Vorbild Irland
Anders als Schottland war Irland nie richtig ins Vereinigte Königreich integriert worden. Im 19. Jahrhundert wurden die Iren als Untermenschen verachtet, die irische Wirtschaft wurde sabotiert.
Von den Römern Caledonia und von den Iren Alba genannt, verwandelte sich der Norden Britanniens im 9. Jahrhundert in ein schottisches Königreich. Pikten, Iren, Wikinger und Normannen verschmolzen zu einem eigenen Staat, der sich im 14. Jahrhundert erfolgreich gegen englische Übergriffe verteidigte. Als das schottische Parlament im Jahre 1707 aufgelöst wurde, war dieser Staat nahezu bankrott. Ein törichtes koloniales Abenteuer in Darien, im heutigen Panama, hatte die Eliten ruiniert. Englisches Geld schuf Abhilfe und bestach unschlüssige schottische Parlamentarier. Von einer Liebesheirat konnte somit keine Rede sein.
Die letzten Sehnsüchte nach einem katholischen Stuart auf dem schottischen Thron wurden 1745 in der Schlacht von Culloden von englischen Waffen erstickt. In Edinburg indessen erblühte gleichzeitig die Aufklärung: Adam Smith legte den Grundstein zur Nationalökonomie, in Glasgow erfand James Watt kurz darauf die Dampfmaschine.
Hungersnot verstärkte Wunsch nach Emanzipation von London
Im benachbarten Irland verliefen die Entwicklungen anders. Nach einer stümperhaften Rebellion wurde im Jahr 1800 auch das irische Parlament aufgelöst und mit Westminster verschmolzen. Das Vereinigte Königreich war geboren.
Die Große Irische Hungersnot der 1840er-Jahre, eine Tragödie von unvorstellbaren Ausmaßen, beflügelte wohl den Wunsch nach einer Emanzipation von London. Denn anders als Schottland war Irland nie im selben Ausmaß integriert worden. Die offizielle Diskriminierung der katholischen Bevölkerung wurde zwar im Verlaufe des 19. Jahrhunderts abgebaut, aber die britische Regierung stellte durch gezielte Maßnahmen sicher, dass Irland – mit Ausnahme des Nordostens um Belfast – weiterhin billige Nahrungsmittel für englische und schottische Industriearbeiter produzierte.
Die wirtschaftliche Entwicklung Irlands wurde sabotiert, Iren wurden als Untermenschen verachtet. Auch im Offizierskorps der britischen Armee spielten Iren niemals eine vergleichbare Rolle wie die Schotten, die ja mehrheitlich die richtige Religion aufwiesen.
1922 wurde Mehrheit der irischen Grafschaften unabhängig
Im Gleichschritt mit zahlreichen europäischen Ländern neigte Irland immer stärker dem Nationalismus zu. Sport, Kultur, Sprache und Politik überzogen das Land mit einem dichten Netzwerk von patriotischen, teilweise subversiven Vereinen und Verbänden. Im 20. Jahrhundert kippte der Wunsch nach Selbstverwaltung in die Sezession.
1916 rebellierte Irland erfolglos, sechs Jahre später errangen 26 von 32 Grafschaften ihre Unabhängigkeit als Freistaat.
Schottland dagegen verspürte damals keine derartigen Neigungen. Das bevölkerungsreiche Tiefland, der so genannte Central Belt zwischen Glasgow und Edinburg, war erfolgreich in das britische Weltreich, die britische Industrie- und Bankenwelt integriert. Das Hochland und die Inseln dagegen, wo rebellische Gedanken durchaus überlebten, waren in der Zwischenzeit gewaltsam entvölkert worden: Im Verlaufe der sogenannten Highland Clearances, vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, vertrieben Großgrundbesitzer ihre Pächter und Taglöhner und ersetzten sie durch profitablere Schafe. Die überlebenden Menschen wanderten großteils nach Kanada aus.
Thatchers Regierungszeit – für Schotten Fremdherrschaft
Ich kann nicht verstehen, warum wir uns demütig von anderen regieren lassen, singen die Proclaimers. Die Fremdherrschaft bezieht sich auf die englische Nachbarin oder genauer, auf die Konservative Partei. Noch 1955 entsandte Schottland eine konservative Mehrheit ins britische Unterhaus, heutzutage vertritt noch ein einziger der 59 schottischen Abgeordneten die Tories. Margaret Thatchers 18 Jahre an der Macht wurden in Schottland als Fremdherrschaft empfunden, die verarbeitende Industrie und der Bergbau schrumpften dramatisch, ja, Schottland wurde sogar zum Versuchslabor für eine fragwürdige Kopfsteuer.
Da die Schotten als Kollektiv politisch links von der Mitte stehen, empfanden sie wenig Sympathien für die zentristischen New Labour-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown, obwohl letzterer ein waschechter Schotte ist. Schrittweise untergrub die Separatistenpartei SNP unter der schlauen Führung von Alex Salmond die Dominanz Labours in Schottland. Zugleich erstarkte das schottische Bewusstsein der Andersartigkeit. Literatur und Musik spielen dabei eine ähnliche Rolle wie im Irland des vorletzten Jahrhunderts.