Große Bühne für gestandene Sänger

Von Elke Pressler · 03.05.2013
Eigens für den Evangelischen Kirchentag in Hamburg hat Stephan Peiffer die Oper "Vom Ende der Unschuld" komponiert, die sich um den Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer dreht. Heimlicher Star der Inszenierung ist der Hamburger Seniorenchor St. Nikolai.
Kirsten Harms: "Als die Idee kam, diese Oper zu schreiben, habe ich dem Komponisten gesagt: schreib’ unbedingt für großen Chor, denn ich wusste ja aus Konzerten, die ich auch gehört habe..."

Matthias Hoffmann-Borggrefe: "... sie war von dem Seniorenchor sehr angetan, weil sie überrascht war, wie vital, wie musikantisch auch ein sogenannter Seniorenchor singen kann."

Harms: "Ich wusste, dass es einen großen Seniorenchor hier gibt – und das ist eine Möglichkeit, einen Chor zu haben – und die Kosten steigen nicht ins Unermessliche: die machen das ja ehrenamtlich."

Acht Jahre lang war die Regisseurin Kirsten Harms Intendantin am größten Opernhaus der Hauptstadt, der Deutschen Oper Berlin. Nun inszeniert sie ein Wagnis; es ist die Uraufführung einer "Kirchentagsoper" mit 250 Profi- und Laienmusikern. Und ganz besonders im Fokus dieses Projekts: der Hamburger Seniorenchor St. Nikolai.

Harms: "Wir sind etwa 110 Leute, eigentlich können wir kaum noch jemand aufnehmen. Das Besondere ist, dass auch ältere Menschen zu einer Leistung fähig sind, die beachtlich ist. Wenn man uns nicht sieht, dann merkt man nicht, dass das ältere Menschen sind. Es ist allerdings wichtig, dass wir viele sind. Also, wir sind kein Kammerchor, das würde nicht so gut aussehen. Das Resultat ist eben toll!"

Nicht ganz unschuldig an diesem spektakulären Bühnenauftritt ist die 82-Jährige Mutter der Regisseurin, Seniorenchor-Sängerin Doris Harms:

"Ich bin ja sehr viel in Berlin gewesen zu den Premieren meiner Tochter, und eines Tages habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss, jetzt kommst Du auch mal zu uns und hörst mal unser Konzert an. Da haben wir gerade von einem Herrn Kraus – ist er Schwede? – eine Totenmesse gesungen, auf schwedisch! Und sie war beeindruckt von uns! So kam der Kontakt zustande zu Herrn Hoffmann-Borggrefe. Ja, ich habe das ein bisschen forciert!"

Hoffmann-Borggrefe: "Das ist auch seltener für einen Kirchenmusiker, dass man eine Uraufführung dirigiert; ein solch abendfüllendes, großes Orchester- und Chorwerk, das ist schon die große Ausnahme, ja."

Der jungenhafte Kantor mit dem graumelierten Haarschopf, Matthias Hoffmann-Borggrefe, ist der heimliche Star - der Motor, das Herz, ja der Magnet in dieser ungewöhnlichen Produktion.

Boike Jacobs: "Wie er einen mitzieht!"

Gisela Tesdorff: "Der reißt alles aus uns raus! Ganz, ganz toll!"

Harms: "Wir haben einen sehr, sehr guten Chorleiter, der uns sehr animiert, der uns sehr mitreißt – und das ist das A und O für einen Chor: wie wird er gefordert? Wir werden gefordert!"

Hoffmann-Borggrefe: "Das ist die größte Herausforderung an der Oper!"

Jacobs: "Also fantastisch, der sprüht ja ständig Funken, der Mann, das ist hinreißend!"

Hoffmann-Borggrefe: "... dass der Chor eben auch auf der Bühne aktiv sein muss!"

Harms: "Ja, das ist richtig Forderung, das ist Auftritt, das ist Aufregung, und dieses ist jetzt auch ganz neu für die, sich szenisch reinzuschmeißen – etwas Einmaliges!"

Jacobs: "Wie er dirigiert, wie er das vormacht, wie man zu interpretieren hat, wie er die Einsätze gibt, wie präzise er arbeitet, das ist einfach toll!"

Hoffmann-Borggrefe: "Das ist für viele Chormenschen, die ihr Leben lang gewohnt waren, die Noten in der Hand zu halten, einen festen Sitzplatz zu haben und von diesem festen Sitzplatz aus den Dirigenten immer im Blick zu haben, eine ganz neue Situation."

Vor allem im Alter von 80 an aufwärts!

Harms: "Das ist keine Besonderheit in unserem Chor."

Hoffmann-Borggrefe: "Im Prinzip können auch 90-Jährige mitsingen."

Jacobs: "Es sind ja alles altgediente Chorsänger."

Die 67-Jährige Boike ist erst mit diesem Projekt in den Seniorenchor eingestiegen.

Harms: "Man rennt uns so ein bisschen die Bude ein."

Und doch ist die anstrengende Bühnen-"Action" etwas Ungewohntes und nicht jedermanns Sache. Doch niemand wird genötigt. Die klug durchdachte Einteilung in Chor A, B und C – verstärkt durch die "normale" Kantorei St. Nikolai - ermöglicht es, - falls die Kräfte mal nachlassen - auch unsichtbar von der Seite mitzusingen und auf diese Weise mitzuwirken. Wie überhaupt das Prinzip der Freiwilligkeit und des Respekts wohltuend vorherrscht in diesem Chor.

Hoffmann-Borggrefe: "Ja, das Alter ist gewollt! Der Seniorenchor ist dadurch entstanden, dass natürlich alte Menschen in manchen Chören nicht mehr so gern gesehen sind."

Boike: "Ich hab’ das selber erlebt. Ich kam aus Köln und sang da in großen Chören mit und fand hier keine Aufnahme. Das war also erst mal richtig ein Schock."

Hoffmann-Borggrefe: "Es soll nicht sein der Abfalleimer für Kantoreien, sondern es ist wirklich ein Seniorenchor, der seine eigene Qualität hat: eine eigene Klanglichkeit, die darin besteht, dass die Mitten, die Mitte des Chores, also Alt- und Tenorstimmen, die meistens auch von Frauen gesungen werden, eine besonders intensive Klangfarbe und Wärme haben.

Ich setze keine Altersgrenzen. Das ist viel würdiger zu sagen: ich entscheide, wann ich hier aufhöre. Man kann sich wirklich nobel verabschieden von seines Sangesschwestern und -brüdern - und dann gehen."

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.


Website der Seniorenkantorei St. Nikolai