Das Referendum und die Freiheit
Ist Alexis Tsipras ein verzweifelter Wirrkopf, ein frecher Taktierer oder ein integrer Demokrat? Weiß er keinen anderen Ausweg, will er die Geldgeber erpressen oder verhält er sich loyal seinem Volk gegenüber? Wie immer man die Motive einschätzt, seine Entscheidung, ein Referendum abhalten zu wollen, löste zunächst Erschrecken aus.
Volksbefragungen sind in der EU nicht unbedingt gern gesehen. Sie erscheinen als das letzte Mittel und heizen sich auf zu jenem nahezu wettkampfähnlichen Thrill, der sich aus der Spannung zwischen Endgültigkeit der Entscheidung und ihrer Unberechenbarkeit ergibt. Das gilt auch für das von David Cameron für 2017 angekündigte britische Referendum.
In der Diskussion um Griechenland und die Berechtigung eines Referendums könnte man an ein Buch denken, das kürzlich in deutscher Übersetzung erschien: "Gerechte Freiheit" heißt es. Sein Autor, der in Princeton lehrende politische Philosoph Philip Pettit, macht sich darin für eine konsequente Verwirklichung der Ideale der Republik stark; des Prinzips also, dass alle Bürger und Bürgerinnen – und international alle Staaten – strikt als Gleiche zu behandeln seien.
Die republikanische Idee beruhe auf einer einfachen aber folgenreichen Definition von Freiheit, sagt Pettit: "Freiheit heißt, nicht beherrscht zu werden." Dieser eine Satz gebe uns einen moralischen Kompass an die Hand, einen verlässlichen Maßstab, an dem wir innerstaatlich die Gestaltung sozialer Gerechtigkeit und Demokratie und international den Umgang souveräner Staaten miteinander ausrichten können.
Die Pflicht, die Bürger zu befragen
Auch wenn Pettits Modell in vielen Punkten der Durchführung problematisch ist, gibt es für den Fall Griechenland zu denken. Denn vor einem Referendum fürchten müsste sich die freie Republik nicht. Im Gegenteil, die Regierung wird hier bestenfalls durch die Bürger kontrolliert. Sie hat die Pflicht, sie zu befragen und vor Beherrschung von außen zu schützen. Das gälte wohl auch für die Beherrschung durch harte Sparauflagen und Austeritätsprogramme der EU. In diesem Sinn erfüllt die griechische Regierung mit dem anberaumten Referendum als möglicher Exit-Strategie eigentlich nur ihre Pflicht.
Man wird einwenden, Griechenland fange zu spät damit an, sich auf republikanische Tugenden zu berufen. Aber immerhin drückt Tsipras Vorstoß – egal wie er endet – den Willen aus, einerseits den griechischen Bürgern als politischen Akteuren eine Stimme zu geben und andererseits auch als Staat zumindest symbolisch gegenüber der EU Souveränität und Handlungsmacht zurückzugewinnen. Denn angesichts der derzeitigen Lage kann von Griechenland als einem gleichgestellten Mitglied der EU, von einem "Dialog auf Augenhöhe", den Pettit auch für Staaten fordert, nicht im Entferntesten die Rede sein. Und das ist nicht nur die Schuld Griechenlands.
"Freiheit heißt, nicht beherrscht zu werden" – das ist eine stolze Definition. In ihrer strengen Auslegung bedeutet sie auch, nicht von der Gunst anderer abhängen zu müssen. Also vermutlich auch nicht von Schuldenschnitten und nicht von solidarischem Crowd-Funding, wie es jetzt die sympathische Initiative eines jungen Briten vorschlägt.
Im Knebelgriff der Wirtschaft
In seiner strengen Definition der Republik sieht Philipp Pettit innerstaatlich für Bürger eines Gemeinwesens verbriefte Rechte vor, Bereitstellung von Ressourcen, die sie unabhängig machen. Aber was geschieht international mit ganzen Staaten in einem Verbund wie der EU, der halb national- und halb supranational agiert? Und was überhaupt geschieht mit dem republikanischen Ideal der Freiheit in einem System, dessen Politik im Knebelgriff eines Wirtschaftssystems steckt, das zu großen Teilen von Anleihen und Spekulationen auf Schuldverschreibungen lebt? Es gerät unter die Räder und in Vergessenheit.
Wir hören von Sackgassen, Zwängen und Handlungsnotwendigkeiten. Den Begriff der Freiheit haben wir – vor allem im Rahmen der EU-Politik – schon lange nicht mehr gehört. Immerhin erinnert Tsipras' Referendums-Entschluss auf schreckliche Weise daran.