Wie Aerosole überlistet werden sollen
29:55 Minuten
Um herauszufinden, wie Großveranstaltungen in Coronazeiten stattfinden können, starten Forscher im Sommer 2020 ein Experiment: ein Konzert in der Arena Leipzig. Der Druck ist enorm: Schnelle Ergebnisse sollen her. Dann kommt die zweite Coronawelle.
Tim Bendzko greift auf der riesigen Bühne zum Mikrofon. "Unsere Aufgabe ist heute relativ überschaubar. Wir sind dafür da, um ein bisschen für Unterhaltung zu sorgen. Um das Ganze so realistisch wie möglich zu gestalten. Und da ihr ja alle in eurer Funktion Weltretter seid, spielen wir jetzt: Nur noch kurz die Welt retten."
Es ist der 22. August in der Arena Leipzig. Tim Bendzko will die Welt retten, zumindest die Veranstaltungsbranche, und 1400 Testzuschauer sollen dabei helfen. Da sitzen die Fans auf Stühlen, alle tragen Maske und blicken brav zu Bendzko auf die Bühne – ein ungewöhnliches Bild in einer Konzerthalle, in der normalerweise alle eng beieinander stehen, mitsingen und tanzen. Aber es ist ja auch ein ungewöhnliches Experiment, das hier stattfindet: Restart-19.
Drei Konzerte, drei Szenarien
Die Mediziner der Uniklinik Halle haben das Konzert organisiert, denn sie wollen herausfinden, unter welchen Umständen solche Veranstaltungen während einer Pandemie stattfinden können. Eigentlich hatte man auf 4000 freiwillige Teilnehmer gehofft. Nun verteilt sich gerade einmal ein Drittel in der riesigen Halle, die 8000 Zuschauer fasst.
Coronatest vorher, erst selber einen Abstrich machen und dann per Post verschicken – vielleicht hat das manche abgeschreckt mitzumachen. Auch für mich, der als Journalist dabei ist, wird es spannend: Erst am Abend vor der dem Konzert erfahre ich, dass ich coronanegativ bin, also aus der Arena berichten kann. Die Erwartungen sind hoch, die Infektionszahlen niedrig – es ist August. Die ganze Veranstaltungsbranche fiebert den Ergebnissen entgegen.
Ein Tag vor dem Konzert: Die letzten Stuhlreihen in der Arena Leipzig werden aufgebaut. Es sind die letzten Vorbereitungen vor dem Konzert. Oder besser gesagt: vor den drei Konzerten an einem Tag. Denn die Veranstaltung findet in drei Varianten statt: immer mit Mundschutz, aber mit drei verschiedenen Sitzabständen. Im ersten Szenario sitzen die Zuschauer nebeneinander, dicht an dicht, wie vor Pandemie. Im zweiten Szenario werden die Zuschauer im Schachbrettmuster angeordnet, also zwischendrin immer ein Stuhl frei. Die letzte Variante: 1,5 Meter Abstand zwischen einem Besucherpaar. Das ergibt hochgerechnet eine Gesamtkapazität von gerade mal 25 Prozent. Das heißt: drei Viertel der Halle bleiben leer.
Matthias Kölmel, 29 Jahre alt, ist im Stress. Guter Stress, Veranstaltungsstress. Das erste Mal seit Monaten wieder. Kölmel ist einer von zwei Geschäftsführern der Betreibergesellschaft der Arena Leipzig.
"Unsere letzte Veranstaltung war am 10. März 2020 mit James Blunt. Seitdem hatten wir hier keine Veranstaltung mehr im Haus. Wir haben Kurzarbeitergeld beantragt, eigentlich direkt nach dem Verbot, weil wir wussten, das wird jetzt länger so gehen. Das ist alles, was wir haben jetzt."
"Unsere letzte Veranstaltung war am 10. März 2020 mit James Blunt. Seitdem hatten wir hier keine Veranstaltung mehr im Haus. Wir haben Kurzarbeitergeld beantragt, eigentlich direkt nach dem Verbot, weil wir wussten, das wird jetzt länger so gehen. Das ist alles, was wir haben jetzt."
