Zu groß für Europa?
Hinter dem Brexit-Wunsch vieler Briten vermutet man gewöhnlich Engstirnigkeit und nationale Abschottung. Das trifft nach Ansicht Martin Roths nur teilweise zu. Viele sagten auch: "Wir sind einfach größer als das, was uns Europa bietet."
Hinter dem Wunsch nach einem "Brexit" steckt nach Ansicht Martin Roths, dem deutschen Direktor des Victoria & Albert-Museums in London, nicht notwendigerweise der Wunsch nach nationaler Abschottung.
Es gebe auch eine Strömung, "die sagt, wir sind einfach größer als das, was uns Europa bietet", sagt Roth. Nach wie vor existierten Verbindungen zu ehemaligen Kolonien wie den USA, Australien oder Indien. Und viele träumten davon, "dass man die Internationalität wieder reetablieren kann", meint der Direktor des Victoria & Albert-Museums. "Ich erlebe England – nicht nur London, wirklich England – extrem weltoffen."
Ein Referendum, das nur die Nation spaltet
Gleichzeitig äußert sich Roth besorgt über die Spaltung der britischen Gesellschaft angesichts der Brexit-Abstimmung: "Auch wenn ich zutiefst ein Demokrat bin, radikaldemokratisch aus diesem deutschen Süden, dann frage ich mich trotzdem, was ein Referendum bringt, wenn es nur die Nation spaltet und man vor allen Dingen hinterher – egal wie es ausgeht – viel aufwenden muss, um die Menschen wieder zusammenzubringen."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es ist eine schöne Tradition in Großbritannien, donnerstags wählen zu gehen. In zwei Tagen stehen einige Abstimmungen an, Regionalwahlen in Nordirland, Schottland und Wales und die Bürgermeisterwahl in London. Das müsste uns alles nur bedingt aufregen, wenn Beobachter in diesen Wahlen nicht auch einen großen Stimmungstest sehen würden, nämlich für das britische Referendum über einen möglichen Austritt aus der Europäischen Union im Juni.
Bevor die Wähler sprechen, sprechen wir mit einem deutschen Wahl-Londoner, mit dem ersten nichtbritischen Direktor des Victoria and Albert Museums Martin Roth. Wir haben ihn vor unserer Sendung in New York erreicht mit einem freundlichen Guten Morgen. Guten Morgen, Herr Roth!
Martin Roth: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Die alte britische Internationalität wieder etablieren
Frenzel: Herr Roth, wenn Sie vergleichen: Wo fühlt man sich denn London mentalitätsmäßig näher, in New York, wo Sie gerade sind, oder zum Beispiel in Berlin oder in Paris?
Roth: Na ja, schon in New York. Und auch nicht nur in New York, sondern das ganze New England ist doch bis heute sehr britisch in einer gewissen Weise. Also, natürlich von den Namen, von der Sprache von allem her ist man hier schon sehr mit den Wurzeln des Mutterlandes nach wie vor verbunden.
Frenzel: Ich habe die Frage vor dem Hintergrund gestellt, dass Sie an anderer Stelle einen interessanten Gedanken geäußert haben über dieses anstehende Referendum und auch über die generelle Skepsis gegenüber dem EU-Europa: Dass das nicht unbedingt Ausdruck nationaler Engstirnigkeit ist, sondern eher dem Wunsch Ausdruck verleiht, internationaler, weltoffener sein zu können. Das müssen Sie uns erklären!
Roth: Ich glaube schon, dass es nach wie vor oder vielleicht mehr denn je auch eine Strömung gibt, die sagt: Wir sind einfach größer als das, was uns Europa bietet. Und Größe bedeutet in diesem Fall auch nicht unbedingt, zurückgehen zu wollen in imperialistische Zeiten, aber einfach, um Ihren ersten Gedanken noch mal aufzugreifen: Es ist die Sprache, es sind dieselben Namen, es ist dieselbe Familie, man hat dieses Land hier – das mag man jetzt gut finden oder nicht – kolonialisiert, und diese Verbindung gibt es nach wie vor, die gibt es nach Australien, die gibt es nach Indien.
Noch mal, das kann man alles oder sollte man alles auch sehr kritisch sehen in der Vergangenheit, aber dennoch, heute bedeutet es natürlich, dass viele auch davon träumen, dass man die Internationalität wieder reetablieren kann. Heißt nicht trotz alledem, dass es auch ganz viel Engstirnigkeit gibt, und dieser ganze Brexit-Gedanke und UKIP verbindet sich ja zum Teil auch auf schreckliche Weise mit dem, was gerade in Polen und Ungarn und in anderen Teilen Europas passiert.
Direktor des "schönsten Weltheimatmuseums"
Frenzel: Bleiben wir mal bei diesem Stichwort, die UKIP, die United Kingdom Independent Party, die ja in den letzten Jahren bei Wahlen immer erfolgreicher geworden ist, die eine treibende Kraft hinter diesem ganzen Betreiben ist, aus der Europäischen Union auszutreten: Wie erleben Sie denn die Stimmung in Großbritannien? Sie leben seit 2011 in London, ist das Land nationaler, nationalistischer geworden?
Roth: Es ist relativ schwer zu sagen, weil … Wissen Sie, ich arbeite quasi in dem schönsten Weltheimatmuseum, ich habe dieses Privileg, der erste Deutsche zu sein, der jemals ein Nationalmuseum in England geleitet hat, das spricht Bände. Wir haben 28 Nationen in unserem Team. Also, das heißt, ich erlebe England – und nicht nur London, wirklich England – extrem weltoffen.
