Leben auf dem Land

Wo Gendern keinen interessiert

28:42 Minuten
Drei Landfrauen stehen zusammen, im Hintergrund sind Felder und Wald zu erkennen.
"Wir leben nicht hinter dem Mond!" Drei Landfrauen während ihrer Kunstwanderung, in der Mitte Gerlinde, rechts Anita. © Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Von Heiner Kiesel · 18.05.2023
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Wer auf dem Land lebt und Medien aus der Hauptstadt konsumiert, kommt immer öfter ins Staunen: Da wird erbittert gestritten über Gendersternchen, Veganismus und Pop-up-Fahrradwege. Was hat das mit der Lebenswelt auf dem Dorf zu tun?
Ein winziger Bahnhof mitten in der Landschaft, südlich der Rhön, Franken. Es riecht erdig und nach feuchtem Laub. Eine Idylle, auf den ersten Blick. Ich war ein paar Tage in der Hauptstadt: Interviews, Besprechungen, Debatten, Aufgeregtheit: Berlin eben. Jetzt bin ich wieder zurück in meiner Heimat, auf dem Land. Das fühlt sich an, wie in einer anderen Welt. Nicht nur wegen der Ruhe und des weiten Horizonts.

Die Sicht derer, die im Hochhaus wohnen

Alles, was die Städter bewegt, lesen wir in der Zeitung, im Newsfeed oder ertragen es in den Talkshows: Pop-up-Radwege, Gender-Sternchen, Veganismus, Karriere-Barrieren für Frauen. Manchmal auch Typisches vom Land wie Tierzucht oder Forstwirtschaft. Aber halt aus Sicht von Menschen, die im Hochhaus leben. Hier draußen frage ich mich oft, was meine Nachbarn von diesen Themen halten. Ich beschließe, sie zu fragen, und jetzt beginnt im wahrsten Sinne des Wortes die Feldforschung.
Ich habe eine halbe Stunde Heimweg vor mir: zu Fuß. Busse fahren hier nicht. Kein Jammern, der Weg ist eigentlich ganz nett, und wenn ich da runter zum Parkplatz schaue, packe ich doch gleich mal mein Aufnahmegerät aus.

Organisiert im Landfrauenverband

Die Gruppe, würde ich mal sagen, ist so 40 Personen stark, ungefähr zehn Männer. Es dominieren Nordic-Walking-Stöcke. „Begrüßen wollte ich eigentlich auch unsere Kreisbäuerin, die Edeltraut Häusler vom Bauernverband, aber die musste sich jetzt leider auf den Traktor setzen. Es ist Getreideernte. Die lässt sich entschuldigen. Schöne Grüße!“
Ich bin beim Verband der Landfrauen gelandet, eine Unterorganisation des Bauernverbandes. Die machen heute eine Kunstwanderung zu Skulpturen, die ein örtlicher Kulturverein in die Landschaft gestellt hat. Die Führung geht ein Stück weit in meine Richtung. Die stellvertretende Kreisbäuerin findet es okay, wenn ich mitlaufe. „Auf jeden Fall!“
Ich will nicht näher auf die Kunstwerke eingehen. Sie sind meistens über zwei Meter groß, aus Holz, und es sind mindestens zwei Heilige dabei. Kultur auf dem Land ist ein Thema für sich. Ich will ja wissen, was diese Frauen so umtreibt. Denn so gesehen sind die organisierten Landfrauen ja das ländliche Gegenstück zu einer urbanen Frauengruppe.

Die Gemeinschaft zählt

Am Schluss der Gruppe laufen Gerlinde und Anita. Anita hat ihre Sonnenbrille hochgeschoben. Sie trägt ein blaues kurzärmeliges Kleid mit weißem Blumenmuster. Sie gehört zu den Jüngeren in der Gruppe. „Auf dem Land haben die Landfrauen eine sehr lange Tradition. Ich bin ja noch nicht so lange dabei, aber wenn man so neu dazukommt, findet man da schnell Anschluss. Einfach, um Neues zu erfahren, wegen der Gemeinschaft. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.“
„Und es darf jeder mit,“ mischt sich Gerlinde ein, „der muss nicht im Verband sein, das ist für jeden offen“. Gerlinde ist schon länger dabei. Sie ist Chefin ihrer Ortsgruppe, Ortsbäuerin, Organisatorin eines kompletten Jahresprogramms.
„Im Frühjahr geht es normalerweise mit einem Kaffeenachmittag los, da kommt dann immer ein Referent dazu. Dann haben wir schon viele Gymnastikkurse abgehalten, Wirbelsäulengymnastik, Trittsicherheitstraining für Ältere, Kochkurse im Pfarrheim. Das wird immer sehr gut angenommen. Dann binden wir jedes Jahr, einen Tag vor Maria Himmelfahrt, Kräutersträußchen, die hängt man sich ja dann für den Rest des Jahres ins Haus.“

