernste Missstände sind Partei, Gewerkschaft oder sogar Staatssicherheit zuständig und erzielen ganz andere Wirkung als ein Artikelchen. Pah! Ich bin stinkwütend. Statt dass sich diese Verbandsgreise freuen, dass sie endlich mal wieder frisches Blut in ihre verkalkten Arterien gepumpt bekommen."
Vor allem die jungen Schriftsteller aus der Generation Brigitte Reimanns gehen in die Betriebe oder in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften.
"Es ist so, dass die älteren und arrivierten Schriftsteller diese Sache mit einer ziemlichen Distanz gesehen haben. Nehmen wir mal ein Beispiel, Anna Seghers oder Arnold Zweig, die haben sich durchaus distanziert gezeigt, nicht weil sie an und für sich dieses Anliegen ablehnten, sondern eher deshalb, weil sie die politisch restriktiven Tendenzen, die da drin steckten, diese Begutachtung unter politisch ideologischen Gesichtspunkten, die den Werken dann angetan wurden und die sie schon ahnten und wussten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen, denen standen sie sehr ablehnend gegenüber, und darum haben sie sich dort nicht irgendwie aktiv gezeigt."
Die Vorstellungen der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees, dass innerhalb weniger Monate 100 Schriftsteller "an die Basis" und weitere 200 "engen und ständigen Kontakt mit Betrieben und Brigaden" halten sollen, erfüllen sich nicht. Allerdings gibt es weniger Konflikte zwischen der Partei und den Verweigerern. Eher mit denen, die das Leben an "der Basis" kennenlernen. Leonore Krenzlin:
"Wer wirklich in den Betrieb ging und das Leben dort kennenlernte, machte ja dort Erfahrungen auch mit den schwierigen und problematischen und unschönen Seiten dieser Gesellschaft, die eine sozialistische sein wollte oder werden wollte, und es gab dort natürlich Erfahrungen, die waren schwierig oder unschön: Die Schwierigkeiten in der Produktion, dass Material fehlte, dass eine schlechte Organisation war. Man erlebte politische Pressionen, die auch stattfanden. Es gab Zusammenstöße zwischen dem Brigadier und dem Parteisekretär oder wie auch immer, und die Schriftsteller haben natürlich diesen Konfliktstoff in ihre Bücher genommen, von sich aus, in der Absicht, das zu kritisieren und in der Absicht, das publik zu machen und die Möglichkeit einer Veränderung dadurch zu schaffen. Aber das war natürlich bei den politisch leitenden Instanzen, bei der Partei und bei der Regierung, höchst unerwünscht, und es kam dann immer wieder zu Zusammenstößen, es kam zu scharfen Kritiken. Brigitte Reimann wurde hart kritisiert, ihr Freund Pietschmann, bei dem ging es so weit, dass ein ganzer Roman, den er geschrieben hat, der wurde nicht mehr gedruckt. Am Anfang wurde er gefördert, und dann war die Darstellung zu wirklichkeitsnah und zu krass, so dass er nicht gedruckt wurde."
Als Brigitte Reimanns Roman "Ankunft im Alltag" im Sommer 1961 erscheint, sind die Grenzen zwischen Ost- und Westberlin noch offen, doch immer mehr Menschen verlassen den Arbeiter- und Bauernstaat. Für Brigitte Reimann ist der Adenauer-Staat jedoch keine Alternative. Als ihr Bruder Lutz in den Westen geht, notiert sie:
"Spüre zum ersten Mal schmerzlich die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester - welch ein literarisches Thema. Lutz ist ein Wirrkopf. Er wollte vor der Partei nicht katzbuckeln - er wird es vor seinen Kapitalisten tun müssen. Er wird, sagt er, immer dafür eintreten, dass das Großkapital enteignet wird; er glaubt an den Sieg des Sozialismus - und trotzdem geht er."
Nicht zuletzt durch den Verlust vieler Fachleute, wie Ingenieuren, Ärzten und Landwirten, ist die wirtschaftliche Lage katastrophal. Im Sommer 1963 soll eine Reform helfen, die andauernde Versorgungskrise zu bewältigen. Auf einer Konferenz beschließen das ZK der SED und der Ministerrat das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft". Michael Lemke:
"Also, es sollte im Grunde genommen in gewisser Weise eine Entbürokratisierung der sozialistischen Wirtschaft sein unter starker Mobilisierung der wirtschaftlich denkenden, wirtschaftstragenden Kräfte, die Mobilisierung der Arbeiter durch Stimuli, vor allem Prämiensystem und anderes mehr. Freisetzung schöpferischer Kräfte von ganz oben über die Mitte bis ganz unten, und natürlich ganz klar, und das war der eigentliche, glaube ich, ökonomische Kern: das Leistungsprinzip auch innerhalb der Betriebe. Also, eine vollkommene Umorganisierung der Produktionsabläufe und vor allem der Vorbereitung von Produktion."
