Die China-Doktrin von Schatzkanzler Osborne
Die Erneuerung der Abwasserversorgung in der Grafschaft Kent hängt ebenso vom chinesischen Kapital ab wie der Ausbau des Londoner Flughafens Heathrow. Doch das Geld aus dem Reich der Mitte ist nicht allen Briten willkommen.
Anfang der 90er Jahre tourte der junge George Osborne als Backpacker durch China. Das Land begeistert ihn bis heute – der britische Schatzkanzler ist heute der wichtigste Protagonist einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China. Osbornes 14-jähriger Sohn Luke büffelt Mandarin, so sehr ist Osborne von der Bedeutung des aufstrebenden Reichs der Mitte überzeugt.
"Wir brauchen China für unsere Wirtschaft. Für den Klimawandel brauchen wir auch China. China ist ein unglaublich wichtiger Teil der Welt. Es hat eine so große Geschichte. Aber China steht auch für einen wichtigen Teil unserer Zukunft."
Infrastruktur an der Belastungsgrenze
Chinas Bedeutung für die britische Wirtschaft und Dienstleistungen ist enorm. Das Land stieg mit 2,5 Milliarden Euro beim geplanten Bau des neuen Atomkraftwerks in Hinkley Point im Südwesten der Insel ein.
Die Infrastruktur im Vereinigten Königreich ist durch das Bevölkerungswachstum an ihrer Belastungsgrenze angekommen. Neue Schienenstrecken in Nordengland, moderne Abwasserkanäle in Kent oder der Ausbau des Londoner Flughafens Heathrow, der wohl kurz bevorsteht: Überall ist chinesisches Geld willkommen, um die Projekte mitzufinanzieren.
"Wir halten Großbritannien für ein Land, das immer noch über globalen Einfluss verfügt", erläutert der chinesische Botschafter in London, Liu Xiaoming. "Es ist ein politisches Powerhaus. Wir und das Vereinigte Königreich kooperieren wirtschaftlich sehr eng. Nirgendwo investiert China so viel wie im Vereinigten Königreich."
Menschenrechtsverletzungen in China, sagt Osborne, werden hinter verschlossenen Türen angesprochen. Chinas Umgang mit Dissidenten würden sich am ehesten durch Austausch und Handeln verändern.
Chinesen kaufen das Staatseigentum auf
Diese Politik hat das Magazin "The Economist" kürzlich die "Osborne-Doktrin" genannt. Chinas Investments unterliegen aber mehreren Risiken: Erstens würde Großbritannien in Mitleidenschaft gezogen, wenn Chinas Wirtschaftsboom noch mehr Dellen erhält. Zweitens muss die britische Öffentlichkeit weiter fast klaglos akzeptieren, dass ihr Staatseigentum faktisch vom chinesischen Staat gekauft wird.
Hinzukam zuletzt, dass London fast nichts gegen chinesischen Dumpingstahl tut. Das Kalkül lautet: Hunderte von Jobs in der Stahlindustrie wiegen die Vorteile im sonstigen China-Austausch nicht auf.
"Die britische Regierung schaut tatenlos zu, wie ein Stahlwerk nach dem anderen bei uns geschlossen wird", klagt Labour-Chef Jeremy Corbyn an. "Sie sagen, es liegt an den Regeln in Brüssel. Das stimmt nicht. Unsere Regierung ist nicht bereit, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen."
Kritik kommt auch aus dem konservativen Lager
Solche Maßnahmen wären EU-Zölle auf chinesischen Stahl – ausgerechnet aber die Regierung in London stemmt sich am meisten gegen solche Zölle. Kritik an der China-Politik Osbornes und seines Premiers David Cameron kommt auch aus dem konservativen Lager. Da China sich am AKW-Neubau in Hinkley Point beteiligt, bestünde die Gefahr, dass Peking in den Besitz brisanten nukleartechnischen Knowhows gelange. Chinas Unsitte, westliche Technik raubzukopieren, steht auch auf der Liste der Kritik-Punkte im konservativen Lager weit oben.
Was das geplante Atomkraftwerk angeht, kann vielleicht Entwarnung gegeben werden. Der französische Kraftwerksbauer EDF hat immense technische Probleme, das Projekt zu stemmen. Die Kosten drohen aus dem Ruder zu laufen. Hinkley Point ist die britische Variante des Berliner Flughafens.
Der Bau verzögert sich jetzt schon um mindestens neun Jahre. George Osborne, als Schatzkanzler auch Wirtschaftsminister, soll bereits einen Plan B ausgearbeitet haben – ohne ein neues Kernkraftwerk und folglich ohne chinesische Beteiligung daran.