Klein-Athen in Down Under
Trotz Neuwahl, trotz Finanz-Hilfspaketen und anderen Rettungsleinen der EU: Griechenland steckt weiter in der Schuldenkrise. Deshalb suchen immer mehr Griechen ihr Glück im Ausland, da wo es die Hoffnung auf Jobs und eine bessere Zukunft gibt.
Australiens Klein-Athen liegt mitten in der Innenstadt von Melbourne. Lonsdale Street ist eine baumlose Flaniermeile voller griechischer Cafes, Tavernen und Restaurants, die "Sorbas" oder "Mykonos" heißen und in denen samstagabends beim Sirtaki Wagenladungen von Tellern zerdeppert werden. Im "Nikos-Cafe" geht es wieder einmal um Weltpolitik. Der Ouzo ist auf's Haus und – wie fast jeden Nachmittag – dreht sich für Besitzer Nikos Pantopoulos und seine Stammgäste alles nur um Griechenlands Wirtschaftsskrise.
"Wir reden über nichts anderes, denn es betrifft Menschen, die wir kennen, lieben und um die wir uns Sorgen machen. Unsere Freunde und Verwandten zurück in Griechenland kämpfen ums Überleben – und das Deprimierende ist: Es ist kein Ende in Sicht."
Die Rolle der Deutschen in der griechischen Schulden-Tragödie variiert von "Euro-Nazis" bis zu "Kavallerie" – je nachdem, wen man fragt. In einem aber ist man sich im "Nikos-Cafe" einig: Die Bösewichte sitzen in Griechenlands Parlament. Und zwar da, wo sie schon länger sitzen: Auf ihren Händen.
"Die Hauptschuld haben die zwei Großparteien, aber alle 300 Abgeordneten im Parlament sind mitverantwortlich",
schimpft Maria Vatsukopoulos auf Griechisch, weil sie sich lieber in ihrer Muttersprache aufregt:
"Sie alle wussten wie es um Griechenland steht, und sie haben es vertuscht."
Marias Freundin Voula winkt nur ab:
"Ändern wird sich erst etwas wenn die Sesselwärmer im Parlament rausfliegen, und zwar alle."
Voula und Maria gehören zur goldenen Generation griechischer Australien-Einwanderer. Die ersten kamen in den 20er-Jahren, mehr nach dem Zweiten Weltkrieg, noch mehr während der 70er-Jahre – insgesamt mehr als 800.000 Menschen. Sie gründeten Existenzen, Familien und Gemeinden. Heute ist Melbourne, nach Athen, die Stadt mit den meisten griechisch-stämmigen Einwohnern. Und seit Griechenland in tiefroten Zahlen steckt, werden es immer mehr.
Griechenland ist die "Titanic" - Australien das Rettungsboot
Telefondienst ist im Büro der griechischen Gemeinde Melbourne ein Vollzeitjob. Seit gut einem Jahr kommen täglich dutzende Ferngespräche, selbst außerhalb der Öffnungszeiten. Anrufe von Griechen mit australischer Staatsangehörigkeit, die zurück nach Melbourne wollen. Um die Flut von E-Mails kümmert sich Gemeinde-Präsident Bill Papastergiadis persönlich.
"It is soul destroying because we are seeing people we know who are educated working for less than three dollars an hour."
Fachkräfte, die für zwei Euro die Stunde arbeiten, Akademiker ohne Stelle, Familien die unter der Armutsgrenze leben: Griechen mit australischen Wurzeln. Wer Bill Papastergiadis schreibt, der sitzt auf gepackten Koffern. Griechenland ist die "Titanic" und Australien das Rettungsboot.
"Die meisten kommen in ein Land zurück, in dem sie entweder geboren wurden oder das sie sehr jung mit ihren Eltern verlassen haben. Andere gingen als Erwachsene nach Griechenland und waren jahrzehntelang nicht mehr in Australien. Diese Heimkehrer brauchen unsere Unterstützung. Etwas, das die letzten 30, 40 Jahre nicht nötig war."