Im gleichen Jahr - 1963 - erscheint Christa Wolfs Erzählung "Der geteilte Himmel", in der es um eine Liebe geht, die an der deutschen Teilung scheitert. Christa Wolf hat darin unter anderem ihre eigenen Erfahrungen im Waggonwerk Ammendorf verarbeitet und stellt sehr starke Konflikte innerhalb der Arbeiterschaft dar. Sie ist damit voll auf der Linie der Neuen Ökonomischen Politik, da der Held kein alter Kommunist, sondern ein technokratisch vernünftiger Parteileiter ist, sagt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Dröscher.
"Während sozusagen die Bürokraten da, Altfunktionäre, die nicht flexibel sind, den Kürzeren ziehen. Und dieses Buch hat dann zu einem extremen Streit geführt, eine ganz harte Debatte, und da wird sie letztlich von der SED-Führung protegiert, weil sie sozusagen das neuere, moderne Leitungskonzept vertritt darin. Der Roman ist darum letztlich von der Parteiführung als positiv bewertet worden und der Bitterfelder Weg geht genau so aus, wie Christa Wolf das im Grunde im "geteilten Himmel" hat, nämlich mit der Entscheidung für die neuen, gehobenen Mittelschichten, die technokratischer orientiert sein sollen als nur ideologisch."
Im April 1964 laden die "Ideologische Kommission beim Politbüro der SED" und das Ministerium für Kultur zur zweiten Bitterfelder Konferenz. Leonore Krenzlin:
"Diese zweite Konferenz ist nicht restriktiver als die erste, glaube ich nicht. Aber sie macht etwas seltsames, sie ergänzt nämlich die Forderung durch einen Zusatz, welcher lautet: Der Schriftsteller muss die Position des Planers und Leiters gewinnen. Also, die Idee war, wenn der Schriftsteller nicht nur unten in der Produktion arbeitet, sondern neben dem Direktor steht, oder dem Parteisekretär, dann wird er sehen, dass es nicht getan ist mit Kritik an schlechten Arbeitsverhältnissen oder fehlendem Material, sondern er wird die Schwierigkeiten der Planungsarbeiten erkennen und dadurch nicht so krasse Kritik üben. Das war die Idee."
In den Wochen vor der Konferenz wird in ausführlichen Rundfunkbeiträgen die Kurskorrektur in der Literaturpolitik erläutert. Schleichende Abwendung vom "Bitterfelder Weg" hat es schon länger gegeben.
"Einige Schriftsteller, die nach der Bitterfelder Beratung danach strebten, die Kunst mit dem Leben zu verbinden, die für ihr Schaffen nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen in Betrieben und Dörfern suchten, sind Seitenwege, wenn nicht gar Irrwege gegangen. Und nicht selten hat eine allzu enge, allzu vereinfachte Auffassung des Bitterfelder Weges Pate gestanden. Insbesondere junge Autoren, die die Universitäten und Hochschulen absolviert hatten, stürzten sich in die praktische Tätigkeit, sie arbeiteten auf den Baustellen und in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften so mit, dass sie sich die Anerkennung der Brigademitglieder und der Genossenschaftsbauern eroberten. Doch ihnen glitt etwas Wichtiges aus der Hand: Der Überblick über das Ganze. Der Horizont war eines Tages nur diese eine Baustelle, diese eine Genossenschaft, sie hatten aus den Augen verloren, dass ihre oberste Aufgabe ihr literarisches Werk ist. Alles andere dem aber nur notwendig vorausgesetzt, untergeordnet."
Am 24. und 25. April 1964 tagen Politiker, Kulturfunktionäre und Schriftsteller erneut im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats. Das zentrale Referat "Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur" hält der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht:
"Unter der Losung: Auf sozialistische Weise arbeiten, lernen und leben hat sich die Arbeiterklasse immer mehr zum bewussten Träger sozialistischer Kultur entwickelt. Heute wird bei uns nicht nur die Zahl der Kunstschaffenden immer größer, auch das Kunstverständnis der Werktätigen ist gewachsen. Grundlage des Könnens eines Künstlers muss vor allem sein Weltbild, seine Weltanschauung sein. Zu großer Kunst bedarf es heute mehr denn je eines großen Weltbildes, der Erkenntnis und des Bewusstseins der Perspektive der Entwicklung. Das ist das Entscheidende. In der gegenwärtigen Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus, nachdem die sozialistischen Produktionsverhältnisse unserer ganzen Wirtschaft gesiegt haben, ist die Weiterentwicklung unserer sozialistischen Nationalkultur als echte Volkskultur mit der Meisterung der technischen Revolution durch die Arbeiterklasse und die Durchsetzung unseres neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft auf die vielfältigste Art verbunden."