Es war nicht einfach, dieses Test-Konzert vorzubereiten: Es sind die Szenarien, es sind die Eingänge – alles muss realitätsgetreu nachgestellt werden.
"Organisation und Aufbau sind ein Tick anders. Man muss die anderen Einlässe beachten. Und die drei unterschiedlichen Szenarien: Wir hatten eben auch noch nicht an einem Tag drei Konzerte. Normalerweise kauft sich ein Besucher ein Ticket und geht dann zum Konzert. Jetzt haben wir dazu aufgerufen, bei dieser Studie mitzumachen. Und hoffen natürlich, dass da alle kommen, dass alle motiviert sind. Und ja, das ist natürlich der große Unterschied zwischen einem normalen Konzert und dem Studientag morgen."
Es kommen weniger Besucher als erwartet
Kurz nach zehn Uhr vor der Arena Leipzig am Tag des Testkonzerts. Es nieselt. Am Osteingang warten mehrere hundert Zuschauer. Alle mit negativem Coronatest und weißen FFP2-Masken. Das ist ein hochwertiger medizinischer Mund-Nase-Schutz. Um den Hals der Leute baumeln kleine schwarze Bewegungssensoren, sogenannte Tracer. Die zeichnen alles auf – wo, wie lange und wie oft sich die Testzuschauer begegnen. Das Problem am Morgen: Die Helfer der Uniklinik Halle haben etwa 80 Tracer falsch zugeordnet, ein Signalchaos droht. Ein Troubleshooter muss her, ein Programm, das die einzelnen Bewegungssensoren wieder richtig einstellt.
Nach einer halben Stunde Verzögerung geht es weiter. Statt 4000 Zuschauern kommen nur 1400, doch die, die kommen sind hochmotiviert. Klar, viele sind ebenfalls aus der Veranstaltungsbranche.
"Wir sind von der Mercedes-Benz-Arena Berlin. Auch eine sehr große Halle, noch größer als die Arena Leipzig. Für uns ist es natürlich auch wichtig, dass es weitergeht. Um zu schauen, was zu tun ist, damit wieder Live-Erlebnisse möglich sind."
"Ich bin technischer Leiter von einem großen technischen Veranstaltungsverleiher. Die Hoffnung ist schon, dass dadurch eine Studie entsteht, die man auch auf politischer Ebene verwenden kann. Um auch einfach Argumente den Politikern gegenüber zu liefern, dass eine Veranstaltung trotzdem sicher durchgeführt werden kann. Weil die Situation, wie sie momentan ist, ist für uns nicht länger tragbar. Vor allem nicht ohne weitere Unterstützung."
Die Hoffnung der Branche lastet auf seinen Schultern: Studienleiter Stefan Moritz, 46 Jahre alt, Leiter der Klinischen Infektiologie der Uniklinik Halle. Stefan Moritz bekommt gerade Anfragen aus Australien, Belgien und Dänemark. Dort sollen demnächst ähnliche Studien gemacht werden, aber Restart-19 in Leipzig ist die erste. Normalerweise ist eine Vorbereitungszeit von mindestens einem Jahr üblich. Jetzt waren es nur drei Monate.
Stefan Moritz steht im neongelben T-Shirt auf der Bühne der Arena Leipzig und erklärt dem Publikum, worum es bei dem Ganzen hier geht.
"Und wenn ihr euch jetzt mal hier umschaut, in dieser riesigen Arena, hier haben dann insgesamt 1650 Leute Platz. Normalerweise sind es 8000. Da das nicht gut funktioniert, müssen wir Wege finden, die irgendwo dazwischen liegen."
Tim Bendzko freut sich, vor echten Menschen zu spielen
Einlass, Einweisung und dann ist zwischendurch auch er mal dran: Tim Bendzko und Band spielt "Unter die Haut". Musik, Pause, Umsetzen, Musik, Pause, noch einmal Umsetzen: So geht das den ganzen Konzerttag. Auch für den Künstler ist das ungewohnt. Doch Tim Bendzko ist selbst überrascht, wie gut es ihm tut, vor echten Menschen aufzutreten.
