Großbritannien im Brexit-Alltag

Trauer, Wut und Jubel

31:35 Minuten
Der britische Botschafter bei der EU Tim Barrow, rechts, schaut zu, nachdem Premierminister Boris Johnson das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien unterzeichnet.
Er zeigt sich zufrieden: Regierungschef Boris Johnson bei der Unterzeichnung des Handelsabkommens mit der EU in London. © picture alliance / AP / Leon Neal
Von Natalie Klinger und Burkhard Birke |
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Die Briten sind raus aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Nun haben sie mehr Bürokratie und weniger Freizügigkeit. Rentner mit einem Haus in der EU stöhnen. Fischer sind sauer über kaum gestiegene Fangquoten. Und die Schotten wollen weg.
"Es ist ein wunderbarer Moment", jubelte der britische Premierminister Boris Johnson nachdem der Brexit zum Jahreswechsel vollendet wurde. Lange hatten der einstige Anführer der "Leave"-Kampagne mit der EU nicht zuletzt über das Thema Fischerei verhandelt. Das Ergebnis im Handelsvertrag sei für die britischen Fischer eine Enttäuschung, sagt Paul Gilson. Seit fünf Jahrzehnten fährt der heute 67-Jährige mit seinem Boot hinaus. An der englischen Ostküste - in Leigh-on-Sea, wo die Themse in die Nordsee mündet.
"Meine Familie fischt schon seit mehr als 200 Jahren", erzählt er. "Mir war einfach klar, dass ich auch Fischer werden wollte. Es ist mehr als nur ein Job. Man akzeptiert, dass man manchmal auch kein Geld verdient. Fischen ist aufregend. Wenige andere Berufe machen so viel Spaß und geben einem das Gefühl, etwas zu erreichen. Ich sehe die Sonne aufgehen und die Sterne in der Nacht. Auf See beobachte ich Wale, Schweinswale und Robben – ich kannte sogar mal eine Robbe, die auf mich gehört und mir aus der Hand gefressen hat. Sowas erlebt man nicht in einem Büro."

Brexit-Votum sollte Fischer von EU-Regeln lösen

Weil er für seinen Beruf als Fischer brennt, stimmte Paul Gilson beim Referendum 2016 für den Brexit. Er hoffte, die Briten könnten sich von den Fangquoten und Fischereiregeln lossagen, die alle EU-Staaten miteinander vereinbaren. Die würden seine Arbeit erschweren, findet er:
"Ein paar dieser Vorschriften sind einfach völlig bescheuert. Es gibt etwa kein Netz, das Kabeljau durchlassen würde. Als wir vor ein paar Jahren im Ärmelkanal viel Kabeljau hatten, mussten wir ihn wegwerfen, weil wir über unserer Fangquote lagen. Das ist einfach schrecklich – unnötig Fische zu töten."
Gilson war so optimistisch, dass er nach dem Brexit wieder mehr Fisch fangen dürfte, dass er ein neues Boot anfertigen ließ. Er nannte es Jolia, eine Kombination aus den Namen seiner beiden Töchter, Joanna und Julia.
Heute – nachdem klar ist, wie der Handelsvertrag zwischen den Briten und der EU aussieht, ist Paul Gilson ernüchtert. Die EU muss nur ein Viertel ihrer Fangquoten an Großbritannien zurückgeben, gestaffelt über fünfeinhalb Jahre – anstatt der 80 Prozent, die von Fischereiverbänden gefordert wurden.
"Das Ergebnis der Verhandlungen über die Fischereirechte hat mich bitter enttäuscht", sagt er. "Die Menge, die wir jetzt mehr an Fisch fangen können, ist so groß wie der Unterschied zwischen einem 99-Cent und einem 1-Euro-Laden. Im Ärmelkanal sind es vier Prozent mehr Seezunge, bei mir in der Gegend sogar nur ein Prozent. 20, 30, 40 Prozent, das würde etwas bewirken."

Wurden die Fischer als Druckmittel genutzt?

