Eine Chance für Brexit-Gegner?
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Der Brexit wurde vertagt - wieder einmal. Bis Ende Oktober hat Großbritannien Zeit, die EU zu verlassen. Ende Mai werden nun die Briten bei der Europawahl mitwählen. Das könnte eine Art Stellvertreter-Referendum werden, meint der Blogger Jonathan Worth.
In der britischen Bevölkerung ändere sich gerade ein wenig die Stimmung, sagte der britische Blogger und Journalist Jonathan Worth im Deutschlandfunk Kultur. Obwohl ein zweites Referendum in Großbritannien noch höchst umstritten sei, könnte es dazu kommen oder zu Neuwahlen für das britische Unterhaus. "Nicht nur die britischen Politiker, sondern auch die britische Bevölkerung, die haben jetzt ein bisschen genug von dieser Brexit-Debatte", sagte Worth. Seit die EU und die britische Premierministerin Theresa May sich auf den 31. Oktober als spätestes Brexit-Datum verständigt haben, habe sich alles etwas entspannt. In Brüssel sei offenbar verstanden worden, dass es derzeit in Großbritannien keine Mehrheit für irgendeine Brexit-Variante gebe.
Hohe Wahlbeteiligung erwartet
Die Briten hätten jetzt Zeit ein zweites Referendum oder eine Unterhaus-Wahl zu organisieren oder Theresa May als Premierministerin zu ersetzen. "Die Chancen, dass kein Brexit stattfindet oder der Brexit dauerhaft verzögert wird, sind deutlich gestiegen", sagte der Journalist.
Dass die Briten jetzt an der Europawahl teilnehmen müssten, könnte zu einer Art "Proxy-Referendum", einer Stellvertreter-Abstimmung, werden. Die EU-Anhänger seien jetzt deutlich besser motiviert, zur Wahl zu gehen, aber auch die Farange-Anhänger. Er erwarte in Großbritannien eine sehr hohe Wahlbeteiligung.
Gespaltene Gesellschaft
In seiner eigenen Familie spiegele sich die Polarisierung der britischen Gesellschaft nicht wider, sagte Worth. Seine Verwandten, selbst die 96-jährige Großtante, hätten für den Verbleib in der EU gestimmt. Seine Eltern seien wegen des Brexit aber mit einigen jahrelangen Freunden zerstritten. Er selbst habe als in Berlin lebender Brite einen Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft gestellt.
In seiner Heimat werde es Jahre dauern, die Spaltung der Lager zu überwinden. "Großbritannien braucht tiefgehende Reformen", sagte Worth. Der Brexit sei Teil einer Rebellion von Nord- und Westengland gegen die Hauptstadt London. Das Land brauche neue politische Parteien, eine Reform der Verfassung, eine politische Dezentralisierung. Ein Nachfolger von May müsse einen Weg finden, um die Polarisierung zu überwinden.
Bärendienst für die Europawahl
In unserer Mittagssendung vertrat auch der Politologe Thorsten Faas von der Freien Universität Berlin die Ansicht, dass die Europawahl in Großbritannien zu einem zweiten Referendum werden könnte. Allerdings sei nicht zu unterschätzen, dass die Abstimmung nun in kürzester Zeit noch organisiert werden müsse. Völlig unklar sei allerdings bisher, was die gewählten britischen Europa-Parlamentarier dann tun würden.
"Da hat man der Europawahl, die uns bevorsteht, einen Bärendienst geleistet", sagte der Politologe. Wertschätzung für eine Wahl sehe anders aus. Wer diese Abstimmung für sich wie zu nutzen wisse, das sei eine spannende Frage in der nahen Zukunft. Die Wahlbeteiligung der Briten werde ein interessanter Indikator werden. Faas sagte, es gebe auch noch die vage Hoffnung, dass die Briten den Austrittsantrag wieder zurückzögen. "Das ist natürlich auch noch so ein Hoffnungsschimmer, der sich vielleicht mit dieser Wahl verbindet."
(gem)