"Weil ich schon damit gerechnet hatte, dass es sich alles ein bisschen steriler anfühlt, wenn alle mit einer Maske vor einem sitzen, und das Ganze eher einer Versuchsanordnung gleicht, als dem normalen Bild, was man so sieht als Künstler. Aber das hat uns richtig Spaß gemacht. Und wir hatten bis jetzt sehr gute Laune. Haben gut mitgemacht, trotz der unglaublichen Temperatur. Und ich sag es mal so: Wir haben im Sommer Auto-Kino-Konzerte überstanden. Dementsprechend ist das jetzt heute für uns gefühlt der erste Schritt in Richtung Normalität."
Studienleiter Stefan Moritz, seit fünf Uhr morgens auf den Beinen, zeigt sich zwölf Stunden später erleichtert. Alles hat geklappt, die Daten sind im Kasten. Jetzt ist die Abschlusspresskonferenz. Etwa 100 Journalisten aus Deutschland und ganz Europa sind gekommen. Sogar eine Journalistin aus Mexiko berichtet über Restart-19. Der Studienleiter freut sich über die Maskendisziplin der Zuschauer. Dass so wenige da waren? Ärgerlich, aber verkraftbar.
"Wir mussten natürlich, dadurch, dass es etwa ein Drittel der erwarteten Personenanzahl war, Abstriche machen. Aber ich glaube, diese Abstriche können wir verkraften. Nicht das, was wir uns erhofft haben, aber wir haben eine gute Datenbasis, mit der wir jetzt weiterarbeiten können."
Wer trifft sich wo wie lange? Das sind entscheidende Fragen für Konzertveranstalter. Denn je mehr Besucher sich begegnen, desto größer die Gefahr, dass sich das Coronavirus auf einem Konzert verbreitet. Aber das ist noch nicht alles. Denn in geschlossenen Räumen und Hallen spielt auch die Belüftungssituation eine Rolle. Welche genau, das wird nicht an einem Tag getestet, sondern wochenlang an einem Rechner simuliert.
Der Mann, der Aerosole austricksen kann
Der Mann hinter dem Rechner heißt Frank Zimmermann. Der 83-Jährige Ingenieur sitzt in Heilbronn. Für ein Interview haben wir uns per Videochat verabredet. "Ich spreche in den Laptop rein, das ist bei mir ein bissel ein Problem, wissen Sie: Ich trage ein Hörgerät. Da habe ich Probleme mit einem Headphone."
Frank Zimmermann, grauer Bart, brauner Ledersessel lehnt sich zurück. Er macht seit 25 Jahren Strömungssimulationen für große Gebäude, für Museen und Konzertsäle. Sein Ingenieurbüro hat 80 Mitarbeiter und Niederlassungen in ganz Deutschland. Frank Zimmermann hat Rechenverfahren für die thermisch-energetische Strömungssimulation entwickelt. Kurzum: Er ist der Experte auf dem Fachgebiet – und deshalb wurde er für Restart-19 verpflichtet. Also hat er mit seinem Kollegen in Leipzig die dortige Arena digital nachgebaut. Zu sehen sind in dem 3-D-Modell lauter kleine gelbe Quader. Das sollen die Zuschauer sein.
Für die Verbreitung des Coronavirus' spielen Aerosole eine wichtige Rolle. Das sind die kleinen Tröpfchen in der Atemluft. Sie entstehen beim Sprechen, Singen oder bei lautem Lachen. All das spielt an der frischen Luft eine untergeordnete Rolle. In geschlossenen Räumen, wie zum Beispiel in Konzertsälen, sieht die Lage anders aus, sagt Frank Zimmermann.
"Und wir müssen hier im Modell aufpassen, dass wir nicht Luftströmungen bekommen, die die Aerosole von einer Person zur anderen übertragen. Das heißt, wir können jedes Partikel, jedes einzelne Aerosol rechnerisch und grafisch verfolgen und können damit die Strömung prüfen: ob sie infektiös ist oder nicht."