In den fünf Jahren zwischen den beiden Bitterfelder Konferenzen hat es teilweise heftige Auseinandersetzungen über einige der Erzählungen und Romane gegeben. Die Hauptgestalten würden zum Teil isoliert vom Kollektiv der Partei handeln - so einer der Vorwürfe. Bei manchen Autoren stünden sich sozialistische Wirklichkeit und kommunistische Ideale unversöhnlich gegenüber. Leonore Krenzlin:
"Strittmatter hatte mit seinem "Ole Bienkopp" die allergrößten Schwierigkeiten. Auch der "Geteilte Himmel" von Christa Wolf wurde ja scharf angegriffen, auch Erich Neutsch "Spur der Steine", was ja nachher ein Renner war als Roman, wurde zunächst schwer angegriffen. Es gab sehr viel Gerangel zwischen den Schriftstellern und dem Ministerium für Kultur, ob die Bücher gedruckt werden können oder nicht. Aber die allermeisten, muss man sagen, haben sich durchgesetzt und sind erschienen und waren auch immer Publikumserfolge, es war immer ein reges Interesse an diesen Büchern. Es gab aber auch Manuskripte, die nie gedruckt wurden. Oder es gab solche Fälle wie diesen tragischen Fall von Werner Bräunig, wo nicht nur das Buch nicht gedruckt wurde, sondern wo man auch sagen muss, dass er selber als Mensch schwer darunter gelitten hat und seine Produktivität darunter gelitten hat und da nicht mehr sehr vieles geschrieben wurde von ihm."
Eine Episode aus Werner Bräunigs Roman "Rummelplatz" ist in der Zeitschrift "Neue Deutsche Literatur" veröffentlich worden. In dem Roman verarbeitet er seine Erfahrungen als Arbeiter im Uran-Bergbau bei der Wismut AG. Auf dem elften ZK-Plenum, dem sogenannten "Kahlschlag-Plenum" im Dezember 1965, verunglimpft das Politbüro-Mitglied Erich Honecker Werner Bräunig, Wolf Biermann und weitere Schriftsteller und Filmschaffende.
"Heute war die Rede Honeckers auf dem ZK-Plenum abgedruckt. Die Katze ist aus dem Sack: Die Schriftsteller sind schuld an sittlicher Verrohung der Jugend. Destruktive Kunstwerke, brutale Darstellungen, westlicher Einfluss, Sexualorgien, weiß der Teufel was - und natürlich die böse Lust am Zweifeln. Die Schriftsteller stehen meckernd abseits, während unsere braven Werktätigen den Sozialismus aufbauen. Es ist zum Kotzen. Christa Wolf wagte wenigstens Bräunig zu verteidigen. Wir gehen einer Eiszeit entgegen."
Als in den 70er-Jahren in Ost-Berlin die "Geschichte der deutschen Literatur" erscheint, ist im 800-seitigen Band "Literatur der Deutschen Demokratischen Republik" dem "Bitterfelder Weg" kein eigenes Kapitel gewidmet. Nach dem Motto "War da was?" taucht der Begriff nicht einmal als Zwischenüberschrift auf.
Frühjahr 1992. In Bitterfeld sind die meisten Betriebsteile des ehemaligen Chemiekombinats stillgelegt. Im Kulturpalast - jetzt Eigentum einer "Chemie AG" - tagt die dritte Bitterfelder Konferenz. Mehrere hundert Schriftsteller und Künstler aus Ost und West, aus alten und neuen Bundesländern, sind dem Aufruf gefolgt. Bei dieser dritten Konferenz geht es weder um sozialistische Nationalliteratur noch um deutsche Nationalkultur. Sondern um eine Frage, die als offene Frage bei den Bitterfelder Konferenzen 1959 und 1964 nicht hätte gestellt werden können: "Kunst. Was soll das?"
Ich bleib der Hans der Kohlenheuer,
und steckt Ihr mich ins Märchenhaus,
ich bleib der Berg von Kraft und Feuer,
und brech aus jedem Sessel aus"
, rezitiert der Bergarbeiter und Schriftsteller, Hans Marchwitza, auf der 1. Bitterfelder Konferenz im April 1959.
"Ja, wir werden uns Schwielen an die Hände holen müssen, bei dieser Arbeit. Wie der Bergmann muss unser sozialistischer Schriftsteller an unserem neuen Dasein arbeiten. Die Tiefen und Weiten dieses Daseins durchforschen, durchgraben und alle Schätze aufwühlen und das Gold, Wärme und Licht und Freude herausholen helfen.
Ich liebe meine schwarze Pütte.
Solange unsere Kohle brennt,
wird diese alte Liebe, bitte,
mein lieber Hans, durch nichts getrennt.
Ich will nicht um das Magere hadern -
da draußen brüllt das Leben voll,
und es rumort in meinen Adern,
ich brauch' es für mein Dichtersoll."
Der Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld ist feierlich geschmückt. Über dem Podium prangt die Losung: "Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalliteratur braucht dich!" Fast 700 Konferenzteilnehmer sind gekommen: Schriftsteller, Arbeiter, Kulturfunktionäre, Wissenschaftler, Verlagsmitarbeiter und Pressevertreter. Eine vom Mitteldeutschen Verlag geplante kleine Autorenkonferenz ist zu einer politischen Großveranstaltung geworden - auf Initiative des Arbeiterschriftstellers und SED-Funktionärs Otto Gotsche.
