Grenzenlose Kultur im Dreiländereck Zittau

Drei Theater, drei Städte, drei Sprachen

Gerhard-Hauptmann-Theater in Zittau
Das Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau: Mit dem trinationalen Abo gibt es grenzübergreifenden Kulturgenuss. © picture alliance / Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB
Von Michael Frantzen |
Kultur genießen, sich kennenlernen, Grenzen überwinden: Mit einem trinationalen Abo lockt das Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau Besucher nicht nur ins eigene Haus, sondern auch ins tschechische Liberec und ins polnische Jelenia Gora.
"Haben se durchgezählt?"
"Ja, ja. Hab ich. Ich zähle immer akribisch durch."
Sie überlässt selten etwas dem Zufall: Ricarda Böhme. Die Projekt-Koordinatorin des Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theaters hebt die Hände. Einer muss ja den Überblick behalten.
Böhme: "Der Bus kommt jetzt aus Jelenia Gora, mit den polnischen Gästen. Lädt hier in Zittau deutsche Gäste ein. Und jetzt fahren wir gemeinsam nach Liberec. Dort werden wir ne Vorstellung heute Abend sehen. Die lustigen Weiber von Winsor."
Samstagnachmittag, kurz nach drei. Böhme schaut nach hinten: Bis auf ein, zwei Sitze sind alle Plätze belegt. Dürften um die 30 Leute sein. Etwas mehr Frauen als Männer, alle Ü-40.
Sie selbst sitzt auf ihrem Stammplatz: Vorne, direkt neben dem polnischen Busfahrer. Die Mittdreißigerin kennt ihn schon. Seinen Musikgeschmack auch.
Böhme: "Das ist ein ganz neues Angebot. Von unserem Haus – in Partnerschaft mit dem Theater in Liberec und dem Theater in Jelenia Gora. Wir haben eine Extra-Förderung bekommen, eine EU-Förderung. Und lassen jetzt unsere Abonnenten reisen. In der Regel reisen wir ja zu den Partner-Theatern, sind dort zu Gast mit eigenen Inszenierungen. Und diesmal haben wir gesagt: Näh, wir drehen’s um und wir lassen diesmal das Publikum reisen. Und zwar gemeinsam: Also Nationen-verbindend sozusagen. Und grenzübergreifend."

Stadtrundgang und Abendessen inklusive

Seit vergangenem Herbst gibt es das Drei-Länder-Abo. Drei Aufführungen für 50 Euro, Stadtrundgang und Abendessen inklusive. Ein prima Angebot, findet die Kulturmanagerin. Zittaus parteiloser Oberbürgermeister auch. Er hat darum gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Liberec und Jelenia Gora einen Kooperationsvertrag für die drei Häuser unterzeichnet. Um – wie es heißt – "Barrieren zu überwinden" im Dreiländereck.
Böhme: "Man kommt aus Deutschland, fährt dann gefühlte - ich weiß nicht - sind das vielleicht zwei Kilometer durchs Polnische und ist: Jetzt schon im Tschechischen. Es dauert dann nur noch wenige Minuten und wir sind dann im Stadtzentrum von Liberec. Und ich hoffe, der Busfahrer biegt jetzt ab! Genau."
Müller: "Ich war in Hirschberg mit, in Jelenia Gora, bei der ersten Veranstaltung. Ich bin Theater-Gängerin."
Carolina Müller hat auch ihren Stammplatz: hinten, auf der Rückbank. Neben ihren zwei Freundinnen.
Müller: "Wir fahren ja privat sehr viel in die Tschechei und Polen. Und wir interessieren uns sehr viel für Geschichte und Zusammenhänge. Also dass die das jetzt vom Theater anbieten, find ich super."
Theater mag sie. Klassisches Theater. Das kommt nicht von ungefähr.
Müller: "Meine Eltern sind vom Theater – deswegen. Mein Vater war technischer Leiter, von 1945-1989. In Zittau. Und meine Mutter war die Leiterin von der Deko-Abteilung. Mein Vater, der hätte gerne gehabt, dass ich Maskenbildner lerne. Da muss man ja erst Frisöse lernen, das ist so. Und dann Maskenbildner-Schule in Berlin. Und wo das denn soweit war, hatte ich meinen Mann kennengelernt – in der Oberlausitz. Und dann hab ich das dann nicht gemacht. Und bin Frisöse geblieben."

