Gegen Flüchtlingsquote und für EU-Reform
Die EU-Kommission will ein neues Konzept zum Umgang mit Flüchtlingen vorstellen. London will die Regeln ändern, aber die EU-Partner sind der Auffassung, dass verankerte Prinzipien nicht verhandelt werden können - jetzt beginnt die Suche nach Kompromissen mit dem britischen Premier Cameron.
Notfalls, so raunt es in London, werde man die "nukleare Option" wählen. Was gefährlich klingt, bedeutet, dass sich Großbritannien ganz aus der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit in der EU ausklinken könnte. Dann nämlich, wenn tatsächlich ein Quotensystem zur Aufnahme von Flüchtlingen in der EU gegen den britischen Willen eingeführt werden sollte.
"Wir waren immer ein sehr tolerantes Land gegenüber Asylsuchenden und wir haben unseren fairen Anteil von Einwanderern in der Vergangenheit übernommen. Wir haben viele Jobs geschaffen und hatten eine hohe Einwanderung aus der EU wegen des Prinzips der Bewegungsfreiheit."
Sagt John Baron, Tory-Abgeordneter im britischen Unterhaus, der wie die meisten Briten keinen Unterschied macht zwischen Asylbewerbern oder Immigranten. Großbritannien sei natürlich dabei, wenn es darum gehe, das Elend materiell in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu bekämpfen oder die Schlepperbanden im Mittelmeer militärisch:
"Wir müssen uns dieser Diskussion stellen und fragen, wie denn die langfristige Lösung des Flüchtlingsdramas aussehen soll und was können kurzfristig andere Länder tun?"
Tatsächlich ist kaum ein anderes Land in Europa so multikulturell und tolerant wie Großbritannien – und so attraktiv. Premierminister David Cameron hatte eine jährliche Nettoeinwanderung von 100.000 versprochen; in Wirklichkeit kamen im letzten Jahr 300.000 Immigranten und 30.000 Asylbewerber, was Schulen, den Wohnungsmarkt und das Gesundheitswesen belastet.
Dass nicht mehr jedes EU-Land selbst entscheiden soll, wie viele Flüchtlinge es aufnehmen will, sondern künftig Brüssel Großbritannien dazu verdonnern könnte, mit 60.000 Flüchtlingen doppelt so viele bis bislang aufzunehmen, das ist in London politisch weder vermittelbar noch durchsetzbar.
Zwar besitzen die Briten kein Vetorecht gegen den Kommissionsvorschlag, wohl aber die Option des Opt-Outs aus der innenpolitischen Zusammenarbeit, die den Briten 1997 in einem Protokoll zum Amsterdamer Vertrag zugestanden wurde. Sollten sie sich am Ende darauf berufen, hätte dies negative Folgen für das gesamte europäische Flüchtlingssystem und es würde die Verhandlungen Großbritanniens über eine Reform der EU belasten. Mit denen möchte Premierminister David Cameron unverzüglich beginnen:
"Das erste ist die Neuverhandlungen in Gang zu setzen, das soll schnell geschehen und ich habe bereits einige europäische Regierungschefs angerufen. Und dann kommt unser Referendum bis Ende 2017 und ich bin zuversichtlich, das richtige Ergebnis zu erzielen."
Osborne will "entschlossen und fest" verhandeln
Die Federführung für die Verhandlungen hat Cameron seinem wichtigsten Vertrauten, Finanzminister George Osborne, übertragen und der erklärte gestern in Brüssel:
"Wir haben jetzt ein klares Mandat, um das Verhältnis Großbritanniens zur EU zu verbessern und die EU zu reformieren, sodass sie Arbeitsplätze schafft und den Lebensstandard für all ihre Bürger erhöht. Und niemand sollte Zweifel haben, dass wir das Referendum über die britische Mitgliedschaft in der EU abhalten werden. Wir gehen konstruktiv und engagiert in die Verhandlungen, aber ebenso entschlossen und fest, und niemand sollte unseren Willen zum Erfolg unterschätzen."
Ganz oben auf der Wunschliste: die nationalen Parlamente sollen EU-Gesetze leichter blockieren können; Sozialleistungen für EU-Einwanderer sollen eingeschränkt werden. Außerdem möchte Großbritannien nicht Teil einer immer engeren politischen Union sein.
Sollten die Verhandlungen rasch voranschreiten, dann könnte die Volksabstimmung über Großbritanniens Verbleib in der EU möglicherweise schon ins Jahr 2016 vorgezogen werden, deutlich vor den Wahlen in Frankreich und Deutschland 2017. Je früher, desto besser. Das meint vor allem die britische Wirtschaft, deren Haltung sei eindeutig, so sagt Mark Boliard von CityUK, der Interessenvertretung des Londoner Finanzzentrums:
"Großbritannien muss innerhalb der Europäischen Union bleiben. Es gibt dazu keine realistische Alternative. Das denkt nicht nur die Großindustrie, sondern es gab auch bei den kleineren Unternehmen einen bemerkenswerten Stimmungsumschwung zugunsten der EU-Mitgliedschaft. Wir drohen nicht mit Abwanderung, aber wenn wir nicht mehr im Binnenmarkt wären, müssten wir die Geschäfte, die wir jetzt hier betreiben, woanders tätigen."
Doch soweit ist es noch nicht. Die EU-Kollegen wissen, dass Camerons Position nach dem Wahlsieg gestärkt ist und er noch selbstbewusster auf dem EU-Parkett in Brüssel auftreten dürfte. Andererseits aber zeigt die kritische Haltung der britischen Wirtschaft, dass auch Cameron an Kompromissen gelegen sein muss.