"Er hatte die Meinung, es müsse eine große Konferenz sein, mit dem Ziel, die Arbeiter dazu aufzufordern, selber zu schreiben. Ihren Betriebsalltag und ihr Leben zu beschreiben und in diesem Zusammenhang wurde die Losung "Greif zur Feder, Kumpel" aufgegriffen."
Leonore Krenzlin, Literaturwissenschaftlerin.
"Gotsche hat es verstanden, Walter Ulbricht einzunehmen für diese Idee. Walter Ulbricht ist darauf eingegangen, aber die Gotscheschen Vorstellungen wurden dann in der Sache sehr stark modifiziert. Gotsche konnte dort auch kein Referat halten und keinen Diskussionsbeitrag, sondern Ulbricht hat den Auftrag, das Hauptreferat zu halten, an Alfred Kurella gegeben, den Vorsitzenden der Kulturkommission, und der war keineswegs so radikal wie Gotsche, so dass sein Referat von dem Gotscheschen Konzept durchaus abweicht."
Die Autoren, klagt Alfred Kurella, würden zwar über Themen wie den antifaschistischen Widerstand und den Zweiten Weltkrieg schreiben, aber nur ganz wenige, junge Schriftsteller arbeiteten an den bedeutungsvollen Themen wie das Leben und die Kämpfe beim sozialistischen Aufbau in der Großindustrie, bei der Lösung des Chemieprogramms und in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Die Trennung von Kunst und Leben, von Künstler und Volk müsse überwunden werden. Eine Forderung, die der erste Vorsitzende des Zentralkomitees der SED, Walter Ulbricht, schon 1958 auf dem fünften Parteitag formuliert hatte. Damals hatte er auch angekündigt, dass in nur wenigen Jahren der Pro-Kopf-Verbrauch der DDR-Bürger den der Bundesrepublikaner übertreffen werde. Die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung sollte demonstriert werden, sagt der Historiker Michael Lemke.
"Neue Menschen, neue Gesellschaft, das hing eben zusammen mit der Modernisierung der DDR von Grund auf. Er war ja im Grunde genommen schon auf dem fünften Parteitag vorgezeichnet, wenn Ulbricht da erklärte, dass die Werktätigen die Höhen der Kultur erstürmen müssen, man sieht es förmlich, wie die Brigaden da anrücken und die Kultur erstürmen, und dass auch die Künstler mehr Volksnähe haben müssten. Die Künstler sollen sich mehr mit dem Leben beschäftigen, da aus ihrem Elfenbeinturm 'rausklettern, die Werktätigen sollten sich künstlerisch betätigen, niederschreiben, was sie erleben, also, im Grunde genommen Erinnerungskultur pflegen und Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und ihrem Arbeitsplatz. Man wollte stärkere Integration der Werktätigen auch über den Mechanismus Kunst in die neue sozialistische Ordnung und da war im Grunde genommen jedes Mittel recht."
Die Schriftsteller und Künstler sollen selbst am sozialistischen Aufbau teilnehmen, das Neue erkennen, begreifen, aufspüren und schöpferisch darstellen, fordert Walter Ulbricht ausdrücklich in seinem Schlusswort auf der Bitterfelder Konferenz.
"Die Konferenz formulierte das gewissermaßen als Forderung an die Schriftsteller, dass sie das in breitem Maße leisten sollten, und sie stellte vor allen Dingen die ökonomischen Mittel dafür bereit. Es gab Gelder, und die Betriebe wurden streng angehalten, dass sie das fördern, dass sie also diese Schriftsteller, die willig waren, einstellen sollten, und dass sie ihnen eine Wohnung zuweisen sollten, das war in der damaligen Zeit der großen Wohnungsnot ein großes Lockmittel, so dass man eigentlich gar nicht weiter politischen Druck anwenden musste, sondern es gab viele Schriftsteller, die dazu bereit waren. Ich nenne als Beispiel Brigitte Reimann, die ja aus solchen Gründen, um etwas Geld zu verdienen und ein sicheres Einkommen zu haben und eine Wohnung zu kriegen, nach Hoyerswerda gegangen ist."
Heute Morgen, am dritten Adventssonntag, ist ein Eilbrief vom Kombinat gekommen: Die Wohnungen sind fertig, wir können umziehen,
notiert Brigitte Reimann im Dezember 1959 in ihrem Tagebuch. Im Januar 1960 zieht sie mit ihrem Ehemann, dem Schriftstellerkollegen Siegfried Pietschmann, nach Hoyerswerda. Beide arbeiten im Kombinat "Schwarze Pumpe". Anfang Februar schreibt sie:
"Vorige Woche schlossen wir den Vertrag mit dem Kombinat. Sie hatten den bedeutsamen Akt recht würdig vorbereitet, mit gutem Wein und belegten Brötchen, und sie waren recht sauer, als wir gegen den Vertrag Einwände erhoben und betonten, dass auch unser Verband ein Wort dabei mitzureden hat. Fast hätte es Streit gegeben, und ich musste mit einiger Schärfe erklären, dass wir keineswegs als Privatpersonen hier sitzen, und dass hinter uns genauso gut eine starke Gewerkschaft steht wie hinter den Kombinats-Vertretern."
