Große Gesänge

Die dreibändige Ausgabe der Gedichte des chilenischen Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda bündelt die verschiedenen Übersetzungen seiner Texte. Eine Auseinandersetzung mit der ambivalenten Haltung des Autors während des Kalten Krieges hat man vermieden.
"Von Schweiß und Dunst durchzogen" solle Dichtung wirken, schrieb Pablo Neruda Mitte der Dreißiger. Als der Nobelpreisträger 1973 starb, gehörte sein Werk zum poetischen Kanon des 20. Jahrhunderts. In deutscher Übersetzung wurde dieses Werk zuerst in der DDR gepflegt. Im Westen gab es Mitte der Achtziger eine repräsentative Auswahl bei Luchterhand, drei Bände stark. Sie ist längst vergriffen.

Jetzt hat der Verlag diese Ausgabe in erweiterter Form noch einmal publiziert. Sie enthält alle großen Zyklen des Meisters und Texte aus dem Nachlass. Nun kann man die Sammlungen wieder im Zusammenhang lesen, etwa "Aufenthalt auf Erden", "Spanien im Herzen" und den "Großen Gesang". Hinzugekommen sind drei Konvolute, die erst in den Neunzigern entdeckt wurden. Auf Deutsch erschienen sie in Einzelausgaben: die pubertäre "Ballade von den blauen Fenstern", "Hungrig bin ich, will Deinen Mund" (von 1959) sowie "Mare moto" (1970), als "Beben des Meeres" von einem "Tias" in einem Kleinverlag publiziert. Abgerundet werden die Bände durch eine Chronologie zu Leben und Werk, Anmerkungen sowie ein Verzeichnis der Original-Quellen und der Übersetzer.

Die Publikation hat Besonderheiten, manche wird der Leser jedoch nicht entdecken. Von Luchterhand erfährt man: Anliegen des Verlages war es - damals wie heute -, die verstreuten Übersetzungen zu bündeln. Die Vielfalt der (deutschen) Stimmen ist nun Vor- und Nachteil zugleich. Viele Übertragungen stammen aus DDR-Zeiten (von Erich Arendt, Stephan Hermlin, Fritz Rudolf Fries); für die Neuauflage wurden sie nicht revidiert. Die drei Bände zeigen des Weiteren nicht alle auf Spanisch erhaltenen Gedichte. (Aber: Welche Verse fehlen?) Die Auswahl ist mithin keine kritische Edition, sondern eine Leseausgabe. Ein Vor- oder Nachwort wäre in Hinsicht auf die Eigenarten hilfreich gewesen. Schade, es gibt nicht einmal eine editorische Notiz.

Auch eine Auseinandersetzung mit der ambivalenten Figur des Autors hat man vermieden. Es gab den einen Neruda, den Schöpfer anrührender Poeme und schlichter Liebesgedichte.
Er sei "die mächtigste Stimme des lateinamerikanischen Kontinents", sagte Hans Magnus Enzensberger irgendwann. Der Verlag wirbt mit dem Spruch.

Es gab einen anderen Neruda, den Klassenkämpfer im Kalten Krieg. West-Berlin fand er widerlich ("lepröse Fratze"), Ost-Berlin paradiesisch. Über diesen Neruda der Fünfziger schrieb Enzensberger, "ein Strom von Parteilyrik und platten Hymnen" sei aus seiner Feder geflossen. Nerudas Landsmann Roberto Bolaño formulierte 2002: "Wer imstande war, Oden an Stalin zu verfassen und die Augen vor dem stalinistischen Horror zu verschließen, hatte meinen Respekt nicht verdient." Von Stalin hat sich Neruda nach dessen Tod ein Stück weit distanziert, nicht aber von seinem Glauben. Die Oden an den "Völkerführer" ("Menschen Stalins!") und die Enttäuschung über seine Demaskierung, all die Spuren innerer Kämpfe finden sich in den drei Bänden. Man muss nur suchen.

Fazit: In Bezug auf die Rezeptionsgeschichte verharrt die Neuausgabe auf dem Stand der Achtziger. Und worin besteht ihr Wert? Luchterhand-Lektor Klaus Siblewski bringt es auf den Punkt: "Der wichtigste Wert besteht darin, dass es die Bücher wieder gibt."

Besprochen von Uwe Stolzmann

Pablo Neruda: Die Gedichte. Band 1-3.
Übersetzt von Fritz Rudolf Fries, Erich Arendt, Katja Hayek-Arendt, Stephan Hermlin, Fritz Vogelgsang, Monika López.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009, 2922 Seiten, 49,95 Euro