Paul Gilson sucht die Verantwortung bei der britischen Regierung.
"Mein Optimismus wurde von der Regierung angefacht. Für mich steht fest, dass sie die Zugeständnisse bei den Fischereirechten als Druckmittel genutzt hat, um mit der EU den besten Deal auszuhandeln. Alle haben sich Sorgen um Zölle gemacht, die gibt es nun nicht. Ich glaube, dass unsere Fischereiforderungen dafür geopfert wurden.
In allen Medien, auch in Europa, hat man schottische und englische Fischer gesehen, die erzählt haben, was sich alles für sie ändern wird mit dem Brexit. Sie haben wiederholt, was die britische Regierung uns erzählt hat. Das Fischereiwesen macht im Vergleich zu anderen Branchen wesentlich weniger Umsatz. Aber es hat viel Symbolkraft.
Wir sind die letzten Jäger, und es hat einfach etwas sehr Romantisches, irgendwo an der Küste in einem Bed und Breakfast zu sitzen und ein Fischerboot aufs Meer hinausfahren zu sehen. Das zieht Leute an. Sie lieben es, uns zuzuschauen, selbst den Gestank unten am Hafen, das erzeugt eine gewisse Atmosphäre. Und das ist Teil unserer Kultur. Ich wünsche mir eine Zukunft für junge Fischer. Aber mit dem Vertrag, den wir ausgehandelt haben, sehe ich keine."

Kein Nachwuchs für unattraktiven Job als Fischer

Paul Gilson selbst steht kurz vor dem Ruhestand. Von den einst zehn Mitarbeitern in seinem Familienunternehmen fährt derzeit keiner mehr aufs Meer hinaus:
"Die meisten sind in Rente oder gestorben und die Jungen wollen diese Arbeit nicht mehr machen. Und ich würde ihnen das auch nicht empfehlen. Als wildes Leben ist es wundervoll, als Broterwerb unter diesen Bedingungen leider nicht, besonders hier im Südosten."
Auch sein neues Boot Jolia wird somit den Hafen nicht mehr verlassen.
"Ich habe mich auf einer Webseite umgeschaut, die Fischerboote verkauft", erzählt er. "Ich werde wohl mein neues Boot dort einstellen. Für mich gibt es hier vor Ort keine Zukunft."

Schotten wollen mehrheitlich in der EU bleiben

Ihre Zukunft sieht die Mehrheit der Schotten in der Europäischen Union. Das war schon beim Brexit-Referendum 2016 so und wird durch den tatsächlichen Austritt aus der EU nun noch verstärkt.
Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon will bei der Wahl im Mai wieder mit ihrer Scottish National Party die absolute Mehrheit im schottischen Regionalparlament holen und so Druck ausüben auf Premierminister Johnson, ein Unabhängigkeitsreferendum zuzulassen. Notfalls mit dem Gang vor das Oberste Gericht des Vereinigten Königreichs.
Das Gebäude der EU-Kommission in Brüssel mit der Leuchtschrift "Europa loves Scotland"
Nicola Sturgeon twitterte am Neujahrstag "Lasst das Licht an!" und bezog sich auf die Leuchtschrift "Europe loves Scotland", die auf das Gebäude der EU-Kommission in Brüssel projiziert wurde.© Screenshot/Deutschlandradio/Twitter 1.1.2021, 12:01
Einen Austritt der Schotten aus der mehr als 300 Jahre währenden Union will Johnson mit allen Mitteln verhindern. Gelingt es ihm wirtschaftliche Erfolge durch den Brexit zu erzielen, könnte sich die öffentliche Meinung unter den fünf Millionen Schotten drehen.
Beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 stimmte eine Mehrheit von 55 Prozent für den Verbleib im Königreich. So eine Abstimmung solle es erst in 40 Jahren wieder geben - in der nächsten Generation - argumentiert Boris Johnson.

Britin darf ihr Haus in Spanien nur 90 Tage am Stück nutzen

Jill Bowerbank möchte lieber heute als morgen zurück in die Europäische Union. Als Bürgerin eines Drittlandes braucht die Britin jetzt ein Visum, wenn sie mehr als 90 Tage im Schengenraum unterwegs sein will. Ähnlich wie schätzungsweise 500.000 Briten, die in der EU ein Ferienhaus besitzen. Ihr Traum von der Rente in der Sonne ist mit dem Ende der Freizügigkeit vorerst geplatzt.
Jill Bowerbank lebt im Nordosten Englands, in Durham – mit ihrem Mann Eric, dem Windhund Berry und dem spanischen Podenco Eva. Sie bezeichnet sich nicht als Engländerin, sondern als Europäerin, die gerne reist.
"Ich habe gegen den Brexit gestimmt und denke, dass es uns ohne die EU schlechter gehen wird", sagt sie.
Wäre der Brexit nicht dazwischengekommen, würde die 62-Jährige die jetzigen Wintermonate in der Sonne verbringen – in ihrem spanischen Ferienhaus in der Nähe von Alicante. Doch seit dem Brexit darf sie ohne Visum nur noch 90 Tage pro Halbjahr im Schengenraum bleiben.
"Wir wollten mehr reisen, jetzt, da wir in Rente sind und mehr Zeit in unserem Haus in Spanien einplanen", erzählt sie. "Weil wir wussten, dass das nach dem Brexit schwierig werden würde, wollten wir in Spanien unseren ständigen Wohnsitz beantragen. Eigentlich wollten wir im September nach Spanien ziehen, aber wir haben es zeitlich nicht geschafft, weil wir hier noch viel renoviert haben - durch Corona hat das alles länger gedauert. Und jetzt sind wir keine EU-Bürger mehr und müssen deshalb in Spanien ein höheres Einkommen nachweisen, um den ständigen Wohnsitz beantragen zu können. Drei oder vier Mal so viel wie bisher."