Hausfrau ist auch ein Beruf

„Was interessiert denn die Landfrau, die Frau auf dem Land?“, frage ich die Chefin. „Für Gestaltungsideen gibt es Kurse: Tischschmuck. Und dann hatten wir schon Vorträge, egal ob für Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Auch Weihnachtsbasteleien, Flechtkurse mit Weiden. Dann gibt es auch immer wieder spirituelle Vorträge, ganztägig, da nimmt man was mit fürs Leben, damit man sich umbesinnt, auf das Leben, auf eine andere Weise nachdenkt.“
Emanzipation, Karrierechancen, Geschlechtergerechtigkeit, Transgenderidentitäten, das sind so die Themen aus der Stadt. Was sagt das den Landfrauen? Anita lacht. „Wir wissen, was das ist, so ist das nicht. Wir leben nicht hinter dem Mond! Aber das bewegt uns nicht so.“ Gerlinde stimmt zu. „Ich glaube das ist nicht so ganz auf unserer Wellenlänge. Wir sind sehr naturverbunden, kennen uns mit den Pflanzen aus und auch, dass man die Erdbeere isst, wenn sie wächst und nicht im Winter. Wir wissen das alles, wir Landfrauen.“
Die Landfrauen sind vielleicht speziell, aber sie treffen schon ganz gut den Nerv: Man schüttelt hier den Kopf über vieles, was die da in der Stadt bewegt. Gendergerechte Sprache mit Sternchen und Binnengroßschreibung? Achselzucken. N-Wort mit vier Sternchen, was meinst du damit? Bei Anita und Gerlinde im Dorf lebt seit 50 Jahren ein Transmann. Keiner würde ihn so nennen, aber er ist halt da, das ist okay. Hier kümmern sich die Mütter um die Kinder. Es reicht, wenn die Männer malochen gehen. Die Hausarbeit ist stressig genug. Die Gruppe kommt an einem extra vorbereiteten Getränkestand vorbei. Sekt und Häppchen als Stärkung für zwischendurch. Ich sage Tschüss und gehe weiter durch den Wald.

Komparse im Freizeitpark für Städter

Wobei: Was ist hier eigentlich Wald? Das klingt so nach Natur. In Wirklichkeit laufe ich gerade durch einen Forst. Hier ist fast jeder Baum geplant und von Menschenhand gepflanzt. Den Leuten, denen das hier gehört, geht es nicht um tolle Ökosysteme und eine Heimstatt für allerhand Käferchen. Im Gegenteil. Der Borkenkäfer ist hier noch ein Ungeziefer. Schließlich will man vom Forst leben.
Ein junger Mann steht am Waldweg und schaut in die Kamera.
Muss zwischen den Interessen der Städter und der Landbevölkerung vermitteln: Jürgen Metz, Abteilungsleiter im Landratsamt Bad Kissingen.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Die Städter suchen ja gerne den Wald – am Wochenende zur Entspannung. Hier geht schon wieder so eine Mountainbikestrecke von der Straße ab. Manchmal hat man das Gefühl auf dem Land, dass man Komparse ist in einem Freizeitpark. Und der Mann da – sportlicher Typ, mit weißen Sneakers und einem hellblauen Business-Hemd –, was macht der hier? „Ja, mein Name ist Jürgen Metz. Ich bin Abteilungsleiter im Landratsamt Bad Kissingen, zuständig für die Geschäftsleitung, Wirtschaftsförderung, Kreisentwicklung und den Tourismus.“ Das hört sich so an, als ob er für irgendwie alles zuständig ist, in diesem Landkreis. Wie es scheint, auch für die Mountainbikestrecken.

