Großbritannien

Eine Verfassung gegen die Identitätskrise

Die britische Königin Elizabeth II.
Soll es weiter eine Monarchie geben? Auch das soll die Verfassung regeln. © dpa / picture alliance / Facundo Arrizabalaga
Von Jochen Spengler |
Schottland, Wales und Nordirland verlangen immer mehr Eigenrechte, die Sparpolitik ist umstritten und die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer: Großbritannien scheint in einer Identitätskrise zu stecken. Manche Briten sehen eine Verfassung als Lösung - die gibt es bislang nicht.
Der Startschuss für das Projekt Verfassung fällt im Sommer letzten Jahres. Die renommierte LSE, die Londoner Hochschule für Economics, lädt zu einem bunten "constitutional carnival". Und Studenten, Bürger und Prominente zählen auf, was sie sich wünschen.
"Wir haben Menschenrechte, aber in eine Verfassung gehören auch Tierrechte."
"Gleichheit, aber nicht generell, sondern Chancengleichheit."
"Macht in die Regionen, um Regierende näher ans Volk zu bringen!"
Hauptinitiator des Verfassungsprojekts ist Professor Conor Gearty, Direktor des LSE-Instituts für öffentliche Angelegenheiten. Er wendet sich im Internet an den ganz normalen Briten:
"Das Vereinigte Königreich hat keine Verfassung. Keine formellen Regeln, die festlegen, wie hier regiert wird. Das wollen wir ändern. Mit Ihrer Hilfe. Was sollte in einer Verfassung stehen: Sollten wir einen Monarchen haben? Was ist mit dem Oberhaus - ist es sinnvoll? Natürlich müssen wir über Schottland nachdenken, über Wales und Nordirland. Das ist hier kein London-basiertes, akademisches Metropolenprojekt, es ist nicht unser Projekt, sondern Ihres."
Die Verfassung im Hörsaal schreiben
In einer ersten Phase verständigen sich im Herbst per Abstimmung mehrere hundert Bürger auf fünf prinzipielle Werte, die einer britischen Verfassung zugrunde liegen sollten: Achtung vor dem Individuum, Vielfalt, Freiheit, Subsidiarität und Sicherheit. Ende letzter Woche startet Conor Gearty die nächste Phase des Projekts. Mehrere Dutzend Interessierte haben sich im Thai-Hörsaals der LSE versammelt - nicht nur Studenten und Akademiker. Ian etwa ist der Vizechef der Britischen Monarchisten-Liga, der für die Beibehaltung des Königshauses wirbt:
"History, Tradition and the wishes of the people ..."
Wegen der Geschichte, der Tradition und weil das Volk es so wolle. Derweil tigert LSE-Professor Gearty durch die Mitte des Hörsaals:
"Wir beginnen nun mit Phase zwei. Sie sind die Versuchskaninchen. Ich erwarte von Ihnen allen, die ersten Artikel der Verfassung zu schaffen."
Conor Gearty teilt jeden Anwesenden in eine von fünf Gruppen ein. Jede Gruppe hat 20 Minuten Zeit, einen konkreten Textvorschlag zu einem der fünf Verfassungswerte zu erarbeiten. Die Atmosphäre ist zielorientiert und zugleich locker. In den Ecken des Saals wird argumentiert und formuliert. Dann das Ergebnis. Andrew trägt den Vorschlag seiner Gruppe zum Wert "Vielfalt" vor:
"Was uns einzigartig als Individuen macht, das macht uns stark als Land. Unterschiede müssen geschätzt und respektiert werden mit dem Ziel gegenseitigen Verstehens."
Verfassungskonvent soll Klarheit bringen
Er sei in Tränen aufgelöst und liege auf den Knien vor dem neuen Thomas Jefferson, lobt der Professor verzückt. In der sich anschließenden Abstimmung sind 16 Anwesende für den Text, aber: Ebenfalls 16 sind dagegen. Unentschieden und so wird der deutsche Korrespondent, der sich eigentlich heraushalten will, zur Stimmabgabe gedrängt .
"Ich bin dafür."
"17 zu 16 - und es ist typisch- die Deutschen entscheiden, was in die Verfassung kommt. Wie im Fußball, wie in der Europäischen Verfassung, bei der Sparpolitik - alle machen mit und die Deutschen gewinnen. Okay, das war jetzt nicht gerade das Lob der Vielfalt, aber ich konnte einfach nicht widerstehen."
Alle mit Mehrheit angenommenen Passagen werden auf der Webseite constitutionuk.com veröffentlicht, wo es unbescheiden heißt: "Decide the future of the UK". Beim Crowdsourcing kann jeder per Internet mitreden. Ein Verfassungskonvent im März soll endgültig über einen Text abstimmen, rechtzeitig vor dem Magna-Charta-Jubiliäum im Juni.
"Es ist offen, die Arbeitshypothese lautet: Wir erarbeiten ein Dokument. Vielleicht haben wir eine dramatische Schlussabstimmung, in der die Menschen entscheiden, ob sie das Dokument, das sie entworfen haben, als Verfassung vorschlagen oder in den Papierkorb werfen."
Denn - so sagt Conor Gearty - es gehe weniger um die constitution selbst als um einen Bewusstwerdungsprozess in einem verunsicherten Land, das längst nicht mehr die Weltmeere regiere.
"Es braucht eine Debatte darüber, welche Art Land es eigentlich ist. Und welche Strukturen diesem Land am besten dienen. Ich bin überzeugt, dass wir eine solche Debatte benötigen."
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