Das war eigentlich das bestimmende Gefühl des Aufwachsens in dieser Stadt. Es war eine große Baustelle – überall Baugruben, Kräne, nichts fertig. Und unsere Eltern waren damit beschäftigt, sich zu qualifizieren für die ‘Schwarze Pumpe‘ – dieses weltgrößte Kohle-verarbeitende Kraftwerk – da mussten die erstmal für ausgebildet werden. So war man als Kind schon relativ frei und unbeaufsichtigt und ist über die Baustellen gestromert in großen Gruppen.
Dokumentarfilmerin und Autorin Grit Lemke
Gefühl von Freiheit: die Autorin Grit Lemke. © Rico Hofmann
"Realität ist mein Stoff, aus dem ich alles schöpfe“
35:50 Minuten
Ihr Film “Gundermann Revier“ wurde 2020 für den Grimme-Preis nominiert. Grit Lemke, geboren in der Lausitz, wuchs in Hoyerswerda auf. Im Roman “Kinder von Hoy“ erzählt sie vom Leben in der sozialistischen Vorzeigestadt – als Chronistin ihrer Generation.
Hoyerswerda in Sachsen sorgte im Herbst 1991 weltweit für Schlagzeilen – in der einstigen sozialistischen Vorzeigestadt kam es zu rassistischen Übergriffen auf Wohnheime von DDR-Vertragsarbeitern und Asylbewerbern.
Grit Lemke beschreibt das Entsetzen über diese Vorfälle in ihrem dokumentarischen Roman “Kinder von Hoy“. Doch sie erzählt nicht nur von den Abgründen – sie zeigt auch andere, unbekannte Seiten der einstigen DDR-Bergbaustadt.
Stromern über Baustellen
Für den Roman hat die Autorin viele Zeitzeugen in Hoyerswerda interviewt und verwebt ihre Geschichten zu einem facettenreichen Bild. Überraschenderweise, sagt Grit Lemke, hätten fast alle Befragten ihre Kindheit in Hoyerswerda als eine “Zeit der Freiheit“ empfunden.
Tatenlose Bohème
Dieses Gefühl von Freiheit prägte auch Grit Lemkes eigene Jugend in Hoyerswerda. In der sozialistischen Bergarbeiterstadt hatte sich eine einzigartige Kultur- und Kunstszene um den “singenden Baggerführer“ Gerhard Gundermann gebildet.
Eine Art "proletarische Bohème“, die allerdings nicht in der Lage gewesen sei, rechter Gewalt die Stirn zu bieten, sagt Lemke. Als 1991 ein fremdenfeindlicher Mob Steine und Brandsätze auf Wohnheime von DDR-Vertragsarbeitern und Asylsuchenden schleuderte, habe die Mehrheit der Bürger von Hoyerswerda dies unfassbar gefunden:
“So wie wir auch. Wir haben in unserem Club gesessen, haben uns mit Joseph Beuys beschäftigt und 200 Meter entfernt stand der Mob. Und ich kann nur sagen, wir alle fühlten eine lähmende Angst. Dann kreisten Hubschrauber über der Stadt – aber das alles hat nicht zu irgendeiner Art von Handlungsfähigkeit geführt. Denn es gab überhaupt keine zivilgesellschaftlichen Strukturen.“
Das verdrängte Pogrom
Bei ihren späteren Interviews mit den Bewohnern von Hoyerswerda war Grit Lemke überrascht, wie sehr viele die Vorfälle von 1991 verdrängten: “Das war 30 Jahre lang Tabu – auch in der eigenen Erinnerung. Das haben die Leute ganz nach hinten gepackt. Wo es wehtut, hinzugucken. Warum hat uns 30 Jahre lang nicht interessiert, wie das für die Opfer war?“
Nach der Wende wurde die “Schwarze Pumpe“ zerschlagen, es folgten Arbeitslosigkeit und der Verlust “jeglicher Struktur“ für die Menschen. Doch dass Hoyerswerda – eine Stadt, in der es eine starke, solidarische Gemeinschaft gab – derart moralisch implodieren konnte, habe sie komplett überrumpelt, gesteht Lemke:
“Wir lebten wie in einem großen Kollektiv. Und es war überhaupt nicht kulturlos – es gab Kultur an jeder Ecke. Und dann passiert so was. Ich kann es nicht bis ins Letzte erklären – es muss ein Rest Unerklärbarkeit bleiben.“
Kind einer typischen Lausitzer Familie
Grit Lemke wurde 1965 in Spremberg in der Niederlausitz geboren. Sie stammt aus einer Familie von Land- und Bergarbeitern: “Als ich zur Welt kam, lebten vier Generationen in einem superkleinen Häuschen mit vielen Kindern. Es muss furchtbar eng gewesen sein – das war eine ganz typische Lausitzer Familie.“
In der Familie spielte die eigene sorbische Identität keine Rolle. Erst als Erwachsene seien ihr ihre sorbischen Wurzeln bewusst geworden, berichtet Lemke:
“Das ist generell ein Problem, wenn man in der Lausitz aufwächst. Die Lausitz ist ja per se ein zweisprachiges Gebiet, doch diese Zweisprachigkeit wurde so gut wie eliminiert. Denn die Sorben wurden auf brutalste Weise germanisiert. “
Heute spielen Sprache und Kultur ihrer Lausitzer Heimat eine wichtige Rolle in den Büchern und Filmen der studierten Ethnologin.
Über Umwege zum Film
Zum Film kam Grit Lemke über Umwege. Nach dem Abitur macht sie zunächst eine Ausbildung zum “Baufacharbeiter“ und arbeitete dann im Kulturhaus des Gaskombinats "Schwarze Pumpe".
“Dann durfte ich irgendwann endlich studieren in Leipzig. Und dort ist ja die Dok-Filmwoche, das Dokumentarfilmfestival. Und nachdem ich dort den ersten Film gesehen hatte, wusste ich: Dieses dokumentarische Erzählen ist genau das, was mich interessiert. Ich gucke mir lieber einen schlechten Dokumentarfilm an als einen fiktionalen Film. Realität ist mein Stoff, aus dem ich alles schöpfe.“
(tif)