Vom Symbol des neuen Wohnens zum Sozialgetto
Die Großsiedlungen der 1960er-Jahre wie im Märkischen Viertel in Berlin versprachen ein neues, besseres Wohnen. Wirklich gern wohnen dort aber nur die Wenigsten. Dennoch könnten wegen des Wohnungsmangels bald wieder neue Großsiedlungen entstehen.
Jürgen – 77 Jahre alt, Basecap und schwarze Adidashose – schiebt sich, gestützt auf einen Rollator, durch die Berliner Plattenbausiedlung Märkisches Viertel. Er zeigt auf sein Wohnhaus, einen 14-Geschosser, und klagt:
"Dit ist total anonym. Es spricht ja kaum einer hier. Wenn Sie 'Guten Tag' sagen im Fahrstuhl, die wissen gar nicht, was ich sage. Egal, wer dit ist."
Der pensionierte Polizist, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, erzählt, er habe eine schöne, ruhige Wohnung. Aber draußen sei es oft dreckig, und Kriminalität gebe es auch.
"Hier in den Uhrenladen sind sie mit dem Auto reingefahren und haben den ausgeraubt, mitten in der Nacht. In den Häusern, etagenmäßig, haben sie auch schon Leute überfallen. Haben sich falsch ausgegeben: Wir müssen mal den Zähler ablesen und dann ausgeraubt, jaja."
"Man gewöhnt sich daran"
"Naja, natürlich auch mal diese kleine Sachen, ob sie jetzt mal irgendwo hingepinkelt haben oder Hunde irgendwo in den Fahrstuhl gemacht haben – das ist dann natürlich wieder dieses Viertel-Leben!"
Lars Stempin, 34 und Gebäudereiniger, findet das Märkische Viertel eigentlich in Ordnung. Aber die Mieten in der "Platte" seien zu hoch. Dabei gebe es hier viele arme Menschen, viele Migranten.
"Hast Du da zehn, zwölf türkisch-arabische Jugendliche, wo Du - sage ich mal - von Deutschen nicht so eine Zusammenrottung hast, wo sie dann irgendwo abhängen. Aber man lebt halt zusammen, wie man lebt halt."
Ursula und Winfried, die ebenfalls nur ihren Vornamen nennen, betonen hingegen ihr gutes Verhältnis zu den türkischen Nachbarn. Natürlich biete so eine Hochhaussiedlung anfangs ein ungewohntes Bild, so die beiden Rentner. "Aber man gewöhnt sich daran!"
"Die Ausgangsfrage war eigentlich, wie die Großsiedlungen der 60er-Jahre vom großen Hoffnungsträger zum total verrufenen Sozialgetto geworden sind. Also wie hat sich innerhalb kurzer Zeit das Image so verschlechtert?"
Carla Aßmann arbeitet am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung und hat in einer Dissertation den Massenwohnungsbau im Märkischen Viertel untersucht sowie in einem Neubauviertel im französischen Toulouse. Beide Siedlungen sollten einst etwas Besseres schaffen als die langgezogenen Zeilenbauten der 50er-Jahre mit ihren engen Wohnungen. Plattenbau dicht an dicht hieß die Lösung, mit einer höheren Quadratmeterzahl pro Mieter.
"Es wurde sehr viel Propaganda gemacht für diese Siedlungen. Also, modern, ein glückliches Leben, neue Superstadt, Wolkenkratzer. Es hieß immer so: Mischung der sozialen Schichten, Großmutter neben Kinderreichen, Arzt neben Handwerker. Und das sollte im Endeffekt dazu führen, dass sich die Klassengegensätze und andere sozialen Gegensätze auflösen."
An den Bedürfnissen vorbeigeplant
Doch die Realität sah anders aus: undichte Dächer, schlecht isolierte Wände, keine Spielplätze, hohe Mieten – und vor allem kein urbanes Flair. Denn die Planer hatten etwa große Grünflächen als Begegnungsorte vorgesehen.