Keine Reise mit dem Wohnmobil nach Griechenland

Damit rückt der ständige Wohnsitz in Spanien für Jill Bowerbank außer Reichweite. Und das ist nicht der einzige Plan, den sie wegen der neuen Vorschriften ändern muss. Denn die 90 Tage gelten nicht für einzelne Länder, sondern für fast den gesamten Schengenraum zusammen.
"Das schränkt uns wirklich ein", sagt sie. "Wir können nicht mehr mit unserem Wohnmobil reisen wie geplant, wir wären gern nach Griechenland gefahren, aber die Fahrt dorthin dauert allein schon so lange. Wir haben oft Häusertausch gemacht, auch das ist jetzt schwieriger. Es ist so traurig, dass wir nicht mehr wie bisher in Europa reisen können, das ist so ein wichtiger Teil unseres Lebens. Wir haben hart gearbeitet, wir haben gespart und uns das gekauft, von dem wir dachten, dass wir es in der Rente nutzen könnten. Jetzt, wo unser Einkommen niedriger ist. Aber das können wir nicht."
Auch das Reisen mit den beiden Hunden Berry und Eva wird nun teurer. Reichte bislang ein EU-Heimtierausweis, brauchen Haustiere ab sofort ein Gesundheitszeugnis. Im Gegensatz zum Heimtierausweis, der das gesamte Tierleben lang gilt, ist das Gesundheitszeugnis nur vier Monate gültig.
"Wenn wir jetzt mit unseren Hunden reisen wollen, müssen wir sie innerhalb von zehn Tagen vor Abreise zu einem Tierarzt bringen, der ihnen das Gesundheitszeugnis ausstellt", sagt Jill Bowerbank. "Das sind weitere Kosten. Ich habe noch keinen konkreten Preis erfahren, aber gehört, dass es etwa 60 Pfund pro Hund kosten soll. Sie sagen, das sei ungefähr so viel wie der Heimtierausweis. Aber das muss ich jedes Mal bezahlen, wenn ich reisen will. Wegen der 90-Tage-Regel werden wir zwei Mal im Jahr nach Spanien reisen. Wir haben zwei Hunde, das sind 240 Pfund mehr im Jahr. Und ich denke, dass auch unsere Lebenskosten in Großbritannien steigen werden. Ok, es gibt keine Zölle, aber ich glaube, dass Waren trotzdem teurer werden, allein wegen dem aufwändigeren Import und Export."

"Wir werden engstirniger"

Für Jill Bowerbank steht fest: Nicht nur sie persönlich, sondern auch ihr ganzes Land wird durch den Brexit viel verlieren.
"Wir schotten uns als Nation ab", sagt sie. "Wir werden engstirniger. Wir verlieren das Erasmus-Programm. Ich weiß nicht, was sich die Leute dabei gedacht haben, als sie für den Brexit gestimmt haben. Vielleicht haben sie gedacht, dass die Beschränkungen nur einseitig gelten, also dass wir niemanden mehr nach Großbritannien reinlassen, den wir hier nicht haben wollen. Aber dabei haben sie vergessen, dass wir damit genauso unsere Freizügigkeit einschränken.
Ich kenne viele, die für den Brexit gestimmt haben. Meine engste Familie nicht, aber alle meine Stiefkinder, auch viele meiner Freunde. Keiner von ihnen kann mir aber erklären, warum. Selbst ein paar Briten in unserer Gemeinde in Spanien haben Brexit gewählt. Sie sagen dann Sachen wie: 'Wunderbar, damit bleiben die ganzen Ausländer endlich draußen!' Ich denke mir dann: 'Aber das ist doch genau das, was du als Brite hier in Spanien bist!' Da kann man sich nur vor den Kopf schlagen. Ich glaube, viele verstehen es einfach nicht.
Es wurde wenig Wert daraufgelegt, den Bürgern zu erklären, was die EU ist, was sie macht und warum wir Mitglied waren. Und viele glauben einfach das, was ihnen von der konservativen Presse vorgesetzt wird. Am Anfang war ich sehr wütend über den Brexit. Es gibt immer noch Tage, an denen ich sehr wütend bin, aber vor allem bin ich traurig."
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