Wald als Kulisse oder Wirtschaftsraum

Der Mann aus dem Landratsamt ist rausgekommen, um mal nach dem Rechten zu schauen. Ob der Trail in Ordnung ist, nach den letzten heftigen Gewittern. Damit unsere Gegend auch schön interessant bleibt für die Städter. Metz erklärt sich. „Zum einen bin ich selbst Mountainbiker und wir haben schon ein großes MTB-Netz. Aber der Sport hat sich verändert. Die Mountainbiker möchten gerne intensivere und interessantere Stecken haben, zum Beispiel Trails, die ein bisschen enger sind. Da müssen wir reagieren. Der Freizeitdruck wird immer größer, auch die Konkurrenz zu anderen Gemeinden und Mittelgebirgen. Deswegen haben wir uns überlegt, hier ein Netz auszuweisen.“
Da kommt einiges zusammen. Wirtschaftsinteressen, Naturschutzauflagen, Freizeitdruck. „Also die Städter kommen wirklich hierher und wollen sich erholen, und die Kunst ist die, die dann auch in die Gebiete zu lenken, die dann unproblematisch sind. Wenn man die dann überall hinlassen würde, dann gäbe es Probleme mit der Jagd, dem Forst, dann auch mit der Landwirtschaft. Da gibt es Bereiche, bei denen man aufpassen muss, dass nicht überall die Gäste hingehen.“
Dieses Verhalten irritiert uns Landmenschen: Die Städter kommen raus und sehen Wälder und weite Landschaften. Ein Labsal nach dem Lärm, Staub und Stress der Stadt. Aber sie sehen gar nicht, dass viele von uns vom Wald leben. Leben müssen. Genau, sagt Metz. „Es ist einerseits eine Kulisse für die Städter, aber für die, die hier leben, ist es ein Wirtschaftsraum. Genau, das ist der Punkt.“

Windräder verschandeln die Landschaft

Meine Großeltern wären nie auf die Idee gekommen, da am Sonntag spazierenzugehen. Man erholt sich ja nicht so gut, wenn man zu seinem Arbeitsplatz geht. Aber die freizeithungrigen Städter nehmen das natürlich anders wahr und nehmen sich, was sie brauchen. Querfeldein. Drei Viertel aller Bundesbürger wohnen in mehr oder weniger großen Städten, Tendenz steigend. Die brauchen die Flächen hier draußen nicht nur zur Erholung. Sie pflastern sie mit Autobahnen zu, um ihre Zentren zu verbinden, lassen sich durch Mega-Versandzentren auf unseren ehemals grünen Wiesen versorgen und für die Energiewende sind wir ja auch noch zuständig. Metz runzelt die Stirn.
„Das ist natürlich auch ein Riesenthema, denken Sie an die Photovoltaik, an die Windkraft. Da gibt es höchst unterschiedliche Meinungen, auch auf dem Land. Und was auch momentan bei uns noch in der Diskussion ist, sind die Stromleitungen, die von Nord nach Süd gehen. Auch da ist es ja so, dass das Land ein Stück weit nichts davon hat, das sind große Stromautobahnen, die von oben runtergehen in irgendwelche Wirtschafts- und Ballungszentren. Da sind die Menschen hier, vorsichtig ausgedrückt, not amused." Uns auf dem Land wird ständig was reingedrückt. Das ist so ein Grundgefühl. Wir murren, aber am Ende machen wir mit. "Man hätte dann gerne immer viel Energie, aber wenn man in die Landschaft geht, dann soll alles wunderschön sein und keine Photovoltaikanlagen sein, keine Windkraft."
Wenn alles voller Windkraftanlagen steht, dann finden die Städter das auch nicht schön und geben ihr Geld lieber woanders aus, davon geht man hier aus. Metz sitzt da zwischen den Stühlen. Es ist zäh und verlangt Ausdauer, wenn man da vermitteln will. Bei den Mountainbikestrecken ist es ihm gelungen.  Förster und Jäger können mit den Routen leben, die Biker haben ein Angebot, das ihnen Spaß macht. Jürgen Metz ist mit dem Zustand der Strecke zufrieden. Der Mann aus dem Landratsamt geht zurück zu seinem Auto. Ich gehe weiter.

Die Dauerbotschaft: Ihr Umweltsünder!