14. Februar
"Das Kombinat fängt an, uns für die lächerlichen 160 Mark (die ungefähr für's Fahrgeld reichen) geistig auszuquetschen. Wir lesen Manuskripte, empfangen schreibende Arbeiter, stundenlange Diskussionen; jetzt sollen wir eine Broschüre stilistisch überarbeiten. Dazu bin ich nicht hier, verdammt nochmal, das ist Redakteursarbeit."
Brigitte Reimann beklagt, dass sie zu wenig Zeit zum Schreiben habe. Die 27-Jährige arbeitet unter anderem an dem - wie sie es nennt - Jugendroman "Ankunft im Alltag".
"Sie schreibt unter dem Gesichtspunkt, dass drei Abiturienten, ein Mädchen und zwei Jungs, ihr praktisches Jahr im Betrieb machen, das war ja zu Beginn der 60er-Jahre sehr üblich, dass die Abiturienten ein Jahr in den Betrieb gingen und dort sozusagen in der Arbeitsnormalität ankommen. Die kleinen - etwas verwöhnten - Intellektuellen lernen jetzt mal das richtige, krasse Leben kennen in den Betrieben. Und dieser Titel wurde mit Begeisterung aufgegriffen, eben für Bücher, die davon handeln, dass eine Hauptfigur, die das eigentliche Arbeiterleben noch nicht kennt, neu hineinkommt in einen Betrieb und dann so nach und nach die Probleme kennenlernt und sich da hineinfindet. Das war der Begriff "Ankunftsliteratur", wurde auch symbolisch noch ausgedeutet, Ankunft im Sozialismus, also nicht nur im Betrieb und an der Basis, sondern es war ja auch mit ideologischem Erziehungsgedanken verbunden, dass die Helden erkennen sollten, dass der Sozialismus ihre Sache ist und sie sich aktiv für ihn einsetzen müssen."
Hoyerswerda, am 2. April 1960
"Am Mittwoch erster Produktionstag. Ventile angeschliffen, nicht mal ungeschickt. Habe ganz schön geschafft. (Am nächsten Tag einen kleinen Muskelkater). Brigade ist sehr freundlich zu mir. Fühle mich großartig stark in Arbeitsklamotten und mit dreckigen Händen."
21. September
"Gestern Zirkel schreibender Arbeiter; unser Kreis wächst, wir haben eine Menge Begabungen; vielleicht können wir schon nächstes Jahr ein kleines Sammelbändchen herausgeben."
"Solche Zirkel schreibender Arbeiter gab es vorher praktisch kaum, also, in ganz geringer Zahl. Da gibt es also Beispiele, dass gestandene Schriftsteller über viele Jahre solche Laienzirkel geleitet haben mit gutem Erfolg. Und es blieb ja auch nicht bei der Literatur. Die Konferenz selber, da ist eigentlich nur von Literatur die Rede, aber es war ja auch so, dass sehr schnell Theaterzirkel gegründet wurden, Chöre gegründet wurden, Zirkel bildender Künstler, Fotozirkel, gerade habe ich jetzt gehört, was ganz wenig bekannt ist, dass es sogar Filmzirkel gab, und dass da relevante Dokumentarfilme entstanden sind durch solche Laienfilmer, die aber sehr professionell angeleitet wurden von guten Leuten. Also, es kam tatsächlich eine sehr breite Laienbewegung in Gang, die bestehen geblieben ist, und von der es sogar Reste bis in die Gegenwart gibt, also, ich kenne einen Zirkel schreibender Arbeiter, wo noch Leute drin sind, die noch tätig sind."
Schon im Juni 1959, wenige Monate nach der Bitterfelder Konferenz, treffen sich im Bezirk Halle Berufs- und Laienkünstler aus der ganzen Republik. Im "Theater der Werktätigen" in Wolfen tragen Literaturstudenten aus Leipzig Selbstverfasstes vor.
Zunächst jährlich, dann jedes zweite Jahr finden die Arbeiterfestspiele statt. Berufs- und Laienkünstler treten in Theater- und Tanzaufführungen auf, geben Konzerte, lesen aus Reportagen und tragen Gedichte vor. Die Zirkel schreibender Arbeiter haben regen Zulauf. Schon 1960 zählen SED-Kulturfunktionäre mehr als 300 Gruppen. "Einer von uns" heißt das halbstündige Portrait des Deutschlandsenders über den Lokomotivführer und Lyriker Werner Barth von der Maxhütte.