Und wir starten die Diskussion auf einem ganz anderen Niveau, als ich das in Berlin oder Dresden oder wo ich einmal … wie man an meinem Dialekt hört, aus Stuttgart … erlebt habe. Das sind vollkommen andere Voraussetzungen in der Denkweise. Und das, finde ich, macht es so schwer. Nicht nur schwer zu verstehen, sondern vor allen Dingen auch schwer, eine vernünftige gemeinsame Zukunft zu finden.
Das Referendum spaltet das Land
Frenzel: Kann man denn sagen, dass dieses weltoffene London, das Sie erleben in Ihrem Umfeld, in Ihrer Arbeit, auch darüber hinaus, dass das das Großbritannien ist, das in der EU bleiben möchte? Oder wäre das zu einfach.
Roth: Das wäre zu einfach. Also, ich habe auch viele Leute – vielleicht jetzt nicht gerade in meinem Feld, weil ja Kunst und Kultur doch Gott sei Dank immer liberaler und offener und toleranter und auch manchmal fordernder ist –, aber natürlich haben wir den Effekt momentan und ich hasse das, dass, wer immer zu mir ins Büro kommt, wen immer ich treffe in Sitzungen, dass man natürlich jetzt darüber nachdenkt, gehört er dazu oder gehört er nicht dazu.
Also, momentan teilt sich das schon irgendwie in zwei Teile. Und auch wenn ich zutiefst ein Demokrat bin, radikaldemokratisch aus diesem deutschen Süden, dann frage ich mich trotzdem, was ein Referendum bringt, wenn es nur die Nation spaltet und man vor allen Dingen hinterher, egal wie es ausgeht, viel aufwenden muss, um die Menschen wieder zusammenzubringen.
Frenzel: Das heißt, Sie merken die Spaltung bei Ihrer Arbeit?
Roth: Ich merke sie nicht in dem Maße, dass ich jetzt mit Leuten zusammensitze, die darauf insistieren, dass sich die Welt morgen verändern muss. Aber natürlich denkt man darüber nach, natürlich frage ich mich, wie jemand wie Gisela Stuart, die aus Niederbayern kommende Politikerin von Labour plötzlich die Deputy-Präsidentin von Leave geworden ist. Und es ist ein seltsames Alltagsgefühl, dass wir allerdings auch hatten, als das schottische Referendum geplant wurde.
EU-Bürokratie "lässt einen verzweifeln"
Frenzel: Was ich nämlich beobachtet habe bei anderen Menschen, die länger in Großbritannien gelebt haben, Herr Roth: Würden Sie sagen, dass Sie in den Jahren auch EU- und europaskeptischer geworden sind, seitdem Sie in London sind?
Roth: Ich habe ja irgendwie eine ganz seltsame Lebensgeschichte. Ich komme wirklich aus dem tiefsten Baden-Württemberg und habe dann diesen seltsamen Weg gemacht, Berlin, nach Paris, zurück nach Berlin und jetzt eben nach London, war längere Zeit in den USA. Wenn man so möchte, bin ich eigentlich europafreundlich geworden durch meine Aufenthalte in den verschiedenen Städten außerhalb Deutschlands.
Was man in England allerdings erlebt, ist, dass es tatsächlich was gibt, was einen verzweifeln lässt, wenn es um europäische Bürokratie geht. Das habe ich nie so deutlich empfunden wie in England und wahrscheinlich ist es das, was viele Leute auch einfach skeptisch stimmt. Dass ich da zu einem Europaskeptiker geworden wäre, das würde ich nicht sagen, dazu bin ich einfach viel zu sehr von Europa überzeugt und Europa ist meine Identität. Aber der Blick von London auf Europa ist anders interessanterweise als der von Berlin, Paris oder auch zum Teil aus USA.
Es drohen längerfristige wirtschaftliche Folgen
Frenzel: Es wird ja viel über mögliche wirtschaftliche Folgen geredet, wenn es zu einem Austritt Großbritanniens aus der EU käme. Drehen wir das Licht mal auf die Welt der Kultur: Was würde denn ein Brexit monetär bedeuten für Ihr Museum, das Victoria and Albert in London?
Roth: Der Kulturbereich wird nicht so deutlich gefördert von Brüssel, wie ich das in Deutschland erlebt habe. Aber im Wissenschaftsbereich, im Forschungsbereich gibt es einfach sehr viel Europagelder, die werden abbrechen. Wir werden keine Anträge … Ich habe momentan einen großen Antrag laufen mit einigen anderen deutschen, europäischen Museen zusammen zum Thema einer großen Opernausstellung, das wird es alles nicht mehr geben. Also, ich glaube, wir können das zum Teil uns noch gar nicht vorstellen, wie die Auswirkungen im Alltag sein werden. Aber momentan ist es eher ein schlechtes Grundgefühl, ohne dass man genau weiß, was passiert.
Frenzel: Welche Auswirkungen würden Sie denn erwarten, jetzt mal jenseits der Geldfragen, organisatorischer Fragen, für die britische Zivilgesellschaft, für die Kulturlandschaft? Welche gesellschaftlichen Kräfte würden gestärkt, welche geschwächt?
Roth: Die Frage ist relativ schwer zu beantworten. Ich lebe einfach in London in einem Umfeld, also in einem kulturellen Umfeld, was ich vorher nie irgendwo erlebt habe, das ich im Übrigen auch nicht aus New York kenne. Es ist einfach … Also nicht nur international, es ist wirklich einfach global durchdrungen. Ob sich das verändern würde, grundsätzlich verändern würde, wage ich zu bezweifeln. Es sind eher die wirtschaftlichen Auswirkungen, die dann längerfristig einen Einfluss darauf haben. Ich glaube nicht, dass wir eine sofortige Veränderung erleben werden, die langfristige Veränderung ist das, was mir Sorge bereitet.
Frenzel: Der Direktor des Victoria and Albert Museums in London Martin Roth, vielen Dank für das Gespräch!
Roth: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.