Groteske über Krieg und Holocaust

In Frankreich ist er bekannt wie ein bunter Hund, das mediale Multitalent Richard Morgiève, Jahrgang 1950, Schauspieler, Drehbuch- und Theaterautor, Regisseur, Dramaturg und vor allem Romancier.
1980 begann er Krimis zu schreiben; seinen literarischen Durchbruch in Frankreich hatte er 1988. Morgièves Roman "Kleiner Mann von hinten" (dt. 2008) gilt bis heute als Kultbuch, - eine Hommage an Morgièves Eltern: seine Mutter starb, als er sieben Jahre alt war, sein Vater nahm sich sechs Jahre später das Leben. Nun ist ein neuer Roman von Richard Morgiève erschienen mit dem märchenhaften Titel "Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg".

Frankreich in der Zeit von 1940 bis 1945, von der Besetzung durch deutsche Truppen bis zur Befreiung 1945 und in die Handlung drängt sich ein Ich-Erzähler mit Namen Pierre, ein Säugling, ein Fund aus einem Koffer am Straßenrand. Wie "Matzerath" in Günter Grass´ "Blechtrommel" so wird Morgièves Säugling Pierre zum Beobachter der Kriegsjahre. Pierre wächst in einem Bordell auf, seine Adoptiveltern sind der Zuhälter Saint-Jean und die blinde Prostituierte Fortuna.

"Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg" liest sich nicht wie ein normaler Roman, eher wie ein Filmdrehbuch für einen Monty-Python-Film über Krieg und Holocaust, mit deutschen Untertiteln in Sütterlinschrift von den Brüdern Grimm - kein einfacher Stoff. Die französische Zeitung "Le monde" nannte den Roman "grotesk". Und das ist er, eine Groteske: von italienisch "grotta". Wie in einer Grotte oder einer Geisterbahn will eine Groteske fantastisch, bizarr, bewusst verzerrt, übersteigert, lächerlich, absurd und schaurig wirken und schockieren, was dem Roman nachhaltig gelingt.

So verzichtet Morgiève in weiten Passagen des Textes auf Punkt und Komma. Das Leseerlebnis kommt den Effekten von Rap-Lyrik nahe. Daneben schockiert der Autor mit derb pornografischer Sprache, mit der er sexuelle Gewalt protokolliert. Ein Wechselbad der Gefühle und der Sprachformen erwartet den Leser, mal blasphemisch und gleich wieder religiös und versöhnlich.

Am Ende reiten die Messiasse in die untergehende Sonne und man denkt: "Wir haben viel gelacht. Später haben wir den Raben beerdigt, die Flügel zusammengefaltet wie eine Blume bei Nacht." Das ist existentialistische Literatur pur; Sprachwitz und Verspieltheit erinnern an Boris Vians "Drehwurm, Swing und das Plankton", und der moralische Auftrag des Autors lässt an Georges Bataille denken, an dessen Versuch, der Philosophie der Gewalt und des Verbrechens auf die Spur zu kommen und das kollektive männliche Unbewusste zu erkunden.

Das Bordell heißt "Riviera", von seinem Vorbesitzer innen und außen rot gestrichen inklusive Fenster und Spiegel. Vor der Stadt liegen Madagaskar, der Kongo, Sacré-Coeur, ein Berg der "Infarktus" und ein Fluss, der "Elend" heißt: "misère". Er schenkt den Armen Goldmünzen, eines der Wunder in diesem Land im Krieg. Wenn ein Roman dieser Tage das Recht hat, postmodern genannt zu werden, dann ist das "Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg". Ausdrücklich zu loben ist die Übersetzung von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz.

Besprochen von Lutz Bunk

Richard Morgiève, Wunder und Legenden aus meinem Land im Krieg,
aus dem Französischen übersetzt von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz,
Claassen Verlag Berlin 2009, 384 Seiten, 19,90 Euro.