Warum das Brexit-Drama kein Alptraum ist
08:05 Minuten
Trotz Brexit-Querelen und zahlreichen Reibereien zwischen den EU-Ländern kommt keine Regierung auf die Idee, kriegerisch zu Felde zu ziehen. Allein der Gedanke wirkt bizarr! Und genau darin liegt das große Verdienst des Friedensprojekts EU.
Wenn uns der Brexit eine Lehre erteilen kann, dann ist es diese: Die Europäische Union ist einfach wunderbar! Sie ist, um einen Slogan der Grünen zu zitieren: die beste Idee, die Europa je hatte.
Dass die EU tatsächlich wunderbar ist, erkennt man am leichtesten, wenn man sich vor Augen hält, dass sie zugleich unzureichend und abschreckend ist.
Die EU-Staaten sind zum Beispiel immer wieder schrecklich zerstritten. Man erinnere sich an die Finanz- und Eurokrise, als in Griechenland Merkel-Karikaturen mit Hitler-Bärtchen angesagt waren und nicht nur südeuropäische Länder Deutschland vorwarfen, auf wirtschaftlichem Wege zu erreichen, was Hitler militärisch dauerhaft nie erreicht hat – die Hegemonie auf dem Kontinent.
Außerdem finden viele EU-Bürger Brüssel ziemlich schrecklich. Und zwar, weil Brüssel wie ein Bürokratie-Monster auf sie wirkt, das über Gesetze und Verordnungen jede Menge Macht ausübt, ohne einer leicht durchschaubaren demokratischen Kontrolle zu unterliegen. All das hat Wasser auf die Mühlen des neuen Nationalismus geschüttet.
Nun also der Brexit, der zu politischen Bizarrerien geführt hat, die bis dato jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen. Worüber sogar der Humor so dürftig geworden ist, dass einer der besseren unter vielen schwachen Brexit-Witzen lautet: Leider verzögert sich die Auslieferung von Brexit-Witzen – die Pointen stecken im Zoll fest.
Dass Frieden herrscht, ist kein Kitsch
EU - wunderbar? Man traut es sich kaum auszusprechen. Denn das Wunderbare an der EU ist selbst ihren verbittertsten Kritikern so selbstverständlich geworden, dass seine Erwähnung naiv klingt – oder nach billiger Sonntagsrede: Innerhalb der EU herrscht Frieden! Punkt.
Der britische Historiker Alexander Clarkson meckerte kürzlich in der "Zeit", die EU als Friedensprojekt zu begreifen, sei nichts weiter als "Kitsch".
Kitsch? Dass angesichts der massiven Reibereien und Interessenkonflikte unter den EU-Staaten nirgends, wirklich nirgends ein "Darum auf zu den Waffen!" ertönt – jener Satz, mit dem Wilhelm II. die Deutschen einst in den Ersten Weltkrieg rief –, ist das Kitsch? Oder eine elementare Errungenschaft?
Ein Boris Johnson, impulsiv wie nur irgendwer, denkt sich einen verfahrenstechnischen Winkelzug nach dem anderen aus, um endlich zu seinem Brexit zu kommen. Er schimpft auf Brüssel, fährt nach Brüssel, bittet in Brüssel, wird von Brüssel zurechtgestutzt, um nicht zu sagen: höflich gedemütigt. Aber musste man je befürchten, Johnson könnte deshalb mit der Mobilmachung der britischen Armee drohen, der schlagkräftigsten in der EU, samt Atomwaffen in der Hinterhand?
Dass die Royal Air Force wegen der Brexit-Querelen weder Brüssel noch Berlin bombardieren wird, darüber muss man kein Wort verlieren. Und dass man kein Wort darüber verlieren muss, ist die Lebensversicherung der EU-Bürger.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg haben viele von einem Europa mit Lebensversicherungsqualität geträumt. Deshalb wurde 1922 die Paneuropa-Union gegründet – es gibt sie noch heute – und 1924 ein Komitee einberufen, das später Bund für europäische Cooperation hieß.
Verhandlungstisch statt Schlachtfeld
Allein, sie waren viel zu schwach, um das Unheil abzuwenden. Erst der Zweite Weltkrieg brachte die Staaten des Kontinents nachhaltig zur Vernunft. Das Schlachtfeld wurde durch den Verhandlungstisch ersetzt. Das Ergebnis hieß zunächst EWG, dann EG und heute EU.
Auch wenn es keine historische Gesetzmäßigkeit gibt, die garantiert, dass der Frieden in der EU für immer hält: Dass es leichter fällt, sich innerhalb der EU ewigen Frieden vorzustellen als einen Vielfronten-Krieg ihrer Mitglieder, das heißt etwas.
Und das Beste: Selbst der Brexit wird daran nichts ändern. Nicht umsonst beteuert Boris Johnson mittlerweile geradezu pflichtschuldig, man bleibe den "europäischen Freunden" eng verbunden. Denn die Briten wollen natürlich auch nach ihrem Abgang so friedlich leben, als hätten sie die EU nie verlassen.