Jörg Himmelreich lehrt Geschichte an dem Berliner Campus der ESCP ("École Supérieure de Commerce à Paris").
Neustart für Europa
Der SPD-Sonderparteitag am Sonntag stimmt darüber ab: Wird die GroKo verhandelt, ja oder nein? Es wird zugleich ein Votum für oder gegen einen politischen Neustart in der EU sein, glaubt Jörg Himmelreich.
Ein Neustart für Europa – das ist nach dem Sondierungspapier von CDU und SPD eines der vorrangigen Ziele einer Großen Koalition. Endlich haben die beiden Parteien die historische Chance für einen dringend notwendigen Neuaufbruch für Europa erkannt, die sich mit dem neuen französischen Präsident bietet.
Erstmals seit Mitterand führt mit Macron wieder ein Präsident in Frankreich die Regierung, der sich die Reform Europas ernsthaft auf die Fahne geschrieben hat. Dafür wurde er sogar gewählt.
Kein Ruf nach "Vereinigten Staaten von Europa"
Zwar meinte Martin Schulz Macron mit einer bis zum Jahr 2025 umzusetzenden Vision von den "Vereinigten Staaten von Europa" noch übertreffen zu müssen. Solche marktschreierischen politischen Utopien finden sich vernünftigerweise in dem Papier nicht wieder.
Denn irreale politische Forderungen, die sich gar nicht umsetzen lassen, bewirken beim später enttäuschten Wähler nur das Gegenteil des ursprünglich Gewollten: nämlich eine Ablehnung jeden europäischen Integrationsfortschritts und einen irreparablen Verlust an Glaubwürdigkeit der Politik.
Vielmehr beschränken sich SPD und Union auf wichtige allgemeine politische Grundsätze und einige konkrete realisierbare Vorhaben. Es geht ihnen darum, die EU finanziell und durch weitere Befugnisse des Parlaments institutionell zu stärken, das gilt auch für eine engere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Europäische Verteidigung und gemeinsames Asylsystem
Außerdem nehmen SPD und CDU ausdrücklich die Vorschläge Macrons für eine engere europäische Verteidigungskooperation auf. Denn nach der französischen Ablehnung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 wäre diese Kooperation ein wirklicher Neustart.
Schließlich fordern sie in der Zuwanderungspolitik ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Auch das ist ein dringend erforderliches Novum in der EU.
Auch manch unscheinbares Detail verbirgt substantielle Politikänderungen, zum Beispiel durch Angleichung der Unternehmenssteuern Steuerlöcher in der EU zu schließen.
Im Übrigen ziehen SPD und Union realistische Lehren aus bisherigen EU-Fehlentwicklungen. Sie beabsichtigen "missbräuchliche Zuwanderung in die Systeme der sozialen Sicherheit" zu unterbinden und heben wieder das Subsidiaritätsprinzips hervor, nach dem lokale Probleme auch auf lokaler Ebene gelöst werden sollen.
Die Weltlage verlangt ein starkes Europa
Das Sondierungspapier als bloßes "Weiter so!" in der Europa-Politik abzutun, verbietet sich daher. Man muss sich außerdem nur vor Augen führen: Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind nach dem Ausfall der USA unter Trump und einem weltweiten Trend zur Autokratie die letzte Bastion, in der Menschenrechte, parlamentarische Demokratie und praktizierter Rechtsstaat bei allen Mängeln so gewährleistet werden.
Auch die Herausforderungen der Globalisierung und der digitalen Revolution kann die EU nur gemeinschaftlich bewältigen, mit einem starken deutsch-französischen Motor.
Historische Chance in den Händen der SPD
Natürlich kann dieses Sondierungs-Papier nur ein Kompromiss sein. Insgesamt skizziert es jedoch einen Rahmen, der einer künftigen Großen Koalition ermöglicht, das Angebot Macrons anzunehmen und Europa durch realistische Reformen zukunftsfest zu machen. Das ist eine historische Chance.
Auf dem SPD-Sonderparteitag am kommenden Sonntag stimmen ihre 600 Delegierten daher nicht nur über das Sondierungspapier ab. Nicht nur über ihren Vorsitzenden und nicht nur über die Zukunft der SPD. Sondern vor allem über eine handlungsfähige zukünftige Bundesregierung und über einen überfälligen deutsch-französischen Neustart für ein gestärktes Europa.