Griechischer Schelm im schwedischen Eis
Weil er beim Pokern alles verliert, macht sich der Grieche Jannis Georgiadis in den 1960er-Jahren auf nach Schweden. Anhand dieses griechischen Luftikus zeigt Aris Fioretos die Träume, enttäuschten Hoffnungen und Brüche im Leben von Auswanderern.
Ein glückliches Leben sei unmöglich, behauptet Schopenhauer, der Mensch könne höchstens einen "heroischen Lebenslauf" anstreben. Wenn er dann am Ende unterginge, würde man sich wenigstens an ihn erinnern.
Der neue Roman des schwedischen, in Berlin lebenden Autors Aris Fioretos beschreibt gleich mehrere heroische Lebensläufe. Im Mittelpunkt steht der des Griechen Jannis Georgiadis. 1943 in einem kleinen makedonischen Dorf geboren, nennt er sich selbst einen "Mückenschädel", weil ihm ständig jede Menge verrückter bzw. genialer Gedanken durch den Kopf gehen. Schon als Kind, das die Ziegen hütete, schmiedete er Pläne, um die Wasserversorgung seines Dorfes zu revolutionieren: "Eine Zeit lang versuchte er, ein Lasso um die Wolken zu werfen und sie an den Bäumen festzuzurren, um sie anschließend wie Ziegen melken zu können."
Wasser ist ein Leitmotiv nicht nur im Leben des Protagonisten, sondern im gesamten Roman von Aris Fioretos. Es bestimmt das Prinzip seines Erzählens, ist dessen Metapher: Es fließt hierhin und dorthin, verdünnt oder verdichtet sich, füllt Lücken, trägt Bedeutungen weiter. Es entstehen Wirbel und Wellen, dann wieder weite, überschaubare Flächen. Alles hängt mit allem zusammen, nichts geht verloren. Auch in gefrorenem Zustand erlaubt das Wasser ungeahnte Höhenflüge. Mit dünnen Lederschuhen, vom griechischen Festland auf einen vereisten See in Schweden versetzt, gleitet der Held dahin, als habe er Flügel bekommen.
Griechenland und Schweden sind die beiden geografischen Pole des Romans. Jannis Georgiadis bricht in den 1960er-Jahren nach Skandinavien auf, weil er bei einer Pokerpartie alles, sogar den Stall verspielt hat. Er will als Gastarbeiter sein Glück machen. Sein Freund Kostas ist schon dort, hat Arbeit gefunden in einer Fabrik für Sanitärartikel. Jannis kommt erst einmal in einer Saftfabrik unter. Er lernt Schwedisch, träumt von einer Karriere als Sportlehrer oder Historiker. Und heiratet schließlich eine Schwedin.
Fioretos spielt mit einer Herausgeberfiktion: In einem Vorwort gibt sich ein gewisser Aris Fioretos 2009 als Empfänger einer Holzkiste zu erkennen, die Karteikarten mit der Lebensgeschichte von Jannis Georgiadis enthält, aufgezeichnet von dessen verstorbenem Freund Kostas. Dann lässt der Herausgeber die nicht chronologisch geordneten Karteikarten sprechen. Sie bilden den Supplementband einer "Enzyklopädie der Auslandsgriechen", verfasst von aus Smyrna vertriebener Griechinnen. Sie wollten das kollektive Bewusstsein all derer erhalten, die im 20. Jahrhundert ihre Heimat verlassen mussten.
Am Anfang und am Ende des Romans steht der Tod, dazwischen die Erinnerung durchs Erzählen. Aris Fioretos hat einen handwerklich virtuosen und berührenden Roman vorgelegt. Obwohl Jannis Georgiadis Züge einer Schelmenfigur trägt – woran auch sein in der deutschen Übersetzung wunderbar wiedergegebenes Radebrechen in der fremden Sprache denken lässt –, erzählt er letztlich eine tragische Geschichte voller Sinnlichkeit, enzyklopädischer Wissenspartikel und historischer Fakten über Heimatlosigkeit und Vertriebensein. Und darüber, wie sehr, trotz aller Unterschiede, jeder Mensch mit jedem Menschen verbunden ist.