Jobsuche, Zimmer und Wohnungen vermitteln, Kontakte herstellen: Bill Papastergiadis hilft, wo er kann. Als Anwalt arbeitet er nur noch halbtags. Etwa 30.000 griechisch-stämmige Australier sind in den letzten beiden Jahren nach Melbourne, Sydney oder Brisbane zurückgekehrt. Geschäftsleute, Uni-Absolventen und Handwerker. „Griechenland geht rückwärts", glaubt Bill Papastergiadis, denn Griechenlands Beste gehen weg.
"Viele talentierte und gut ausgebildete Griechen sind nach Deutschland gegangen. Mehr als 4.000 griechische Ärzte arbeiten heute im deutschen Gesundheitswesen. Aber Australien profitiert genauso: Eine Rekordzahl griechischer Studenten, Akademiker und Intellektueller kommt hierher. Mobile und hochgebildete Leute – es sind die hellsten Köpfe die Griechenland verlassen."
One-Way-Ticket nach Melbourne
Nanos Pavlis war immer unter den Klassenbesten, in der Schule oder an der Uni. Aufgewachsen am Fuß der Akropolis faszinierten Nanos Ruinen – schon von klein auf. Deshalb wurde er Architekt. Jetzt mit 29 könnte er in Athen mithelfen Griechenland, buchstäblich, wiederaufzubauen. Nanos Pavlis aber lebt seit einem Jahr in Melbourne. Weit weg von den Staus, den Müllbergen und den Rechtsradikalen, weg von den leeren Versprechen der Politiker, weg von Ungewißheit und Gewalt.
"Ich habe an der Technischen Schule der Universität Athen studiert, der wohl angesehensten Uni in Griechenland. Die soziale Ordnung zerfiel dort vor unseren Augen. Jeden Tag spritzten sich draußen vor dem Gebäude, in dem wir Vorlesung hatten, Heroinsüchtige ihre Drogen – und das schon um sieben Uhr morgens. Das hat mich ziemlich mitgenommen."
Randale, Demonstrationen und 60 Prozent Jugend-Arbeitslosigkeit: Es war seine Großmutter, die Nanos das Geld für das Einfach-Flugticket von Athen nach Melbourne gegeben hat. Sein Onkel besorgte ihm dort einen Job im Architektenbüro eines Cousins. In ein paar Monaten wird Nanos zum ersten Mal Vater. Griechenland zu verlassen war für ihn reine Familiensache.
"Junge Leute meines Alters finden nur Jobs, die vielleicht 400 Euro im Monat bezah-len. Davon kann in Athen niemand leben – selbst wenn dein Partner mitverdient. Eine Familie zu gründen oder zu unterstützen ist unmöglich. Man muß schon 35 oder 40 Jahre alt werden, um sich ein Kind leisten zu können."
Letztes Jahr beim FC Kerkyra, jetzt bei Hurlstone Park in Sydney
Auf dem Bolzplatz der Hurlstone Park Wanderers in Sydney. Die Messis und Ronaldos der U-9-Mannschaft üben Passen und Freilaufen. Die Wanderers haben zwei Neuzugänge: Christos, neun und Philippos, zehn – die Siriakis-Brüder aus Korfu. Letztes Jahr hat Mutter Jenny ihre Jungs noch beim FC Kerkyra angefeuert, bis die Siriakis-Familie mit Sack und Pack nach Sydney gezogen ist. Vater Georgas war seit einem Jahr arbeitslos und Mutter Jenny wollte, daß es Christos und Philippos einmal besser haben.
"Die Leute litten. Freunde meiner Kinder kamen ohne irgendetwas zu essen in die Schule. Also gaben ihnen meine Jungs etwas ab. Das ist ein Armutszeugnis für ein Land. Ich bin weniger aus wirtschaftlichen Gründen weggegangen, ich fragte mich: Ist Griechenland eine Gesellschaft, in der meine Kinder aufwachsen sollen?"
Jenny wurde in Sydney geboren, als sie drei war, nahmen sie ihre Eltern wieder mit zurück nach Korfu. Australien kannte sie nur von Photos und aus Büchern. Als Christos und Philippos Babys waren, kaufte Jenny ihnen Plüsch-Känguruhs und Stoff-Emus, die Wappentiere auf ihrem australischen Pass. Über 30 Jahre lang lag ihr Ausweis vergessen in der Schublade. Bis Mitte 2014. Einen Konsulatsbesuch später wurde Jennys brandneuer, australischer Reisepass zum Familienticket aus der Schuldenkrise.