Dafür haben Frank Zimmermann und sein Team 24 Zuschauer in der Simulation digital "infiziert". Die stoßen dann im 3-D-Modell Aerosole aus, wie jemand, der im Konzert mitsingt. Frank Zimmermann macht sich vor allem über die kleinen Aerosole Gedanken, die mit der Raumströmung mitgerissen werden. So kann jemand in einer Halle am anderen Ende infiziert werden, nur weil jemand vorne "Nur kurz die Welt retten" von Tim Bendzko mitsingt.
Das Gute ist, so Zimmermann: In der Arena Leipzig werden die Aerosole über die Lüftung verdünnt. Es gibt acht Ablufttürme, 40 Weitwurfdüsen und 400 Luftauslässe unter den Sitzen.
"Wir haben nur ein Problem – und das sind die Weitwurfdüsen, die im Raum eine Querströmung erzeugen. Die kann gefährlich werden. Und genau die Fragen müssen wir untersuchen. Wir müssen auch überlegen, ob wir durch eine Änderung der Luftführung unter Umständen die Verhältnisse wesentlich verbessern können."
Frank Zimmermann ist in seinem Element. Er brennt für seinen Job. Nicht ausgeschlossen, dass ein 83-Jähriger womöglich die Clubszene rettet. Er denkt noch lange nicht ans Aufhören.
"Auch unter dem Aspekt, wissen Sie, ich habe viele Kollegen, die mit 65 aufgehört haben und mit 68 waren sie dement. Und das möchte ich nicht. Das können Sie nur vermeiden, wenn Sie aktiv bleiben."
Der Druck wächst
Frank Zimmermann gehört zu denjenigen in der Pandemie, die früher als andere wissen, was später noch einmal wichtig wird, zum Beispiel ein einheitliches Lüftungskonzept für Schulen. Das vermisst der 83-Jährige von der Bundesregierung.
"Ich glaube, dass wir verstärkt auch in die Klimaanlagen diese Umluftfilter einbauen werden müssen, diese Hepa-Filter. Da gibt es ja auch sogar schon mobile Geräte, die Sie in einen Raum stellen können. Dann saugt der Ventilator Raumluft an, filtert die, bläst die wieder aus."
Das sagt Frank Zimmermann Mitte August. Da hört ihm noch keiner zu, eine solche Debatte wird damals nur unter Experten geführt. Jetzt im November kaufen Elternvereine solche mobilen Geräte für die Klassenzimmer ihrer Kinder.
Aber im Sommer sinken die Infektionszahlen, und der Druck, in allen Bereichen die Corona-Maßnahmen zu lockern, steigt.
Studienleiter Stefan Moritz hat auf der Pressekonferenz nach dem Konzert angekündigt, dass die Ergebnisse von Restart-19 bereits Anfang Oktober da sein könnten. Er steckt also Ende August tief in der Arbeit. Wie geht es weiter? Wie läuft die Datenauswertung? Das alles möchte ich wissen und rufe an. Es wird ein kurzes Telefonat. Stefan Moritz bekommt mittlerweile 200 Anfragen pro Tag. Sämtliche Clubs in Europa erkundigen sich bei ihm. Die meisten Mails öffnet er gar nicht mehr. Er klingt erschöpft.
Jetzt haben der Studienleiter und sein Team entschieden: Sie igeln sich ein. Der Druck ist so groß, dass er nicht einzelnen Journalisten Zugang gewähren möchte, auch mir nicht. Bei sich an der Uniklinik hat er den Zugang beschränkt: Nur fünf bis sechs Leute dürfen die Daten auswerten. Doch der Erwartungsdruck kommt nicht nur aus der Veranstaltungsbranche, er kommt auch aus der Politik. In diesem Fall der Landespolitik.
Magdeburg, 1. September, Staatskanzlei: Es ist die wöchentliche Landespressekonferenz. Sachsen-Anhalt fördert die Restart-Studie mit 500.000 Euro. Gleichzeitig prescht die Landesregierung voran, stellt als erstes Bundesland Clubs und Diskotheken die Öffnung für Anfang November in Aussicht. Noch bevor die Studienergebnisse von Restart-19 da sind. Kein Widerspruch, findet Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister Armin Willingmann von der SPD.