"In Mitteleuropa, in Deutschland, ist es halt sechs Monate im Jahr nicht so schön, draußen sich zu begegnen. Es ist vielleicht auch einfach weitläufig. Ja, das waren so bestimmte Vorstellungen, die normativ gesetzt wurden von den Architekten: so soll es sein! Die von den Leuten nicht angenommen wurden, weil nie irgendwo zukünftige Bewohner gefragt wurden: Wollt ihr einen Park als Begegnungszone oder wollt ihr vielleicht doch lieber einen Boulevard mit Geschäften?"
Schnell machte sich Enttäuschung breit. 1973 hagelte es selbst bei einem Stadtteilfest Beschwerden, als die Besucher Vorschläge einreichen sollten für eine Hymne über das Märkische Viertel.
"Und da gab's Zeilen wie: Eins sind wir ins MV gezogen/doch wurden wir dort nur betrogen!"
Andere Mieter nahmen das Versprechen eines Architekten aufs Korn, man wolle "Blumen und Märchen" bauen:
"Menschenmassen an der Mauer/immer höher in Beton/Wo sind die Blumen, was nennt ihr Fortschritt? Wir haben von Sprüchen die Schnauze voll./ Wir wollen leben und keine Märchen/ denn wir sind Menschen im Märkischen Sand!"
Erst Riesenhoffnung, dann Riesenfrust. Die Politiker und Planer hatten offenbar den Mund zu voll genommen.
"Sie hätten da wahrscheinlich etwas ehrlicher sein sollen. Und sagen: Wir haben hier große Pläne, aber wir machen das auch zum ersten Mal. Das wäre vielleicht ehrlicher gewesen."
Kommt die Platte bald wieder?
"Also erstmal glaube ich, dass es nicht unbedingt jetzt an der Platte liegt. Die Platte ist dann eigentlich nur ein greifbares, sichtbares materiellen Zeichen für etwas, was nicht funktioniert hat. "
Berlin-Kreuzberg, im Architekturbüro von Christoph Roedig. In der Garderobe: weiße und pinkfarbene Bauhelme. Rechts davon, in einem Regal: Mini-Modelle von Wohnhäusern. Roedig baut heute noch mit der Platte – mithilfe computergestützter Vorfertigung. Allerdings sind seine Wohnhäuser Einzelstücke und an die jeweilige Umgebung angepasst.
"Weil ich jede Platte individuell konfigurieren und bauen kann. Das ist die Lösung."
Roedig befürchtet, dass aufgrund der aktuellen Wohnungsnot bald wieder komplette Plattenbau-Siedlungen aufgestellt werden mit neuen Standardhäusern.
"Also, es wird immer noch versucht, die eierlegende Wollmilchsau zu erfinden, aber die wird es nicht geben. Ich glaube, der große Schlüssel liegt wirklich in der individuellen Vorfertigung, aber eben mit völlig unterschiedlichen Methoden und auch mit völlig unterschiedlichen Bauteilen – es gibt eben nicht das Gebäude, was wirklich alles kann und was alles erfüllt, das wird es nicht geben."
Wie aus dem Ärger der Menschen etwas Gutes erwachsen kann
Die Fehler, die bei den Berliner Plattenbausiedlungen der 60er-Jahre gemacht wurden, hatten aber auch ihr Gutes. Nach Angaben von Sozialforscherin Carla Aßmann schlossen sich die Mieter nämlich zusammen, um gegen die Missstände zu kämpfen.
"Im Märkischen Viertel haben sie mit ihren Kindern das Rathaus besetzt. Sie haben Richtfeste gestört, Flugblätter verteilt, Elterninitiativkindergärten gegründet, auf Baugrundstücken Abenteuerspielplatz eingerichtet. Sie haben Mieterschutzbund gegründet, Zwangsräumungen verhindert, einen Mietstreik angezettelt – die haben riesige Aktionen auf die Beine gestellt."
Bis heute, mehr als 50 Jahre später, gibt es in dem sozial schwachen Kiez eine aktive Mietrechtsberatung und Stadtteilfeste. Die Bewohner geben sich nicht ihrer Enttäuschung hin, sondern kämpfen gegen alle "Betonköpfe".
"Eigentlich hat der Ärger eher dafür gesorgt, dass die Leute aktiv geworden sind – und ich sehe da ein großes Potenzial."