Das erste "ABM-Theater" Deutschlands

Dem Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau hat Carolina Müller all die Jahre die Treue gehalten. Nach der Wende stand das Traditionshaus fast vor dem Aus und überlebte als Deutschlands erstes "ABM-Theater". Selbstausbeutung als Prinzip: Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Noch immer verzichten die Mitarbeiter auf 15 Prozent ihres Gehalts, die ihnen laut Flächentarif zustehen. Ist gerade wieder großes Thema: Im Sommer läuft der Haus-Tarif aus. Ende: offen. Ganz schön zermürbend, meint Böhme. Doch zumindest steht ihr Drei-Länder-Projekt nicht auf der Kippe.
Böhme: "Wir sind halt in der vorteilhaften Situation wirklich diese zusätzliche Förderung bekommen zu haben."
Aus dem EU-Topf für grenzübergreifende Zusammenarbeit. Insgesamt etwas mehr als 700.000 Euro.
Böhme: "Gilt jetzt erst mal bis 2019. Gibt uns in der Hinsicht eine gewisse Planungssicherheit, was all diese trinationalen Initiativen betrifft. Da sind wir jetzt nicht so sehr beunruhigt."

Angekommen in Downtown Liberec, dem früheren Reichenberg.
Böhme: "Mehr downtown geht’s gar nicht. Ahoi! Hallo.
Sikorova: "Ahoi! Ahoi, ich bin Jana. Lebe ständig in Liberec und werde sie durch das Stadt-Zentrum führen."
Jana Sikorova ist Stadtführerin – und in ihrem schwarzen Baumwollkleid dem deutschen und polnischen Besuch modisch voraus.
Sikorova: "Sikorova ist ein Vogel. Meise! Ich bin Frau Meise."
Deutsch-polnische Besuchergruppe vor der Oper von Liberec.
Die Besuchergruppe versammelt sich vor der Oper von Liberec. Am Abend stehen "Die lustigen Weiber von Windsor" auf dem Programm.© Michael Frantzen

Einige Besucher tanzen aus der Reihe

Frau Meise hat nicht nur Humor und Geschmack, sondern auch einen reichen Erfahrungsschatz. Als Reiseleiterin. In den 80ern begleitete sie DDR-Touristen durch die Tschechoslowakei. Nach dem Mauerfall tourte sie mit tschechischen Reisegruppen durch halb Europa.
Sikorova: "Jetzt nicht mehr. Das ist für mich zu anstrengend. Überhaupt: So lange im Bus sitzen. Jetzt bin ich seit acht Jahren Rentnerin. Und ab und zu mache in Führungen hier. Auch sehr wichtig für unsere Stadt ist die Barockperle. Kreuzkirche."
Ältere Dame: "Ich hab eine Frage. Ich würde so gerne einen Kaffee trinken. Kann ich irgendwo einen Kaffee trinken?"
Mitreisende, die aus der Reihe tanzen: Das mag Dieter Engelage gar nicht.
Engelage: "Engel AG haben die Studenten immer gesagt. Engel und Aktien-Gemeinschaft. Ich werde in Kürze 80."
Professor für Elektrotechnik war Engelage – die meiste Zeit in Zittau.
Engelage: "Ich hab damals in der Sowjetunion studiert: Elektrotechnik in Moskau, Kiew und Leningrad. Ich habe übrigens zusammengewohnt mit Tschechen und Polen, in einem Zimmer. Der Pole hat also Wodka mitgebracht, der Tscheche Bier und wir den Schinken aus der DDR. Das war ein Leben, sag ich ihnen."
Nach der Wende hatte Engelage in Cottbus einen Lehrstuhl für Elektrotechnik. Auch kein schlechtes Leben. Bis Schluss war – obwohl ihn seine Studenten beknieten, noch ein paar Jahre dranzuhängen. Doch da war nichts zu machen. Irgendwann reicht’s, sinniert der Mann mit den Lachfalten. Gibt ja auch genug Anderes. Die Uran-Forschung etwa – sein Steckenpferd. Und: Theater. Sein Theater.
Engelage: "Wir Zittauer kämpfen schon für unser Theater. Frage mich manchmal: Für alles haben wir Geld. Für Krieg. Aber für die Kultur? Die schrauben wir systematisch zurück. In Deutschland. Nicht nur hier."

Der AfD wollen sie nicht das Feld überlassen

Die vergangenen Jahre waren nicht einfach: Für Engelage und fürs Zittauer Theater gleichermaßen. Erst Darmkrebs, dann ein Schlaganfall. Sein Hausarzt sagt immer: Schon dich! Engelage: Kann ich noch genug nach dem Tod. Er will sich nicht schonen. Wie auch. In Zeiten wie diesen. Allein die AfD: Engelages Augen funkeln. Denen dürfe man nicht das Feld überlassen. Ereifert er sich. Schon gar in Zittau. Seit der Bundestagswahl haben die Rechtspopulisten in der Gegend zwischen Zittau und Görlitz Oberwasser; seitdem der AfD-Kandidat das Direktmandat holte.
Engelage: "Sie ist als Partei nun mal da. Und da muss man auch mit ihr reden. Und ihnen sozusagen die Zähne ziehen. In der Argumentation. Weil sie auch bezüglich des Deutschtums de facto Abwertungen gegenüber Polen und Tschechen macht."