Ein paar Schritte durch den buschigen Waldsaum. Dann stehe ich vor einer Ackerfläche. Weites Land, aber ich sehe schon die Haube des heimatlichen Kirchturms. Da unten grasen braune Rinder, an denen muss ich vorbei. Idyllisch – aus der Stadtperspektive. Oder wie ich es von den Leuten hier immer wieder höre: den Studierten da. In Wirklichkeit ist es eine Katastrophe. Agrarsteppe. Glyphosat, Phosphat, Nitrat. Lese ich meine Hauptstadtzeitung, dann killen Rübenbauern die Bienen. Und das ist längst nicht alles. Ich sag nur Gülle. Die Landbewohner haben es verbockt. Das ist die Dauerbotschaft. Rund ein Siebtel der deutschen Klimagase, sagt der WWF, geht auf die Bauern zurück. Vor allem wegen der Tierhaltung.
Da kommt ja schon einer von denen. Beeindruckender Schlepper. Massey-Fergusson, rot. Darauf sitzt Petra. „Mein Name ist Petra Schmalbruch und ich bewirtschafte hier einen landwirtschaftlichen Biobetrieb mit Mutterkuhhaltung, Getreideanbau, alles, was so dazugehört.“ Petra ist Mitte 40, seit 20 Jahren Landwirtin, seit fünf Jahren öko. Eine hochgewachsene Frau mit kräftigen Händen. Es sind ihre Rinder. Sie geht zu einer Ecke des Elektrozauns und versetzt die Pflöcke, damit die Tiere an neues Futter rankommen. „Es ist so trocken, dass man Schwierigkeiten hat, die Pfosten reinzukriegen.“ Petra kann ich nicht wegen des Chemiedüngers und fieser Unkrautvernichtungsmittel drankriegen. Die Rinder stehen auf einer Kleegrasfläche und weiden sie ab.

Bauernkinder werden als Tiermörder beschimpft

Der Klee den die Tiere abweiden, erzeugt den Stickstoff in den Boden. Natürlicher Dünger für die nächste angebaute Kultur. „Das sind jetzt elf Jungrinder. Das sind die Rinder, die im letzten Jahr auf die Welt gekommen sind,“ erklärt Petra. „Und wie lange haben die noch vor sich?“, möchte ich wissen. „Das muss ich mir noch überlegen. Wahrscheinlich ein Jahr, so ein gutes Jahr.“ Ich komme zum Thema: „Ich habe da so einen Bericht gelesen, von einer Bäuerin in Niedersachsen, deren Kinder sind als Tiermörder beschimpft worden.“
Ein Frau mit ihren Kühen auf einem Feld.
Die Landwirtschaft steht permanent unter Rechtfertigungsdruck: Das merkt bisweilen auch die Biobäuerin Petra Schmalbruch.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
„Da bin ich schon zwiegespalten. Auf der einen Seite kann ich jeden Veganer verstehen, der kein Fleisch isst, weil er diese ganze Produktion nicht unterstützen will. Auf der anderen Seite haben wir eben dieses ganze Grünland und können es eigentlich nur über den Wiederkäuer verwerten." Den Tieren geht es doch gut, sagt die Bäuerin. Sie haben Luft, Platz und können sich selbst raussuchen, was sie essen. Aber: Die Wiederkäuer stehen ganz oben auf der Rangliste der Klimakiller, weil sie Methan pupsen. Das ist schlecht für die Zukunft unserer Kinder. Petras Schultern sacken kurz ein. Ein Lebensmodell wankt.
„Das setzt mich doch schon ein bisschen unter Druck, weil ich glaube, dass ich alleine die Erde auch nicht retten kann. Aber ich tue mein Bestes und versuche, schonend mit der Umwelt umzugehen. Ich versuche, Humus aufzubauen, um CO2 zu binden. Aber das ist natürlich auch schwierig, besonders bei uns in Unterfranken, wenn ich so trockene Jahre habe und ganz wenig wächst, dann bin ich kaum in der Lage, Humus aufzubauen.“
Die Landwirte stehen unter permanentem Rechtfertigungsdruck. Sie sind auf die Konsumenten in der Stadt angewiesen und von dort kommen die Subventionen, die sie zum Überleben brauchen. Letztlich denken die sich in der Stadt aber immer mehr Vorschriften fürs Land aus. „Das nervt schon gewaltig. Da gibt es Einiges, was schiefgelaufen ist. Also man kann nicht nur Erwartungen an die Landwirte stellen und sagen, sie müssen ökologisch wirtschaften und nicht dafür sorgen, dass sie das entschädigt kriegen. Oder auch eine gewisse Planungssicherheit haben. Das ist ja das nächste Problem in der Politik. Dass die Politik alle paar Jahre was anderes sagt und die Landwirte müssen ja mindestens mal 15 Jahre kalkulieren können, wenn sie wirklich mal einen Stall bauen und noch länger.“
„Ich muss jetzt wieder Heim und die Sämaschine einspinnen und will zum Säen rausfahren“, kürzt Petra unser Gespräch ab und lädt mich ein, auf dem Traktor mitzufahren. Vibrierende Power, ein erhabener Blick aus der verglasten Kanzel. Ich kann verstehen, dass laut Umfragen eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger am liebsten auf dem Land leben würde. Auch wenn wir uns nur bedingt um Blühstreifen und Feldhecken bemühen. Petra schüttelt den Kopf. "Ich kann ja alles Mögliche machen, aber da musst du ja wirklich Idealist sein und dein Geld anderweitig verdienen, weil: Ich kann ja nicht einfach Hecken pflanzen, ohne dass ich was davon habe.“

