Großartiges Märchenbuch für Erwachsene

Nein, nein, es ist nur eine Legende. Die Brüder Grimm zogen nicht über Land, um in Bauernstuben die alten Volkserzählungen für ihr Märchen-Projekt zu sammeln. Die wahre Geschichte geht anders: Jacob und Wilhelm schalteten Anzeigen oder bekamen die Texte per Post.
Die Märchenstunde ist vorbei. Zumindest wird hier aufgeräumt mit der selbst ziemlich legendenhaften Vorstellung von den Brüdern Grimm, die über Land zogen, um sich in urigen Bauernstuben von alten Frauen am Spinnrad Märchen erzählen zu lassen.

Ganz so romantisch ging es nicht zu. Im Prachtband "Es war einmal" rekonstruiert der renommierte Grimm-Forscher Heinz Rölleke die wirkliche Entstehungsgeschichte. Die Brüder Grimm schalteten Anzeigen, und die Märchen wurden ihnen von den Beiträgern meist zugesandt, oder aber die Brüder empfingen die Erzähler bei sich zuhause in Kassel.

Viele Mitarbeiter waren jung, kamen aus bürgerlichen oder adligen Kreisen wie Ludowine von Haxthausen und Jenny von Droste-Hülshoff, die Schwester der Dichterin. Der Maler Philipp Otto Runge steuerte das berühmte Märchen "Von den Fischer und siine Fru" bei – sein malerisches Ingenium schlägt sich nieder im Farbenspiel des immer aufbrausenderen Meeres.

Bei aller philologischen Genauigkeit haben die Grimms die "Erzähler" der ihnen mündlich oder handschriftlich zugetragenen Märchen verschwiegen und stattdessen nur vage Angaben gemacht: "aus Hessen", "aus den Maingegenden", "aus dem Paderbörnischen". So wurde die regionale Verwurzelung in einer kollektiven Märchenseele suggeriert. "In diesen Volks-Märchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren gehalten" – so hieß es in der ersten Auflage.

Die wichtigste Erzählerin, Dorothea Viehmann, von den Grimms als alte Bauers- und "Märchenfrau" vorgestellt und zur Verkörperung des anonymen "Volksgeistes" stilisiert, war in Wahrheit die Witwe eines Schneiders und erzählte die Märchen bei ihren regelmäßigen Besuchen in Kassel. Zudem hatte sie hugenottisch-französische Vorfahren, weshalb in ihren Texten statt des "ächt Hessischen" öfters alte französische Märchentraditionen durchscheinen.

Noch größer ist dieser Einfluss in den Beiträgen von Marie Hassenpflug, in deren Elternhaus ausschließlich französisch gesprochen wurde – eigentlich eine Durchkreuzung des großen nationalpoetischen Märchenprojekts. Als den Grimms diese Zusammenhänge klarer wurden, sortierten sie einige Beiträge Hassenpflugs wieder aus, darunter ihre hinreißend erzählte Fassung des "Gestiefelten Katers", die hier nun wieder zu lesen ist.

Die Grimms versprachen den Mitarbeitern die namentliche Nennung im Buch. Das wird 200 Jahre später nun nachgetragen. 25 wichtige Beiträge werden vorgestellt in Wort und Bild - die Illustrationen von Albrecht Schindehütte sind dabei eine Augenweide. Ihre "Erzählerprofile" werden umrissen. Dann folgen ihre Märchen in den weniger geglätteten, weniger ausgefeilten Urfassungen, ergänzt durch Anmerkungen, die interessante Aufschlüsse zur Entstehung, Stoffgeschichte sowie den Varianten und Überarbeitungen bieten. Da erfährt man zum Beispiel, dass in "Herr Korbes", wo die herkömmliche Märchenlogik - die Bösen kriegen ihre Strafe - herrlich auf den Kopf gestellt wird. Die lakonische Schlusspointe über den heimgesuchten Herrn Korbes erst in späteren Auflagen hinzugefügt wurde, um die Irritationen der Leser zu beseitigen: "Der Herr Korbes muss ein recht böser Mann gewesen sein."

"Die wahren Märchen der Brüder Grimm" – der Untertitel dieses großartigen Märchenbuches für Erwachsene, in dem man viele der weniger bekannte Märchen (wieder)entdecken kann, ist ein wenig sensationsheischend, als hätten die späteren Überarbeitungen nun kein Recht mehr. Auch sie haben aber ihre Reize, wie "Herr Korbes" zeigt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Heinz Rölleke (Hg.): Es war einmal - Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte
Illustriert von Albert Schindehütte
Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011
480 Seiten, 79,00 Euro

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