Wanderprophet und Wunderheiler
Die Gestalt des Grigorij Rasputin ist von Legenden und Gerüchten umwoben. Er wurde als Heiler verehrt und als Günstling der Zarenfamilie gehasst. Vor 100 Jahren wurde Rasputin ermordet.
Im Frühjahr 1903 trifft der Wundermönch Grigorij Rasputin in der russischen Hauptstadt St. Petersburg ein. Er ist 34 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Er stammt aus dem westsibirischen Dorf Pokrowskoje, ist groß, mager, hat lange Haare und einen dichten Bart. Seine Augen haben eine hypnotisierende, magnetische Ausstrahlung. Er ist ein geistlicher Autodidakt, kennt die Heilige Schrift und hat schon Pilgerreisen zu vielen Klöstern unternommen. Er war auf dem Berg Athos in Griechenland, in Kiew und auf den Solowetzki-Inseln im Weißen Meer. Geistliche, die er kennenlernte, akzeptierten ihn als "Seher", auch der Beichtvater des Zaren gehörte dazu. Der Schriftsteller Henri Troyat schreibt:
"Er spricht stoßweise, verstümmelt Worte, verknüpft die Sätze nicht, aber sein rednerischer Schwung schlägt selbst Skeptiker in Bann. Manchmal unterbricht er seine Rede, macht ein paar Schritte, stellt sich an ein Fenster und betet."
Krankheit als Staatsgeheimnis
Von dem Mann Gottes heißt es, dass er ein lasterhaftes Leben führe. Bald hat er in Petersburg eine Geliebte, die ihn in die Hofkreise einführt. 1905 lernt er den Zaren und die Zarin kennen. Er nennt sie ungeniert "Batjuschka" und "Matjuschka", "Väterchen" und "Mütterchen". Rasputin erfährt von der Bluterkrankheit des Zarewitsch, des einzigen Sohnes des Paares. Die Krankheit wird als Staatsgeheimnis behandelt, die Gesundheit der Zarenfamilie darf keinen Indiskretionen ausgesetzt werden.
Als der Junge im Oktober 1907 stürzt und sich an seinem Bein ein Ödem bildet, sind die Ärzte machtlos. Die Zarin lässt Rasputin rufen. Er setzt sich ans Bett, betet und blickt das Kind lange mit hypnotisierendem Blick an. Am nächsten Tag geht es ihm besser. Rasputins sagenhafter Aufstieg am Zarenhofe begründet sich durch seinen heilsamen Einfluss auf den Thronfolger. Doch bald kursieren Gerüchte, die ihm ein Verhältnis mit der aus hessischem Adel stammenden Zarin nachsagen.
"Man schalt ihn einen 'Pferdedieb', den 'Sohn eines Zuchthäuslers', einen 'Trunkenbold', 'dreckigen Muschik', 'Verräter', 'Spion', 'Mädchenschänder', 'Hypnotiseur', einen 'tollen Mönch'und einen 'heiligen Teufel'."
Das schrieb Rasputins Tochter Maria.
"In Wirklichkeit war er nichts als ein Prügelknabe für andere, das wäre der einzige passende Spitzname gewesen."
Warnung vor dem Krieg
Auf Weisung des Zaren muss sich Rasputin mehrfach vom Hofe entfernen. Die Minister opponieren, die Hofkamarilla ist zutiefst beunruhigt. Bei erneuten Verletzungen des Zarensohnes wird der Wundermönch wieder gerufen. Im Juni 1914 sticht ihm eine Frau ein Seitengewehr in den Bauch, Rasputin überlebt. Aus dem Krankenhaus warnt er den Zaren vor dem Weltkrieg:
"Lieber Freund ... Ich weiß, dass alle den Krieg von dir wollen, selbst die Treuen, sie wissen nicht, dass es den Untergang bedeutet ... Kummer ohne Ende. Grigorij."
Der Zar lässt mobil machen. Im November 1916 eskaliert der Konflikt um den umstrittenen Propheten schließlich im russischen Parlament, der Duma. Die Schuld für die katastrophalen Niederlagen der Armee im Krieg mit zwei Millionen Toten wird Rasputin angelastet. Ein Mordkomplott wird geschmiedet: Der dandyhafte Fürst Felix Jussupow, ein Verwandter des Zaren, lädt den Gottesmann am 30. Dezember 1916 in sein Palais ein, angeblich, um ihn mit seiner schönen Frau Irina bekannt zu machen. Mitwisser lassen Rasputin warnen, vergeblich.
Die Verschwörer vergifteten Gebäck und Wein mit Zyankali – so schilderte es Jussupow – das Gift wirkte nicht. Dann schoss der Fürst mit dem Revolver auf Rasputin, der Duma-Abgeordnete Purischkewitsch gab vier weitere Schüsse ab. Der leblose Körper Rasputins wurde in die Newa geworfen. Obduktionsergebnisse ließen später vermuten, dass er gefoltert worden sei.
"Aber die Sache ging anders aus, als der Mörder es sich vorgestellt. Die Arbeiter, Bauern, Matrosen machten ihrerseits mit 'denen oben' Schluss."
Das schrieb der deutsche Dichter Klabund in seinem Vorwort zu den Memoiren von Fürst Jussupow.
"Die Ermordung Rasputins gab den Auftakt zur russischen Revolution ... Und er, Fürst Jussupow, hatte die erste Brandfackel in sein eigenes Haus geschleudert."