Mehr Gärten in der Stadt als auf dem Land

Aber Hand aufs Herz: Mit rissigen Händen bearbeitet heute niemand mehr seine Scholle auf dem Land. Wahrscheinlich pflegen sogar in der Stadt mehr Leute einen Gemüsegarten als in meinem Dorf. Wir leben urban, kaufen unser Zeug im Supermarkt, bestellen online, arbeiten in der nächsten Stadt. Die Grenzen scheinen da manchmal zu verschwimmen. Aber trotzdem fühlen wir uns doch alle ein bisschen Country. Vielleicht durch die Großeltern, vielleicht aus Trotz. Und dazu gehört sicher das Gefühl, dass man uns bitte in Ruhe unser Leben leben lassen soll. Petra hat das Dorf erreicht, ihr Hof ist ein altes Anwesen, restauriert.
Fast geschafft. Jetzt bin ich schon bald zu Hause. Das Besondere an diesem Weg heute ist, dass ich ihn ohne Auto zurückgelegt habe. Ich laufe jetzt durch das Zentrum meines Heimatortes. Kriegerdenkmal, Kirche, Rathaus. Kaum ein Mensch unterwegs, ohne Auto. Gegenüber vom verwaisten Pfarrhaus steht so eine Mitfahrerbank, so eine wo man sich hinsetzen soll und irgendjemand nimmt einen mit. Praktisch. Komfort-Trampen ohne ausgestreckten Daumen. Die Bank ist orange-hellblau. Ich habe ehrlich gesagt noch nie jemanden hier sitzen sehen. Aber mir kommt sie ganz recht. Da kann ich bequem die Batterien im Aufnahmegerät wechseln. Die sind nämlich ziemlich am Ende.

Ohne Auto geht gar nichts

Aber jetzt hält tatsächlich einer an. Na klar, so ein Dieselmonster-Pickup-Truck. Davon gibt es jetzt schon zwölf im Dorf. Es ist Tizian, ein 21-jähriger junger Kerl aus meinem Dorf, der mit anbietet, mich mitzunehmen. Die breiten Schultern stecken in einem schwarzen Hoodie, leicht rötlicher Vollbart, braune Augen. Ein freundliches Gesicht. Ich habe das schon miterlebt in Berlin, dass Fahrer solcher SUVs, der hier ist grau und fast zwei Meter hoch, heftig angegangen werden, weil sie mit sowas durch die Stadt kurven. Das mache ich nicht. Aber ich frag mich schon: Warum braucht er einen zwei Tonnen schweren Geländewagen ohne Kofferraum?
„Ich fahre jetzt einen VW-Amarok. Das Auto fahre ich, weil ich damit gut im Gelände zurechtkomme. Ich kann auf der Autobahn von der Geschwindigkeit her mitschwimmen. Ich kann größere Lasten damit rumfahren, einen Hänger ziehen und das alles in einem Auto!“