"Also, zunächst mal: Dieses Restart-Projekt wird in etwa drei bis vier Wochen seine ersten Ergebnisse mitteilen. Wir haben jetzt eine Perspektive eröffnet für den ersten November. Und wir sagen, wir müssen die Hygiene-Konzepte abstimmen. Und das ist ziemlich gut harmonisiert. Weil wir Ergebnisse aus dem Restart-Projekt einfließen lassen können, bevor die endgültige Entscheidung getroffen ist. Ich will also nicht, das ist mir sehr wichtig zu betonen: Ich will nicht die Ergebnisse vorwegnehmen. Aber ich gehe auch fest davon aus, dass wir mit dem, was wir dort an Ergebnissen haben, die weitere Planung zum ersten November gestalten können."
Im November sollen die Clubs wieder öffnen
Kein Druck, aber die Ergebnisse sollen bitte Anfang Oktober da sein: Wie geht Stefan Moritz damit um? Es hat ein bisschen gedauert, aber dann hat sich der Studienleiter doch noch zu einem Gespräch bereiterklärt. Nicht im Kreise seiner Forscherkollegen, sondern vor der Arena Leipzig.
Stefan Moritz, 46 Jahre alt, Glatze, rotblonder Bart. Er kommt gebürtig aus der bayrischen Oberpfalz. Seit elf Jahren leitet er die Klinische Infektiologie an der Uniklinik Halle. Stefan Moritz kommt auf die Minute pünktlich. Ich gehe auf ihn zu.
"Herr Moritz, jetzt sind zehn Tage vergangen seit dem Konzert. Wie geht es Ihnen gerade?"
"Ja, besser. Der Stress hat ein bisschen nachgelassen. Die Arbeitstage sind deutlich kürzer, wieder auf normalem Niveau."
"Sie haben mir letzte Woche gesagt: Wir müssen uns jetzt erst einmal einigeln, auch mal eine Woche keine Medienanfragen. Was hat es damit auf sich?"
"Es waren vorher unglaublich viele Medienanfragen. Ich hab da bis zu 15 Interviews am Tag gegeben, im Akkord quasi. Und irgendwann muss man dann wieder zurück zur Arbeit finden, zur Normalität. Wir müssen uns darauf konzentrieren, die Daten auszuwerten. Da braucht es Ruhe und Konzentration, und deswegen haben wir uns da jetzt ein bisschen zurückgezogen."
"Sie haben mir das am Telefon gesagt: Das Gefährliche an Zwischenergebnissen ist ja – man hat es gesehen bei der Studie Heinsberg –, die sind noch nicht wirklich belastbar. Was haben Sie daraus für Schlüsse gezogen?"
"Ja, es ist natürlich so, dass man im wissenschaftlichen Diskurs solche Ergebnisse einzuordnen weiß. Die Öffentlichkeit tut sich aber schwer, vorläufige Ergebnisse einzuordnen. Uns ist klar, dass ein vorläufiges Ergebnis sich noch diametral ändern kann, wenn jemand so etwas präsentiert. Ich glaube, der Öffentlichkeit ist das nicht so ganz klar. Und da haben wir natürlich daraus gelernt. Überprüfe deine Ergebnisse drei Mal – und erst, wenn du zum Schluss ganz sicher bist, dann gebe sie raus."
Und jetzt muss Stefan Moritz auch schon weiter. Wenig später kommt Arena-Geschäftsführer Matthias Kölmel vorbeigeschlurft. Wir setzen uns auf eine Steinbank vor der Arena. Zu den Füßen liegt das erste Herbstlaub.
Matthias Kölmel hat am Konzerttag vor der versammelten Presse ein leidenschaftliches Plädoyer für seine Branche gehalten. Es ist die sechstgrößte Wirtschaftsbranche in Deutschland mit 1,5 Millionen Beschäftigten. Die dürfe man nicht vergessen. Und jetzt? Kölmel atmet einmal schwer durch.