Besprochen von Carsten Hueck
Aris Fioretos: Der letzte Grieche
Roman, Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Carl Hanser Verlag, München 2011
415 Seiten; 24,90 Euro
Der neue Roman des schwedischen, in Berlin lebenden Autors Aris Fioretos beschreibt gleich mehrere heroische Lebensläufe. Im Mittelpunkt steht der des Griechen Jannis Georgiadis. 1943 in einem kleinen makedonischen Dorf geboren, nennt er sich selbst einen "Mückenschädel", weil ihm ständig jede Menge verrückter bzw. genialer Gedanken durch den Kopf gehen. Schon als Kind, das die Ziegen hütete, schmiedete er Pläne, um die Wasserversorgung seines Dorfes zu revolutionieren: "Eine Zeit lang versuchte er, ein Lasso um die Wolken zu werfen und sie an den Bäumen festzuzurren, um sie anschließend wie Ziegen melken zu können."
Wasser ist ein Leitmotiv nicht nur im Leben des Protagonisten, sondern im gesamten Roman von Aris Fioretos. Es bestimmt das Prinzip seines Erzählens, ist dessen Metapher: Es fließt hierhin und dorthin, verdünnt oder verdichtet sich, füllt Lücken, trägt Bedeutungen weiter. Es entstehen Wirbel und Wellen, dann wieder weite, überschaubare Flächen. Alles hängt mit allem zusammen, nichts geht verloren. Auch in gefrorenem Zustand erlaubt das Wasser ungeahnte Höhenflüge. Mit dünnen Lederschuhen, vom griechischen Festland auf einen vereisten See in Schweden versetzt, gleitet der Held dahin, als habe er Flügel bekommen.
Griechenland und Schweden sind die beiden geografischen Pole des Romans. Jannis Georgiadis bricht in den 1960er-Jahren nach Skandinavien auf, weil er bei einer Pokerpartie alles, sogar den Stall verspielt hat. Er will als Gastarbeiter sein Glück machen. Sein Freund Kostas ist schon dort, hat Arbeit gefunden in einer Fabrik für Sanitärartikel. Jannis kommt erst einmal in einer Saftfabrik unter. Er lernt Schwedisch, träumt von einer Karriere als Sportlehrer oder Historiker. Und heiratet schließlich eine Schwedin.
Fioretos spielt mit einer Herausgeberfiktion: In einem Vorwort gibt sich ein gewisser Aris Fioretos 2009 als Empfänger einer Holzkiste zu erkennen, die Karteikarten mit der Lebensgeschichte von Jannis Georgiadis enthält, aufgezeichnet von dessen verstorbenem Freund Kostas. Dann lässt der Herausgeber die nicht chronologisch geordneten Karteikarten sprechen. Sie bilden den Supplementband einer "Enzyklopädie der Auslandsgriechen", verfasst von aus Smyrna vertriebener Griechinnen. Sie wollten das kollektive Bewusstsein all derer erhalten, die im 20. Jahrhundert ihre Heimat verlassen mussten.
Am Anfang und am Ende des Romans steht der Tod, dazwischen die Erinnerung durchs Erzählen. Aris Fioretos hat einen handwerklich virtuosen und berührenden Roman vorgelegt. Obwohl Jannis Georgiadis Züge einer Schelmenfigur trägt – woran auch sein in der deutschen Übersetzung wunderbar wiedergegebenes Radebrechen in der fremden Sprache denken lässt –, erzählt er letztlich eine tragische Geschichte voller Sinnlichkeit, enzyklopädischer Wissenspartikel und historischer Fakten über Heimatlosigkeit und Vertriebensein. Und darüber, wie sehr, trotz aller Unterschiede, jeder Mensch mit jedem Menschen verbunden ist.
Besprochen von Carsten Hueck
Aris Fioretos: Der letzte Grieche
Roman, Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Carl Hanser Verlag, München 2011
415 Seiten; 24,90 Euro