"Das ist das Typische bei meinen Gedichten, wenn ich schreibe. Ich habe immer im einen Ohr meine Maschine und im anderen Ohr, da flüstert mir immer das Leben das hinein, was mich gerade interessiert. Aber sehen Sie mal, gerade die Maxhütte, wenn Sie die mal so richtig kennengelernt haben, und wenn Sie die richtig lieben, und ich liebe meine Maxhütte, sonst wäre ich ja nicht da, das ist so 'was Herrliches, das ist so eine unerschöpfbare Quelle, jede Sekunde erleben Sie 'was anderes. Sie müssen das bloß verstehen zu erleben. Das kann nicht jeder Mensch, verstehen Sie das? Man muss verstehen, das Leben auf der Hütte zu erleben, nicht bloß sehen, nein, man muss das erleben, und dann ist es ein wunderbares Gefühl, dass man da in sich mit nach Hause trägt. Dann kommen einem die Gedanken, und dann sprudelt das aus einem heraus, und dann muss das wieder ein Gedicht werden. Ich werde niemals meine Arbeit als Lokomotivführer aufgeben."
Ein Jahr später - auf dem fünften Schriftstellerkongress 1961 - erklärt der Leiter der Kulturkommission beim Politbüro, ZK-Mitglied Alfred Kurella, dass es nicht das Ziel sei, aus den künstlerisch interessierten Arbeitern, "Stoßarbeiter der Literatur" zu machen.
Hoyerswerda, 29. März 1961
"Der Zirkel-Kurs hat mal wieder um 180 Grad gewendet. Bekam fast Vorwürfe, weil unsere Arbeiter gute Geschichten schreiben, weil wir einen Band rausbringen und ein Stück für das Arbeitertheater verfassen - die schreibenden Arbeiter sollen Artikel für die Wandzeitung kritzeln, Missstände im Betrieb aufzeigen etc. Für ernste Missstände sind Partei, Gewerkschaft oder sogar Staatssicherheit zuständig und erzielen ganz andere Wirkung als ein Artikelchen. Pah! Ich bin stinkwütend. Statt dass sich diese Verbandsgreise freuen, dass sie endlich mal wieder frisches Blut in ihre verkalkten Arterien gepumpt bekommen."
Vor allem die jungen Schriftsteller aus der Generation Brigitte Reimanns gehen in die Betriebe oder in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften.
"Es ist so, dass die älteren und arrivierten Schriftsteller diese Sache mit einer ziemlichen Distanz gesehen haben. Nehmen wir mal ein Beispiel, Anna Seghers oder Arnold Zweig, die haben sich durchaus distanziert gezeigt, nicht weil sie an und für sich dieses Anliegen ablehnten, sondern eher deshalb, weil sie die politisch restriktiven Tendenzen, die da drin steckten, diese Begutachtung unter politisch ideologischen Gesichtspunkten, die den Werken dann angetan wurden und die sie schon ahnten und wussten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen, denen standen sie sehr ablehnend gegenüber, und darum haben sie sich dort nicht irgendwie aktiv gezeigt."
Die Vorstellungen der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees, dass innerhalb weniger Monate 100 Schriftsteller "an die Basis" und weitere 200 "engen und ständigen Kontakt mit Betrieben und Brigaden" halten sollen, erfüllen sich nicht. Allerdings gibt es weniger Konflikte zwischen der Partei und den Verweigerern. Eher mit denen, die das Leben an "der Basis" kennenlernen. Leonore Krenzlin:
"Wer wirklich in den Betrieb ging und das Leben dort kennenlernte, machte ja dort Erfahrungen auch mit den schwierigen und problematischen und unschönen Seiten dieser Gesellschaft, die eine sozialistische sein wollte oder werden wollte, und es gab dort natürlich Erfahrungen, die waren schwierig oder unschön: Die Schwierigkeiten in der Produktion, dass Material fehlte, dass eine schlechte Organisation war. Man erlebte politische Pressionen, die auch stattfanden. Es gab Zusammenstöße zwischen dem Brigadier und dem Parteisekretär oder wie auch immer, und die Schriftsteller haben natürlich diesen Konfliktstoff in ihre Bücher genommen, von sich aus, in der Absicht, das zu kritisieren und in der Absicht, das publik zu machen und die Möglichkeit einer Veränderung dadurch zu schaffen. Aber das war natürlich bei den politisch leitenden Instanzen, bei der Partei und bei der Regierung, höchst unerwünscht, und es kam dann immer wieder zu Zusammenstößen, es kam zu scharfen Kritiken. Brigitte Reimann wurde hart kritisiert, ihr Freund Pietschmann, bei dem ging es so weit, dass ein ganzer Roman, den er geschrieben hat, der wurde nicht mehr gedruckt. Am Anfang wurde er gefördert, und dann war die Darstellung zu wirklichkeitsnah und zu krass, so dass er nicht gedruckt wurde."
Als Brigitte Reimanns Roman "Ankunft im Alltag" im Sommer 1961 erscheint, sind die Grenzen zwischen Ost- und Westberlin noch offen, doch immer mehr Menschen verlassen den Arbeiter- und Bauernstaat. Für Brigitte Reimann ist der Adenauer-Staat jedoch keine Alternative. Als ihr Bruder Lutz in den Westen geht, notiert sie:
"Spüre zum ersten Mal schmerzlich die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester - welch ein literarisches Thema. Lutz ist ein Wirrkopf. Er wollte vor der Partei nicht katzbuckeln - er wird es vor seinen Kapitalisten tun müssen. Er wird, sagt er, immer dafür eintreten, dass das Großkapital enteignet wird; er glaubt an den Sieg des Sozialismus - und trotzdem geht er."