"Es ist so ein bisschen das eingetreten, was man nicht erhofft hat, aber es ist natürlich eingetreten. Das man in so einem Keller ist, arbeitstechnisch und gefühlstechnisch, weil man natürlich für die Studie wieder auf 100 Prozent hochgegangen ist. War natürlich viel zu tun. Und danach hat man eigentlich wieder realisiert: Jetzt geht es ja nicht weiter mit Veranstaltungen, sondern es gibt halt keine Veranstaltungen, sondern wir verschieben den Rest aus dem Herbst 2020, nach 2021."
Das Loch ist tief, in dem Matthias Kölmel jetzt sitzt. Nebenan, in Sichtweite, steht die Red Bull Arena. Bundesligist RB Leipzig spielt hier. 8500 Fans sind im September erlaubt. Aber was noch wichtiger ist: Der Ball rollt, also fließen auch Fernsehgelder. Das ist das Entscheidende. Die Fußballbundesliga kann nämlich auch ohne Fans finanziell überleben. Die Handballbundesliga kann das nicht. Und das ist ein Problem für Matthias Kölmel. Denn in der Arena Leipzig spielt der Bundesligist SC DHFK Leipzig.
"Der SC DHFK beginnt jetzt wieder im Oktober mit der Saison. Die werden wir natürlich mitbestreiten. Und ansonsten: Wir haben ein genehmigtes Hygienekonzept, aber das ist nicht nur am Rande der Wirtschaftlichkeit, sondern es ist deutlich darunter. Und entsprechend attraktiv ist es natürlich auch für einen Künstler oder für die Veranstalter."
Zu wenig Zuschauer, zu wenig Einnahmen: Matthias Kölmel ist wieder da, wo er vor dem Corona-Testkonzert war: auf dem Nullpunkt. Jetzt heißt es für ihn: abwarten und schauen, wann die Ergebnisse von Restart-19 kommen.
Die Politik wünscht schnelle Ergebnisse
Es ist Anfang Oktober und wenn es nach Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister geht, müssten jetzt die Studienergebnisse da sein. Sind sie aber nicht. Ich besuche Studienleiter Stefan Moritz an der Uniklinik Halle. Sein Büro liegt in einem grauen schmucklosen Sechsgeschosser ohne Fahrstuhl.
Das Büro von Stefan Moritz ist kleiner, als ich mir das vorgestellt hatte. Etwa 15 Quadratmeter groß. Auf seinem Schreibtisch jede Menge Kabel, Festplatten und zwei Computer-Bildschirme. An der Pinnwand hängen Dienstpläne und eine Urkunde: "Weltenretter" steht darauf. Das ist die Teilnahme-Bescheinigung, die jeder Konzertbesucher im August bekommen hat. Stefan Moritz hat sie sich als kleine Erinnerung in sein Büro gehängt.
Der Studienleiter von Restart-19 hat noch keine Ergebnisse Anfang Oktober. Es dauert alles länger als gedacht.
Der Studienleiter von Restart-19 hat noch keine Ergebnisse Anfang Oktober. Es dauert alles länger als gedacht.
"Denn wir haben halt diese Unmengen an Daten. Es sind halt Probleme, wo du ganz kurz mal denkst, es dauert vielleicht einen Tag, die zu lösen. Es stellt sich dann heraus, statt einem Tag dauert es zehn Tage, das Problem zu lösen. Und so verschieben sich die Zeiten nach hinten. Aber man muss das machen, damit man eine saubere Datengrundlage hat."
Die ersten Simulationen sind zwar schon fertig. Allerdings ist zum Beispiel noch unklar, wie viele Aerosole sich in der Arena verbreiten.
Die ersten Simulationen sind zwar schon fertig. Allerdings ist zum Beispiel noch unklar, wie viele Aerosole sich in der Arena verbreiten.
