Großes Kino auf "Oscar"-Kurs

Von Hans-Ulrich Pönack |
Ein Schiffbrüchiger rettet sich in ein Boot, gemeinsam mit einem verletzten Zebra, einem seekranken Orang-Utan, einer hungrigen Hyäne und einem Tiger. Die abenteuerliche Rettungsfahrt dauert 227 Tage. Der taiwanesische Regisseur hat die lange als unverfilmbar geltende Geschichte mit sagenhaften Bildern und reichlich Nerven-Suspense in Szene gesetzt.
Er ist der derzeit erfolgreichste lebende Filmregisseur, der 1954 in Taiwan geborene und seit 1978 in den USA lebende Ang Lee. Für seinen neuesten Film steht ein Ausnahme-Roman Pate: "Life of Pi". des kanadischen Schriftstellers Yann Martell, 2003 auf Deutsch unter dem Titel "Schiffbruch mit Tiger" erschienen.

Mit weltweit über sieben Millionen verkauften Exemplaren avancierte das Buch zum Bestseller, dessen Verfilmung aber für "unmöglich" gehalten wurde. Nach vielen "Anläufen" übernahm schließlich Ang Lee die Aufgabe, die Geschichte zweier ungewöhnlicher "Partner" in einem Rettungsboot zu erzählen und vor allem - adäquat zu visualisieren. In "passendem", also funktionierendem 3 D.

Sein Name klingt exotisch: Piscine Molitor Patel. Nach einer Pariser Schwimmanstalt. Die sein Großvater so mochte. Nach vielen Hänseleien nennt er sich fortan Pi. Pi wächst als jüngster Sohn eines Zoo-Besitzers in den 70er-Jahren im indischen Pondicherry auf. Inmitten eines exotischen Gartens, mit vielen verschiedenen Tieren und ganz eigenen Ansichten über den eigenen Glauben, sprich die unterschiedlichen Religionen und die menschliche, also animalische Natur.

Besonders ein Tiger namens "Richard Parker" hat es ihm angetan. Als es im Land zunehmend politisch unruhiger wird, beschließt die Familie nach Kanada auszuwandern. Mit einigen Tieren, die sich hier nicht veräußern lassen und dann dort verkauft werden sollen.

Auf dem japanischen Frachter Zimzum wird eingecheckt. Als der unterwegs, mitten in der Nacht, in einen fürchterlichen Sturm gerät und sinkt, landet Pi in einem Rettungsboot. Zusammen mit einem verletzten Zebra, einem seekranken Orang-Utan, einer hungrigen Hyäne und - "Richard Parker". Der sich unter die Plane geflüchtet hat.

Das Abenteuer kann beginnen. Dauer: 227 Tage. Enge, Aufruhr, seelische wie körperliche, die unterschiedlichen Bewegungen, Strömungen, die Stimmungen um Angst, Überlebenswillen, Hoffnung. Und wieder Angst. Und Resignation. Im Wissen um Endlichkeit. Dies auf solch "überschaubarem" Raum "durchweg" spannend, optisch opulent, vor allem plausibel, schlüssig wie unglaublich faszinierend filmisch zu komponieren, gelingt hier. Überzeugend. Grandios!

Mit sagenhaften Bildern und einem riesigen Ideen-Reichtum an Nerven-Suspense und märchenhaft-perfektem, (fast) nicht zu bemerkendem Trickreichtum. Mit anderen Worten: "SO ETWAS" gab es in der Kinematographie bisher noch nicht. Wenn Fische fliegen, ein Wal "durchsichtig" wird, ein Quallenschwarm leuchtet, eine Insel komplett aus Erdmännchen besteht und nachts nach Menschen- und Tierfleisch giert.

Die 3-D-Effekte des Teams um den Spezialisten und Oscar-Preisträger Bill Westenhofer sind verblüffend. Die Bilder des Kamera-Experten Claudio Miranda geraten gedankenvoll atmosphärisch. Begleitet vom ebenso einfühlsamen wie unaufdringlichen Score des kanadischen Komponisten Mychael Danna, der seit "Der Eissturm" zu Ang Lees "Filmfamilie" zählt. Und hier imponierend zwischen asiatischer Pop-Folklore und westlichen Symphonien lust- wie stimmungsvoll orchestral mitphilosophiert.

Sein Name gilt fortan: Suraj Sharma. Der Junge aus dem Boot. Pi. 17 Jahre alt. Bisher völlig unbekannt. Sohn eines Mathematikers. Lebte mit seinen Eltern in mittelständischen Vororten von Delhi. DIE lebhafte Entdeckung. Er trägt glaubhaft den Film. Mit einem Tiger als einzigem "Stichwortgeber". Auf einem kleinen Boot. Irfan Khan, bekannt aus "Slumdog Millionär", interpretiert den älteren Pi. Als Kommentator dieser unglaublichen Geschichte. Was für ein betörendes, Sinne und Kopf wunderbar klug wie herrlich emotional füllendes Kino-Ereignis. "Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger" ist auf "Oscar 2013"-Kurs.


Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger
USA 2012, Regie: Ang Lee - Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan u.a., 125 Minuten, freigegeben ab zwölf Jahren

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