"Als wir hierher kamen, war Australien noch schöner, als ich es mir erhofft hatte. Die Leute lächeln hier, sie sind positiv und helfen einander. Aber wir wollen keine Almosen. Wir sind hier, um hart zu arbeiten und unseren Kindern eine bessere Zukunft zu geben."
"Wir kämpfen gegen viele Klischees"
Es ist Pause in der St. Mary-Schule im Westen von Sydney. Die Kinder spielen draußen Fangen oder Ball, essen ihre Brote oder ärgern die Lehrer. Drinnen bereiten Maria und Socrates Loukakis ihren Unterricht vor. 6a und 7c haben gleich Griechisch - und die jüngsten Pauker der Schule. Maria ist 29, Socrates 31. Letztes Jahr verloren sie in Athen erst ihre Jobs und dann die Hoffnung auf eine Zukunft. Obwohl sie noch nie in Australien gewesen waren, packten sie die Koffer und versuchen jetzt, in der alten Heimat ihrer Eltern neu anzufangen.
"Wir freunden uns vor allem mit Australiern an, die Verständnis für die Lage in Griechenland haben und nicht das Schlechteste von uns denken. Griechenland hat große Probleme, die gelöst werden müssen. Aber wir kämpfen gegen viele Klischees. Ich muss ständig meine Heimat und meine Kultur verteidigen."
Die Vorurteile sind überall. Socrates musste sich beim Vorstellungssgespräch von einem Schuldirektor die Frage gefallen lassen ob er es sich als Grieche überhaupt vorstellen könne, 20 Stunden die Woche zu arbeiten.
"Es hält sich das Gerücht, dass Griechen faul seien, dass sie nichts tun würden, nur den ganzen Tag Kaffee schlürften und am Strand faulenzten – das ist nicht wahr. Selbst die Deutschen erkennen an, dass die Griechen härter als andere Europäer arbeiten – aber einfach nicht richtig dafür bezahlt werden."
Maria und Socrates verdienen zusammen 700 Euro die Woche, gerade genug für die Miete, das Auto, die Einkäufe. Was am Monatsende übrig bleibt, das steckt Maria auf ein Sparkonto. Neben den Griechischstunden in St. Mary geben die beiden Kurse im Gemeindezentrum. "Wir haben noch Glück", glaubt Socrates. Wer als Bauarbeiter, Anstreicher oder Elektriker nach Australien komme, der habe es viel schwerer. Denn wer nur Griechisch spricht, der ist in Sydney oder Melbourne schnell mit seinem Latein am Ende.
"Diese Handwerker bemühen sich um Jobs aber viele sprechen kaum Englisch. Also versuchen sie es da, wo Griechen der Boss sind. Sie zahlen ihnen nicht mehr als Hungerlöhne und sagen: „Nimm' das Geld oder geh' woanders hin!' So, wie es den Griechen in Europa oder Australien vor 30, 40 Jahren ergangen ist. Diesmal aber werden wir von unseren alten Landsleuten ausgenutzt."
Schwarzarbeit auf australischen Baustellen
Glassop Street, Nr. 21 in Balmain, einem sündteueren Wohnviertel in Sydney. Vom Balkon der zweistöckigen Villa aus hat man Hafenblick, hinten aber auf der Veranda, starrt man in ein großes Loch. Da, wo der Swimming Pool hinkommt. Ausgebaggert hat es Dimitrios Katsukopoulos. Sein Englisch ist ein wenig wackelig, sein griechischer Boss geht lieber auf Nummer sicher.
Dimitrios ist Anfang 40, hat einen Händedruck wie ein Schraubstock und Oberarme, mit denen er das Loch leicht auch mit der Schaufel hätte graben können. Dimitrios lebt seit acht Monaten in Sydney. Mitgebracht hat er nur zwei Koffer und Loukia, seine Frau. Beide waren fünf, als ihre Eltern sie nach Griechenland brachten, jetzt 35 Jahre später, kennen die beiden niemanden in Australien.
"Ich weiß noch nicht wie ich in Australien leben soll, aber ich will für Dimitrios da sein."
"Es ist schon komisch. Ich muß mich erst wieder an Australien gewöhnen. Beide Länder sind so verschieden."