"Wir wissen, dass da was hinfliegt, aber wir wissen nicht, wie viel da hinfliegt. Und das ist für uns das Entscheidende. Das rechnet jetzt gerade noch. Wir dachten eigentlich, dass es gestern eigentlich fertig sein sollte, rechnet aber immer noch weiter, weil einige Partikel länger brauchen, die zu berechnen. Jetzt hoffen wir, dass es bis nächsten Montag dann fertig gerechnet ist. Das sind Unwägbarkeiten in solchen Simulationen. Man wartet halt immer darauf, bis die Fehler nur noch eine gewisse Bandbreite haben, also nicht mehr zu groß sind in diesen Simulationen. Dann erst kriegen wir die eigentlichen Auswertungen. Bisher können wir noch nicht viel dazu sagen."
Was auf den ersten Blick etwas paradox erscheint: Obwohl sich die Studienergebnisse verzögern, sinkt der Druck auf das Forscherteam. Das Mailpostfach von Stefan Moritz quillt nicht mehr über. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Infektionsrate wieder steigt. Zuerst ganz langsam. Vor allem im dünn besiedelten Sachsen-Anhalt. Noch Anfang Oktober gibt es hier zehn bis 20 neue Corona-Infektionen pro Tag. Vier Wochen später ist diese Zahlenspanne um das zehnfache gestiegen. Einmal angekündigte Lockerungen lassen sich nur noch schwer vermitteln, die Öffnung von Diskotheken und Clubs zum Beispiel.
Mitte Oktober zieht dann auch Sachsen-Anhalts Landesregierung die Reißleine. Alles bleibt zu am ersten November. Die Gefahr vor einem Disko-Tourismus aus anderen Bundesländern sei zu groß. Enttäuschte Clubbetreiber legen deshalb aus Protest einen Sarg mit Diskokugeln vor die Staatskanzlei in Magdeburg.
Erneuter Lockdown
29. Oktober, ein Hörsaal der Uniklinik Halle. Es ist der Tag, nach dem Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder den erneuten Lockdown beschlossen hat. Das öffentliche Leben wird im November wieder weitestgehend heruntergefahren. Genau an diesem Tag veröffentlichen die Forscher aus Halle ihre Ergebnisse.
Auf den Holzstühlen im Hörsaal sitzen etwa zwei Dutzend Journalisten. Studienleiter Stefan Moritz trägt heute einen dunklen Anzug und ein blaues Business-Hemd. Die Restart-Ergebnisse kommen rund einen Monat später als angekündigt. Es ist ein besonderes Timing, was dem Dekan der medizinischen Fakultät, Michael Gekle sichtlich Freude bereitet.
"Die Dramaturgie könnte nicht besser sein und wahrscheinlich könnte auch Heiner Müller das nicht besser inszenieren können, was wir erleben. Letzten Freitag wurden die Tagesthemen von der Gruppe 'Die Ärzte' anmoderiert beziehungsweise musikalisch eröffnet. Ich möchte aber mit einem Motto frei nach den 'Toten Hosen' beginnen: 'Wiewohl die Lage komplex ist, keine Kultur ist auch keine Lösung'."
Damit ist der Ton gesetzt – und die Ergebnisse der Studie stützen das. Ja, Konzerte sind möglich, allerdings nicht bei voller Auslastung. Am besten bestuhlt, weil so die Kontakte überschaubar bleiben. Mundschutz permanent, auch am Platz. Möglichst viele Einlassschleusen, damit sich weniger Menschen treffen. Denn die längeren, kritischen Kontakte entstehen vor allem in den Pausen und beim Einlass.
Den größten Einfluss auf eine mögliche Infektionsgefahr hat jedoch: das Raumlüftungskonzept.
"Wo wir selber ein bisschen überrascht waren, wie bei einer schlechten Lüftung die Aerosol-Exposition so dramatisch ansteigen kann. Klar haben wir die Luftmenge deutlich reduziert. Wir haben so circa 40 Prozent der Luftmenge weggenommen. Dass die Ausmaße so groß sind, hätte ich nicht erwartet. Und es zeigt natürlich, dass so viele Ansteckungen durch so ein Event stattfinden."
Allerdings haben nicht alle Konzerthallen gleich acht Ablufttürme wie die Arena Leipzig. Rund 200.000 Kubikmeter Luft können hier pro Stunde ausgetauscht werden. Damit verdünnt sich die Aerosol-Konzentration ganz erheblich. Kleinere Veranstaltungsorte sind da weniger gut aufgestellt. Man braucht ein Konzept, nach dem die Sicherheit dieser Orte bewertet werden können.
