Große Dramen bei der WM

"Theater und Fußball vereint die gleiche Sehnsucht"

Der Fußballspieler Neymar liegt verletzt am Boden
"Wirklich theatrale, inszenatorische, performative Fähigkeiten", hat Dramaturg Moritz Rinke bei der WM gesehen. © imago sportfotodienst
Moritz Rinke im Gespräch mit Janis El-Bira |
Große Helden und Dramen gibt es auf der Bühne und dem Fußballrasen, meint Dramaturg, Autor und Fußballfan Moritz Rinke: Sogar eine perfekten Darbietung vom "Eingebildeten Kranken" habe er schon bei der WM gesehen. Fußball und Theater verbindet eben einiges.
"Theater muss wie Fußball sein", soll Bertolt Brecht einmal gesagt haben. Längst allerdings gilt das auch andersherum und das Spiel mit dem runden Leder gleicht immer mehr einer einzigen Inszenierung – vor allem während medialer Großereignisse wie der Weltmeisterschaft. Morgen geht diese nun mit dem Finale zwischen Frankreich und Kroatien zu Ende und genau verfolgt hat die WM auch der Dramatiker, Schriftsteller und Fußballfan Moritz Rinke. Er war bis zum Ende dieser Spielzeit Leiter des Autorenprogramms am Berliner Ensemble und ist zugleich Torschützenkönig der DFB-Autorennationalmannschaft.
Im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur sagt Rinke über die Faszination vieler Theaterschaffender für den Fußball: "Es gibt eine unglaublich große Sehnsucht der Theater nach dem Durchbrechen der 'vierten Wand', der Begegnung von Publikum und Spielern und Akteuren, was eben im Fußball weitaus öfter passiert als im Theater. Beim Fußball ist das, glaube ich, einfacher, weil natürlich der Zufall das Spiel regiert und nicht die Vereinbarung."
Im Theater sei dagegen alles verabredet. "Jeder Hamlet, jede Kleist-Inszenierung, jede Büchner-Inszenierung läuft, wenn sie denn geprobt ist, nach vermutlich ähnlichen Verabredungen ab. Und den Fußball kann man zwar planen – und Jogi Löw hätte ihn vermutlich gerne noch bis ins Finale geplant, das war vielleicht das Problem. Aber letztlich kommt das Schicksal und der Zufall dazu. Und das macht dieses Spiel so einzigartig. Ein wundervolles Spiel." Und es sei für viele erwachsene Männer und Theaterleute, "die ja sowieso ‚nur‘ spielen", eine Möglichkeit, "ihre Kindheit durch den Fußball ins Erwachsensein zu verlängern".

Der Videobeweis unterbricht die Inszenierung

Eine Neuerung im Regelwerk, den umstrittenen Videoschiedsrichter, sieht Rinke auch deshalb so kritisch, weil er den Zufall zu beseitigen versuche: Der Videoschiedsrichter nehme "die Augenblicklichkeit des Spiels". Dies sei so, "als ob immer die Inszenierung abgebrochen wird, als ob irgendwie eine Pause ist, der Regisseur kommt und erklärt, was technisch falsch war – aber ehrlich gesagt weiß er es auch nicht so genau. Er weiß es nicht besser durch die Bilder. Und es gehört ja auch zum Schicksal eines Spiels dazu, dass man sagt: Das war eine historische Fehlentscheidung!"

Manche Spieler üben das Jubeln mehr als das Spielen

Die extreme mediale Überformung des Spiels sorgt dabei für Rinke auch dafür, dass sich die Spieler zunehmend nicht mehr allein als Sportler, sondern auch als Performer begreifen: "Ich glaube schon, dass die Fußballer, wenn sie denn ihren Marktwert entdeckt haben und davon überzeugt sind, dass sie sich eigentlich zu mehr als einem Fußballspieler eignen, nämlich auch zu einer Ikone, dass sie dann vor dem Spiegel stehen und anfangen, an ihrer Außendarstellung zu arbeiten." Bei manchen habe er das Gefühl, "die üben mehr das Jubeln als das Spielen und manche üben auch das Auf-dem-Boden-Liegen, wenn man an Neymar denkt. Der hat es ja gebracht zu einer perfekten Molière-Darbietung vom 'Eingebildeten Kranken'. Abseits des Fußballs sind da schon wirklich theatrale, inszenatorische, performative Fähigkeiten zu betrachten."
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