Wenn man so will, ist das Gerhart-Hauptmann-Theater einer der Lieblingsgegner von Zittaus Rechtsaußen. Wegen "Cabaret"; der aktuellen Musical-Inszenierung; der Zeile "Wir sind die Alternative für Deutschland" aus dem Mund eines Nazi-Charakters auf der Bühne. Es ist nicht der einzige aktuelle Bezug in der Aufführung. Das geht gar nicht. Findet die AfD, die "Alternative für Deutschland". Geht doch: Ricarda Böhme. Das Dreiländer-Theater-Projekt sei zum Glück bislang nicht ins Fadenkreuz der Rechten geraten. Noch nicht.
Böhme: "Da hält man sich eher zurück. Man schaut zu und guckt, wie sich’s entwickelt. Unmittelbar zu unserer grenzübergreifenden Zusammenarbeit hab ich noch nicht Kritik vernommen."
Seine Erfahrungen mit rechter Kulturpolitik, die alles sein darf, nur nicht zu kritisch, hat auch schon Tadeus Bolen gemacht. In Polen. Es ist kurz vor halb sieben. Eine halbe Stunde noch – dann geht es zu den "Lustigen Weibern von Windsor". Der Anfang 60-jährige Theatergänger sitzt mit den anderen im Ratskeller des Rathauses von Liberec direkt neben der Oper. Links das Bier, rechts die Gulaschsuppe. Und mittendrin der Mann, dem man seine Liebe zu gutem Essen ansieht.
Teilnehmer Dieter Engelage und Organisatorin Ricarda Böhme
Teilnehmer Dieter Engelage und Organisatorin Ricarda Böhme setzen sich für den grenzüberschreitenden Austausch ein.© Michael Frantzen

Eine Region mit gemeinsamer Geschichte

Bolen: "Das Drei-Länder-Abo ist toll. Wir sind doch Nachbarn: Polen, Deutsche, Tschechen. Mit einer gemeinsamen Geschichte – gerade hier in der Region. Bei uns in Polen kapseln sich immer mehr Leute ab. Ich verstehe das nicht. Es ist doch spannend zu sehen, was in Sachsen und Tschechien passiert. Gerade kulturell."
Bolen ist häufiger im Dreiländereck unterwegs. Immer schon gewesen.
Bolen: "Viele denken, wir hätten in kommunistischer Zeit total isoliert gelebt. So ein Quatsch. Ich habe in den 80er-Jahren einen Austausch zwischen polnischen und DDR-Jugendlichen organisiert. Seit einiger Zeit betreue ich ein polnisch-deutsches Senioren-Projekt. Es heißt immer: Polen und Deutsche ticken anders. Also wenn sie mich fragen: Die Alten in Polen und Deutschland sind sich ziemlich ähnlich. Sie haben dieselben Probleme; dieselben Wünsche."
Bolen wischt sich mit der Serviette den Mund ab. Er muss los. Zu den lustigen Weibern. Er schaut zu seiner Frau: Die Tickets? Hat sie. Also raus aus dem Kellergewölbe. Er bleibt kurz stehen: Die zwei Frauen am Ausgang, die kennt er doch. Aus dem Bus.
Bolen: "Na ja, zu sagen, wir wären befreundet, wäre etwas übertrieben. Ich habe mich mit den beiden vorhin im Bus unterhalten. Ich kann ja ein paar Brocken Deutsch, das reicht für Smalltalk. War nett. Wir haben uns übers Theater unterhalten, die Oper heute."
Die Show in der Liberecer Oper, der Jugendstil-Perle: Sie kann beginnen. Vor fast ausverkauftem Haus.
Deutscher Gesang in Liberec: Das hat Ricarda Böhme nicht erwartet. Sie blättert im dreisprachigen Programmheft. Natürlich: Die literarische Vorlage zu den "Lustigen Weibern" stammt zwar von William Shakespeare, die Oper selbst aber vom deutschen Komponisten Otto Nicolai. Deshalb die deutschsprachigen Lieder. Nur die Dialoge zwischendurch sind auf Tschechisch. Versehen mit deutschen und polnischen Übertiteln.
Böhme: "Ja. Doch. Das war eigentlich eine optimale Lösung für heut Abend."
Böhme steht auf. Der Bus wartet schon. Gleich wird sie wieder das tun, was sie immer tut: Akribisch durchzählen – und sich fallenlassen: auf ihren Stammplatz: Vorne, neben dem Busfahrer mit seinem Faible für polnische Volksmusik.
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