Rettet ein 83-Jähriger die Clubszene?
Etwas, was der 83-Jährige Ingenieur Frank Zimmer – wenig überraschend - schon lange fordert. Wir sprechen noch ein letztes Mal Anfang November über die Ergebnisse per Videochat. Die Ergebnisse der Studie sind für seine Branche natürlich ein echter Auftragsmotor.
"Der beratende Ingenieur für die Raumlufttechnik, der ist gefragt, sicher, denn der kann nur beurteilen, inwiefern die Ergebnisse zum Beispiel auf eine andere Arena übertragbar sind."
Frank Zimmermann bekommt derzeit jeden Tag Anfragen von großen Veranstaltern. Die Nachfrage nach Strömungssimulationen ist groß. Reich werde er zwar nicht, aber er verdiene gut, verrät er. Der 83-Jährige findet: Es muss noch mehr getestet, noch mehr geforscht werden. Im Winter zum Beispiel gebe es unter Umständen auch in so einer großen Arena wie in Leipzig andere Raumluftverhältnisse.
Frank Zimmermann denkt aber schon weiter. Die großen Arenen sind das eine. Das kleine Klassenzimmer das andere. Da reicht aus seiner Sicht Stoßlüften als Lüftungskonzept auf Dauer nicht aus.
"Wenn Sie eine mechanische Lüftungsanlage haben, dann haben Sie auch eine Wärmerückgewinnung. Das heißt also, Sie haben im Winterbetrieb für das Lüften keine zusätzlichen Heizkosten. Ja, die sparen Sie sogar ein. Sie haben natürlich etwas höhere Investitionen. Aber wir wollen ja Energieeinsparungen betreiben. Wir wollen ja unsere Umweltziele einhalten. Das heißt, wir werden immer mehr zu Anlagen kommen, die energiesparend sein müssen. Und das ist die Fensterlüftung und die natürliche Lüftung eines Gebäudes natürlich überhaupt nicht."
Es wird weitergehen – irgendwie
Auch Matthias Kölmel treffe ich ein letztes Mal, natürlich in "seiner" Arena in Leipzig. Wir stehen Ende Oktober kurz vor dem nächsten Lockdown. Wie geht es für den Geschäftsführer der Betreibergesellschaft der Arena weiter? Wir laufen durch einen langen, hellen Gang. An der Seite eingerahmte Bilder: die Erfolge der Vergangenheit. Eine goldene Schallplatte. DJ Bobo 2017. Ausverkauft.
"Das war ein sensationelles Konzert, Bombenstimmung. Auch ein bisschen skurril, aber top!"
Wir gehen aus seinem Büro runter in die leere Arena. Ich merke, dass Matthias Kölmel anders drauf ist, als noch vor zwei Monaten, fröhlicher. Anfang September ging es los mit den Handball-Testspielen. Erst mit 200 Zuschauern, dann mit 500, zum Schluss mit 750. Immer noch nicht wirtschaftlich, aber es tut sich was. Muss ja weitergehen.
Ein ausverkauftes DJ Bobo-Konzert in Leipzig: Das wird es erst einmal nicht geben. Aber die Restart-Studie hat Matthias Kölmel zumindest ein bisschen Hoffnung gegeben. Zumindest für die Zeit nach dem Lockdown. Eine vernünftige Konzertplanung? Klar, die ist immer noch nicht möglich. Aber so langsam, ganz langsam tröpfeln die ersten Konzertzusagen bei Matthias Kölmel ein. Nicht für das nächste Jahr, aber für das übernächste.
"Das gibt mir einen positiven Kick, wenn man dann wieder eine Buchung reinbekommt von unserer Bookerin für 2022, Anfragen für 2023. Daran merkt man: Ja, es wird schon weitergehen und es geht auch weiter. Das ist jetzt so der Punkt: gut und weiter. Kopf hoch und Feuer frei!"