Das wichtigste Dokument: der Führerschein

In der Stadt ist es ja vielen jungen Leuten, das hört man immer wieder, gar nicht mehr wichtig, einen Führerschein zu machen. Weil Autofahren was für altmodische Spießer ist, die es nicht geschnallt haben, dass das eine ziemlich miese Methode ist, von A nach B zu kommen. Klima, Feinstaub, Lärm! Aber hier? Tizian will Trucker werden. „Das wichtigste Dokument? Klar, der Führerschein!“
Ein junger Mann steht an ein Pickup angelehnt und schaut in die Kamera.
"Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch keine Lust, mit dem Fahrrad rumzufahren.“ Stattdessen fährt Tizian lieber Pick-up.© Deutschlandradio / Heiner Kiesel
Die jungen Leute fiebern dem Führerschein entgegen, die Alten haben Angst vor dem Tag, an dem sie nicht mehr fahren können. Der Tag, an dem sie gefühlt die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Ich frage Tizian nach der Motorisierung seiner vierköpfigen Familie. „Wir zu Hause haben vier Fahrzeuge, eines fahre ich, eines mein Bruder und meine Eltern haben auch je eines. Dann haben wir noch zwei Motorräder und einen Traktor für das Holzmachen.“ Vielleicht sollte ich der Sicherheit zuliebe dazusagen, dass das wirklich eher der Normalfall ist. Und wir fahren wirklich alles mit dem Auto, was weiter weg ist, als die Garage.
„Ja, das ist einfach die Bequemlichkeit. Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch keine Lust, mit dem Fahrrad rumzufahren.“ Tizian fährt auch zum Laden mit dem Auto. Das sind 500 Meter. Das kann jemand mit der U-Bahn vor der Haustür und Parkplatzproblemen wahrscheinlich nicht begreifen. Wir fühlen uns einfach hilflos ohne Auto.

SUV statt E-Auto

„Gestrandet vielleicht nicht, man hat ja noch ein Fahrrad und seine beiden Füße, aber das Auto ist schon noch was anderes. Du weißt, was ich meine.“ Klar! Wir schauen beide dem Verkehr auf der Kreisstraße nach. Die Verkehrssoziologen haben einen tollen Begriff von Mobilität. Mir hat das mal einer von der TU Berlin so erklärt: Mobilität ist Bewegung, die Teilhabe ermöglicht, an der Gesellschaft, Kultur und Bildung, Arbeit und so weiter. Bei Mobilität denkst du hier auf dem Land an Auto. Und sonst nichts.
Die Rahmenbedingungen, die dazu geführt haben, dass wir so sind, wie wir sind, die haben wir uns nicht selber ausgedacht: dass die Landkreise immer größer geworden sind, die Krankenhäuser immer weiter weg und der Laden vor Ort kaum noch aufhat. So sind wir zu Auto-Junkies geworden, Wohnen und Arbeiten am gleichen Ort, hatten wir vor 100 Jahren schon mal. Dienst- und Lastenfahrräder: Viel Spaß im Schneetreiben. Jahreskarte für Bus und Bahn: keine Ahnung, wann die fahren. Car-Sharing: mit wem? Aber E-Autos, die wären doch was. Tizian schaut auf seinen Pick-up, zögert, dann schüttelt er den Kopf. Nicht sein Ding. „Das wäre für mich auch nicht sinnvoll, wenn jeder mit einem E-Auto rumfährt, weil die Batterien müssen ja auch entsorgt werden, dann braucht jeder so eine Ladestation.“

Zwei Welten, keine Begegnung

Tizian muss weiter und fährt mich in der Werkstatt vorbei, in der mein Auto steht. Ich sitze auf dem Beifahrersitz im SUV. Das ist wie in der Schlepperkabine, nur wesentlich komfortabler. Der Überblick, Tizian gefällt das. Weniger gefällt ihm, dass der Sprit immer teurer wird. In der Stadt finden das viele super, von wegen CO2-Ausstoß senken. Zehn bis 13 Liter verbraucht der Amarok, sagt Tizian. Ich frage ihn, ob er sich ein Leben ohne Auto vorstellen könnte. Wegen des Klimas und so. „Wünschenswert wäre das schon, aber das ist schwierig, das auf dem Dorf durchzuführen.“
Ob ich mir das vorstellen könnte, fragt er zurück. Ich stocke bei der Antwort. Klar weiß ich, was die zeitgemäße, die richtige Antwort ist. Dass man es versuchen muss, Alternativen suchen. Tolle Ideen dazu stehen alle in meiner Hauptstadt-Zeitung. Das Richtige tun, das ist aber ganz schön anstrengend auf dem Land. Vielleicht bestelle ich einfach meine Zeitung aus der Hauptstadt ab, damit ich besser schlafen kann, in meiner Parallelwelt.
„Glaubst du, dass die Leute in der Stadt verstehen, wie das Leben auf dem Land ist?“ Tizian muss nicht lange nachdenken: „Nein, das glaube ich nicht.“

Hinweis: Wiederholung vom 21.11.2021

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