Steuern zahlt Dimitrios nicht, er arbeitet schwarz. "Nur, bis ich einen festen Job habe", verspricht er. Schließlich hätte so auch alles in Griechenland angefangen. Loukia und Dimtrios sind froh, wieder in Sydney zu sein, aber sie vermissen ihre Freunde und Verwandten. Die einzige Bekannte, die sie regelmäßig sehen, ist Maria Pelios, eine Psychologin im griechischen Wohlfahrtszentrum.
"Es war schon schwierig für die griechischen Auswanderer, die in den 50er- und 60er-Jahren nach Australien kamen. Aber sie wurden von Verwandten hier erwartet. Das ist jetzt anders. Für Griechen ist die erweiterte Großfamilie enorm wichtig. Sie zurückzulassen und nur mit einem Partner nach Australien zu kommen, kapselt diese Einwanderer oft völlig von der Außenwelt ab."
Die Schuldenkrise beherrscht alle Gespräche
Die Griechenland-Krise ist in Australien immer und überall. In englischer und in griechischer Sprache. Tägliches Brot für Vrasidas Kardalis. Als Professor für modernes Griechisch an der Uni Sydney hält er kaum mehr Vorlesungen, meist ist er Ringrichter bei Diskussionen zwischen australischen und griechischen Studenten.
"Die griechischen Studenten beschuldigen andere. Die Krise sei eine Verschwörung der Amerikaner, der Deutschen, der EU – jeder ist verantwortlich. Nur nicht die Griechen selbst. Eine derart verlogene Rechtfertigung hätte ich nicht erwartet."
Wie die meisten griechisch-stämmigen Australier schickt Kardalis seinen Verwandten regelmäßig Euros und kauft für sie ein – übers Internet. Per Kreditkarte überweist er Geld an einen Supermarkt in Piräus, wo seine Mutter lebt. Dann mailt er seine Bestellung, und die Lebensmittel werden ihr an die Haustür gebracht. "Von der übrigen Welt aber – oder wie es um ihr eigenes Land steht", meint Kardalis, davon wolle seine Mutter nichts wissen. Wie so viele Griechen.
"Eine ganze Generation ist zutiefst frustriert und hat die Nase voll von Politik. Wer nicht weggeht, der nimmt am öffentlichen Leben nicht mehr teil. Australien ist ein so glückliches Land, weil hier Menschen leben, die gar nicht wissen wie glücklich sie sind."
Der Exodus aus Griechenland beschäftigt nicht mehr nur Australiens Einwanderergruppen, sondern auch die Regierung. Es wird über das Einführen eines Brückenvisums nachgedacht. Während des Balkankriegs nahm Australien vorübergehend Vertriebene aus dem Kosovo auf, jetzt fragt man sich: Warum nicht auch griechische Wirtschaftsflüchtlinge, die keine Australier sind? Unbürokratisch und auf Zeit. Die Idee kam von Bill Papastergiadis in Melbourne. Dazu seien Freunde und Verbündete, die in Weltkriegen zusammen gekämpft hätten, schließlich da.
"Die australische Regierung muss anerkennen, dass die Geschichte der griechischen Einwanderer in Australien eine Erfolgsgeschichte ist. Deshalb sollte es auch für nicht-australische Griechen möglich sein, für ein paar Jahre hierher und wieder auf die Beine zu kommen. Ein Visum nicht für immer, sondern für eine kurzfristige Atempause."
Ein hellenisches Sprichwort sagt: "Ein Grieche mag vielleicht seine Heimat verlassen, doch der Gedanke an seine Heimat verlässt ihn nie." Aber von wegen "kein schöner Land": Je länger die Schuldenkrise dauert, desto mehr Griechen brechen nach Australien auf, mit oder ohne Familienanbindung. Wer bis ans andere Ende der Welt geht, der sucht oft einen Neubeginn. Oder das, was man wie Bauarbeiter Dimitrios Katsukopoulos, daraus macht.
"Ich bin neugierig auf meine Zukunft, ich möchte in Australien bleiben. Griechenland hat keinen Platz mehr in meinem Herzen. Ich bin nicht nach Australien gekommen, um reich zu werden. Ich möchte nur mit Würde leben können."