Nicht zuletzt durch den Verlust vieler Fachleute, wie Ingenieuren, Ärzten und Landwirten, ist die wirtschaftliche Lage katastrophal. Im Sommer 1963 soll eine Reform helfen, die andauernde Versorgungskrise zu bewältigen. Auf einer Konferenz beschließen das ZK der SED und der Ministerrat das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft". Michael Lemke:
"Also, es sollte im Grunde genommen in gewisser Weise eine Entbürokratisierung der sozialistischen Wirtschaft sein unter starker Mobilisierung der wirtschaftlich denkenden, wirtschaftstragenden Kräfte, die Mobilisierung der Arbeiter durch Stimuli, vor allem Prämiensystem und anderes mehr. Freisetzung schöpferischer Kräfte von ganz oben über die Mitte bis ganz unten, und natürlich ganz klar, und das war der eigentliche, glaube ich, ökonomische Kern: das Leistungsprinzip auch innerhalb der Betriebe. Also, eine vollkommene Umorganisierung der Produktionsabläufe und vor allem der Vorbereitung von Produktion."
Im gleichen Jahr - 1963 - erscheint Christa Wolfs Erzählung "Der geteilte Himmel", in der es um eine Liebe geht, die an der deutschen Teilung scheitert. Christa Wolf hat darin unter anderem ihre eigenen Erfahrungen im Waggonwerk Ammendorf verarbeitet und stellt sehr starke Konflikte innerhalb der Arbeiterschaft dar. Sie ist damit voll auf der Linie der Neuen Ökonomischen Politik, da der Held kein alter Kommunist, sondern ein technokratisch vernünftiger Parteileiter ist, sagt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Dröscher.
"Während sozusagen die Bürokraten da, Altfunktionäre, die nicht flexibel sind, den Kürzeren ziehen. Und dieses Buch hat dann zu einem extremen Streit geführt, eine ganz harte Debatte, und da wird sie letztlich von der SED-Führung protegiert, weil sie sozusagen das neuere, moderne Leitungskonzept vertritt darin. Der Roman ist darum letztlich von der Parteiführung als positiv bewertet worden und der Bitterfelder Weg geht genau so aus, wie Christa Wolf das im Grunde im "geteilten Himmel" hat, nämlich mit der Entscheidung für die neuen, gehobenen Mittelschichten, die technokratischer orientiert sein sollen als nur ideologisch."
Im April 1964 laden die "Ideologische Kommission beim Politbüro der SED" und das Ministerium für Kultur zur zweiten Bitterfelder Konferenz. Leonore Krenzlin:
"Diese zweite Konferenz ist nicht restriktiver als die erste, glaube ich nicht. Aber sie macht etwas seltsames, sie ergänzt nämlich die Forderung durch einen Zusatz, welcher lautet: Der Schriftsteller muss die Position des Planers und Leiters gewinnen. Also, die Idee war, wenn der Schriftsteller nicht nur unten in der Produktion arbeitet, sondern neben dem Direktor steht, oder dem Parteisekretär, dann wird er sehen, dass es nicht getan ist mit Kritik an schlechten Arbeitsverhältnissen oder fehlendem Material, sondern er wird die Schwierigkeiten der Planungsarbeiten erkennen und dadurch nicht so krasse Kritik üben. Das war die Idee."
In den Wochen vor der Konferenz wird in ausführlichen Rundfunkbeiträgen die Kurskorrektur in der Literaturpolitik erläutert. Schleichende Abwendung vom "Bitterfelder Weg" hat es schon länger gegeben.
"Einige Schriftsteller, die nach der Bitterfelder Beratung danach strebten, die Kunst mit dem Leben zu verbinden, die für ihr Schaffen nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen in Betrieben und Dörfern suchten, sind Seitenwege, wenn nicht gar Irrwege gegangen. Und nicht selten hat eine allzu enge, allzu vereinfachte Auffassung des Bitterfelder Weges Pate gestanden. Insbesondere junge Autoren, die die Universitäten und Hochschulen absolviert hatten, stürzten sich in die praktische Tätigkeit, sie arbeiteten auf den Baustellen und in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften so mit, dass sie sich die Anerkennung der Brigademitglieder und der Genossenschaftsbauern eroberten. Doch ihnen glitt etwas Wichtiges aus der Hand: Der Überblick über das Ganze. Der Horizont war eines Tages nur diese eine Baustelle, diese eine Genossenschaft, sie hatten aus den Augen verloren, dass ihre oberste Aufgabe ihr literarisches Werk ist. Alles andere dem aber nur notwendig vorausgesetzt, untergeordnet."
