Eintauchen in den Kosmos der Brüder Grimm
Zur Eröffnung können sich die Kasseler glücklich schätzen, dass sie den Bau der Grimmwelt nicht verhindert haben. Denn die Ausstellung zum vielschichtigen Werk der Grimms ist ein neues Glanzstück in der Museumslandschaft der Stadt − architektonisch wie konzeptionell.
Wie bringt man die heterogenen Welten des "Kosmos Grimm" so zusammen, dass das berühmte Brüderpaar Jacob und Wilhelm weder auf muntere Märchenonkels noch auf besessen-spleenige Wörtersammler oder gar sakralisierte Mitbegründer der Germanistik reduziert werden? Wie schafft man es, ein Museum für ein möglichst großes Publikum so zu gestalten, dass künstlerische Auseinandersetzung mit den Grimms auf documenta-Niveau mit einem kleinen Märchenwald für Kinder oder den unvermeidlichen Vitrinen mit den zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehörenden Original-Handexemplaren der Kinder-und Hausmärchen harmonieren?
Die Antwort ist einfach: Man muss es so überzeugend gestalten, wie es die Kuratorinnen der Dauerausstellung in der neuen Grimmwelt Kassel jetzt getan haben. Nicola Lepp, eine der Ausstellungsmacherinnen:
"Die Grimmwelt steigt ein mit einem Bereich über die Produktionsbedingungen der Grimmschen Werke. Die Grimms waren Sammler, sie haben nicht nur Märchen gesammelt, sie haben Wörter gesammelt, sie haben Rätsel gesammelt."
Vielschichtige Sammelleidenschaft der Gebrüder
Diese vielschichtigen Sammelleidenschaft gliedert sich in der neuen Kasseler Ausstellung in drei Bereiche, die zwar räumlich getrennt aber immer mit Kunstobjekten verbunden sind: die wissenschaftliche Sprachforschung, die gesammelten Kinder-und Hausmärchen sowie das – zum Teil sehr politische Leben -der Brüder Grimm.
Abgedunkelt und geheimnisvoll gehalten ist zunächst der Ausstellungsbereich, in dem es um das opulente "Deutsche Wörterbuch" der Grimms geht. Neonweißleuchtende Buchstaben an den Wänden wirken wie Straßenlaternen, an denen man sich in den labyrinthischen Gängen orientieren kann. Die Neon-Schriftzeichen markieren Eingänge in Kammern, in denen die Zettel an den Wänden kleben, auf denen Jacob und Wilhelm Grimm ihre unzähligen Quellen zu Wörter-Fundstücken vermerkt haben. Sie locken in dunkle Ecken, in denen das Licht lediglich aus Dioramen kommt.
Dioramen waren eine beliebte Ausstellungstechnik im 19. Jahrhundert, also zu Zeiten der Brüder Grimm. Es sind beleuchtete Aquarien ohne Wasser, in denen mit ausgestopften Tieren oder Wachsfiguren Szenen nachgestellt wurden. In der Kasseler Ausstellung hat nun der Künstler Alexey Tchernyi mit wirklich märchenhaften Papierarbeiten 14 Szenen dargestellt, die etwas über die Geschichte des "Deutschen Wörterbuches" erzählen: Etwa die Fantasie-Szene mit jubelnden Bürgern auf der Straße, als Mitte des Jahrhunderts das Buchprojekt endlich eine staatliche Förderung durch Preußen bekommt.
Leuchtende Dioramen als Highlight
Tchernyis weißleuchtende Dioramen sind ein absolutes Highlight der Ausstellung:
"Das Projekt hat gedauert so eineinhalb Jahre. In mein Atelier habe ich mich eingesperrt so ab Oktober 2015 – elf Monate."
Die leuchtenden Buchstaben weisen den Weg weiter zum zweiten, "märchenhaften" Teil der Ausstellung. Eine pazifistisch gewendete "Märchenbombe" von Anders Lutz und Andres Guggisberg ist dort eine raumgreifende Skulptur aus Beton und Mörtel. Die Bombe ist der Mitte zerbrochen, aus dem inneren purzeln Zwerge, Däumlinge oder Mischwesen aus Staubsaugern und Krokodilen.
Sie verkörpern den Wörterbucheintrag "Kleinwesen" - auch "Lemma" genannt. Kuratorin Nicola Lepp:
"Dieses Lemma lag uns sehr am Herzen, weil sich die Grimms in ihren Forschungen auch immer sehr für das Nebensächliche interessiert haben. Teilweise wurde ihnen auch von Zeitgenossen ihre 'Andacht zum Unbedeutenden' vorgeworfen."
Eine Holzwurzel-Arbeit von Ai Weiwei
Diese "Andacht zum Unbedeutenden" bietet vielfältige spielerische Möglichkeiten, die die Ausstellungsmacherinnen nutzen- manchmal geht das an die Kitsch-Grenze, wie bei Plastik-Märchenwald. Doch auch auf Kunst muss man nicht verzichten. Etwa auf die wie eine Satire auf die deutsche Wald-Verliebtheit daherkommenden, farbentrunkenen Holzwurzel-Arbeit von Ai Weiwei.
Ein weiterer Star der Grimmwelt Kassel ist das Gebäude selbst – ein Neubau. Er schmiegt sich harmonisch an den sogenannten "Weinberg" in Kassel an, einem alten Parkgelände, in dem früher eine Industriellenvilla stand. Über Tag und Nacht zugängliche Treppen kann man auf das riesige Flachdach des Gebäudes gelangen, das einen grandiosen Blick über Kassel und die umliegenden Mittelgebirge bietet. Architekt Gerhard Wittfeld:
"Das Haus wird eigentlich als eine Skulptur, eine Fortsetzung des Landschaftsraums wahrgenommen. Die zweite Dimension ist, dass an dem Ort, an dem früher eine bürgerliche Villa wahrt, die sich dann zu einem kleinen Park entwickelt hat, dass das auch ein Ort der Demokratie ist, das heißt, man nimmt keine Fläche weg, sondern diese Terrasse, dieses Haus ist für alle da. Für alle Bürger."
Klappt die Versöhnung mit den Kasselern?
Mit dieser Demokratisierung eines früher privatisierten Raumes werden die Kasseler wohl nun endgültig mit dem Museumsneubau versöhnt sein. Auch diejenigen, die ihn erst nicht haben wollten.
Die Grimmwelt Kassel ist Gesamtkunstwerk aus Buchstaben und Wörtern, aus wohl gesetzten Steinen und weiten Blicken, aus moderner Kunst und Reminiszenzen an archaische Mythen. Ein gelungenes Einfallstor in den "Kosmos Grimm" – der ja vor allem aus Büchern besteht. Aus Märchenbüchern oder Wörterbüchern. Zu denen muss man letztlich greifen, um dann noch tiefer in die Grimmwelt einzutauchen