Klarsichtig und kritisch
Jürgen Habermas ist mit dem Großen Deutsch-Französischen Medienpreis ausgezeichnet worden. In seiner Dankesrede ging der Philosoph und Soziologe nicht gerade zimperlich mit der Bundesregierung ins Gericht und warnte vor nationalen Alleingängen.
Stehende Ovationen für einen der ganz großen Denker unserer Zeit. Auch mit fast 90 Jahren sind die Worte von Jürgen Habermas klarsichtig und kritisch wie eh und je. Und doch offenbart sich ihre eigentliche Wucht erst beim zweiten Hinhören. Den Streit in der deutschen Regierung wolle er erst gar nicht kommentieren, so Habermas. Denn darüber sei das eigentliche Problem, nämlich die fehlenden Kooperationsbereitschaft in Europa sowieso in den Hintergrund getreten.
"Der schwarze Peter liegt, denke ich, nun erst recht bei der Sorte von Europa-Freunden, die sich ihre tatsächlich gehegten Vorbehalte gegenüber einem solidarisch handelnden Europa nicht so ganz eingestehen."
Das Selbstverständnis der Deutschen als die "guten Europäer" habe sich als Selbsttäuschung offenbart, so Habermas. Solidarität sagen – und damit eigentlich Loyalität fordern: diese Umdeutung prägt aus seiner Sicht die Linie der Bundeskanzlerin in der Europapolitik. Was fehlt sei überhaupt der politische Wille, Europa handlungsfähig zu machen. Gerade diese Forderung nach mehr Mut zeichne Habermas als Idealtypus des öffentlichen Intellektuellen aus, sagte Bundesaußenminister Maas in seiner Laudatio:
"Wie kann Deutschland seiner Verantwortung für die Gestaltung einer europäischen Zukunft dann auch gerecht werden? Sie schonen dabei die deutsche Politik nicht, wenn sie ihr Mutlosigkeit ankreiden oder sie daran erinnern, dass auch Nicht-Entscheidungen von großer Tragweite sein können."
Die SPD unterfordert ihre Wähler
Deutliche Worte der Selbstkritik also – die der Preisträger aber dennoch nicht unkommentiert durchgehen ließ:
"Ich bin der Auffassung, dass die politischen Linken und an erster Stelle - es tut mir Leid, Herr Maas - die verzagten sozialdemokratischen Parteien ihre Wähler normativ unterfordern."
Denn: wer Mehrheiten wirklich gewinnen wolle – der müsse seine Ideen auch um den Preis der Polarisierung verteidigen. Hoffnung schöpft Habermas dagegen aus dem Auftreten des französischen Präsidenten Macron. Der habe den Mut zu einer gestaltenden Politik – ein Lob, für das sich der Präsident in einem Brief persönlich bedankte.
Die momentane Sinnkrise Europas und die Frage nach seiner Zukunft: das war in unterschiedlichsten Facetten auch das Leitmotiv in vielen der nominierten Beiträge. In seinem Text "Zwei Brüder" erzählt Preisträger Stephan Maus die Geschichte von Hamid und Hakim – und beschreibt so das Schicksal der ersten Generation von Einwanderern in Frankreich. Der ältere Bruder ist eine Größe der Marseiller Unterwelt – der jüngere arbeitet sich hoch, wird erfolgreicher Anwalt, glaubt fest an die republikanischen Werte. Und doch habe er gesehen, dass sein Bruder davon eben nicht profitieren konnte, sagt Maus.
"Da kann man sich fragen, was das für Werte sind, wenn sie für eine ganze Generation nicht gelten. Und was sollen das für Werte sein, die wir uns so sehr auf die Fahnen schreiben, wenn nicht die Schwächsten davon profitieren können, die hier Hilfe und Schutz suchen. Das macht für mich diese Geschichte so aktuell."
Gemeinsam für Europa
Zum Ende der Rede von Jürgen Habermas: ein Plädoyer, sich mit politischem Handeln gegen die augenscheinlichen Sachzwänge der Wirtschaft aufzulehnen. Gemeinsam in Europa – und nicht mit nationalen Alleingängen.
"Das gilt erst recht für die Asylpolitik, wenn die europäischen Nationen nicht in die vergiftete Mentalität ihrer Zeit als Kolonialmächte zurückfallen wollen."