Am 24. und 25. April 1964 tagen Politiker, Kulturfunktionäre und Schriftsteller erneut im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats. Das zentrale Referat "Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur" hält der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht:
"Unter der Losung: Auf sozialistische Weise arbeiten, lernen und leben hat sich die Arbeiterklasse immer mehr zum bewussten Träger sozialistischer Kultur entwickelt. Heute wird bei uns nicht nur die Zahl der Kunstschaffenden immer größer, auch das Kunstverständnis der Werktätigen ist gewachsen. Grundlage des Könnens eines Künstlers muss vor allem sein Weltbild, seine Weltanschauung sein. Zu großer Kunst bedarf es heute mehr denn je eines großen Weltbildes, der Erkenntnis und des Bewusstseins der Perspektive der Entwicklung. Das ist das Entscheidende. In der gegenwärtigen Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus, nachdem die sozialistischen Produktionsverhältnisse unserer ganzen Wirtschaft gesiegt haben, ist die Weiterentwicklung unserer sozialistischen Nationalkultur als echte Volkskultur mit der Meisterung der technischen Revolution durch die Arbeiterklasse und die Durchsetzung unseres neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft auf die vielfältigste Art verbunden."
In den fünf Jahren zwischen den beiden Bitterfelder Konferenzen hat es teilweise heftige Auseinandersetzungen über einige der Erzählungen und Romane gegeben. Die Hauptgestalten würden zum Teil isoliert vom Kollektiv der Partei handeln - so einer der Vorwürfe. Bei manchen Autoren stünden sich sozialistische Wirklichkeit und kommunistische Ideale unversöhnlich gegenüber. Leonore Krenzlin:
"Strittmatter hatte mit seinem "Ole Bienkopp" die allergrößten Schwierigkeiten. Auch der "Geteilte Himmel" von Christa Wolf wurde ja scharf angegriffen, auch Erich Neutsch "Spur der Steine", was ja nachher ein Renner war als Roman, wurde zunächst schwer angegriffen. Es gab sehr viel Gerangel zwischen den Schriftstellern und dem Ministerium für Kultur, ob die Bücher gedruckt werden können oder nicht. Aber die allermeisten, muss man sagen, haben sich durchgesetzt und sind erschienen und waren auch immer Publikumserfolge, es war immer ein reges Interesse an diesen Büchern. Es gab aber auch Manuskripte, die nie gedruckt wurden. Oder es gab solche Fälle wie diesen tragischen Fall von Werner Bräunig, wo nicht nur das Buch nicht gedruckt wurde, sondern wo man auch sagen muss, dass er selber als Mensch schwer darunter gelitten hat und seine Produktivität darunter gelitten hat und da nicht mehr sehr vieles geschrieben wurde von ihm."
Eine Episode aus Werner Bräunigs Roman "Rummelplatz" ist in der Zeitschrift "Neue Deutsche Literatur" veröffentlich worden. In dem Roman verarbeitet er seine Erfahrungen als Arbeiter im Uran-Bergbau bei der Wismut AG. Auf dem elften ZK-Plenum, dem sogenannten "Kahlschlag-Plenum" im Dezember 1965, verunglimpft das Politbüro-Mitglied Erich Honecker Werner Bräunig, Wolf Biermann und weitere Schriftsteller und Filmschaffende.
"Heute war die Rede Honeckers auf dem ZK-Plenum abgedruckt. Die Katze ist aus dem Sack: Die Schriftsteller sind schuld an sittlicher Verrohung der Jugend. Destruktive Kunstwerke, brutale Darstellungen, westlicher Einfluss, Sexualorgien, weiß der Teufel was - und natürlich die böse Lust am Zweifeln. Die Schriftsteller stehen meckernd abseits, während unsere braven Werktätigen den Sozialismus aufbauen. Es ist zum Kotzen. Christa Wolf wagte wenigstens Bräunig zu verteidigen. Wir gehen einer Eiszeit entgegen."
Als in den 70er-Jahren in Ost-Berlin die "Geschichte der deutschen Literatur" erscheint, ist im 800-seitigen Band "Literatur der Deutschen Demokratischen Republik" dem "Bitterfelder Weg" kein eigenes Kapitel gewidmet. Nach dem Motto "War da was?" taucht der Begriff nicht einmal als Zwischenüberschrift auf.
Frühjahr 1992. In Bitterfeld sind die meisten Betriebsteile des ehemaligen Chemiekombinats stillgelegt. Im Kulturpalast - jetzt Eigentum einer "Chemie AG" - tagt die dritte Bitterfelder Konferenz. Mehrere hundert Schriftsteller und Künstler aus Ost und West, aus alten und neuen Bundesländern, sind dem Aufruf gefolgt. Bei dieser dritten Konferenz geht es weder um sozialistische Nationalliteratur noch um deutsche Nationalkultur. Sondern um eine Frage, die als offene Frage bei den Bitterfelder Konferenzen 1959 und 1964 nicht hätte gestellt werden können: "Kunst. Was soll das?"