"Sozialer Aufstieg sollte nicht so schwierig sein"
06:57 Minuten
Bildung hängt in Deutschland noch immer stark von der sozialen Herkunft ab. Natalya Nepomnyashcha hat das selbst erlebt – und will dagegen angehen. Deshalb hat sie das Netzwerk Chancen gegründet, das Betroffenen hilft.
Der Himmel über dem Berliner Volkspark ist strahlend blau. Die Sonne hat viele Leute vor die Tür gelockt. Auch Natalya Nepomnyashcha, die hier heute schon zum zweiten Mal spazieren geht.
Die 31-Jährige läuft zielstrebig los, auch wenn es hier heute kein Ziel gibt, zumindest kein geografisches. Sie arbeitet zurzeit aus dem Homeoffice – hauptberuflich als Unternehmensberaterin und ehrenamtlich für die Organisation Netzwerk Chancen, die sie 2016 gegründet hat.
"Mit diesem Programm fördern wir über 900 junge Menschen aus ganz Deutschland, die aus finanzschwachen oder nichtakademischen Familien kommen. Wir bieten ihnen Workshops, Einzelcoaching, Mentoring, Arbeitgeberkontakte an und vieles mehr. Und versuchen, sie zu stärken und ihnen auch die Möglichkeit zu geben, die eigenen Talente zu entwickeln, Potenziale zu entfalten und tatsächlich den Weg zu gehen, den sie sich erträumen."
"Mit diesem Programm fördern wir über 900 junge Menschen aus ganz Deutschland, die aus finanzschwachen oder nichtakademischen Familien kommen. Wir bieten ihnen Workshops, Einzelcoaching, Mentoring, Arbeitgeberkontakte an und vieles mehr. Und versuchen, sie zu stärken und ihnen auch die Möglichkeit zu geben, die eigenen Talente zu entwickeln, Potenziale zu entfalten und tatsächlich den Weg zu gehen, den sie sich erträumen."
Kaum Chancen auf eine Karriere
Ein Traum, den auch Natalya Nepomnyashcha hatte: Sie wollte studieren und einen Job im politischen Berlin. Aber auf dem Weg dorthin gab es kein Coaching, kein Mentoring oder sonst eine Person, die sie professionell unterstützt hat.
Im Gegenteil: Es gab viele Hürden, die vielen Menschen in Deutschland im Wege stehen. Deswegen hat Nepomnyashcha das Netzwerk Chancen gegründet, inspiriert und wütend gemacht durch das Buch "Du bleibst, was du bist" von Marco Maurer.
"In dem Buch beschreibt Marco, der selbst Arbeiterkind ist, wie schwer das heutzutage ist, sozial aufzusteigen in Deutschland, und ich habe mir auf jeder Seite von dem Buch gedacht: Hey, genauso habe ich es empfunden! Das ist so verdammt schwer. Und hab mir dann gedacht: Ich will unbedingt etwas ändern."
"In dem Buch beschreibt Marco, der selbst Arbeiterkind ist, wie schwer das heutzutage ist, sozial aufzusteigen in Deutschland, und ich habe mir auf jeder Seite von dem Buch gedacht: Hey, genauso habe ich es empfunden! Das ist so verdammt schwer. Und hab mir dann gedacht: Ich will unbedingt etwas ändern."
Trotz Bestnoten kein Wechsel auf das Gymnasium
Natalya Nepomnyashcha ist über alle Hindernisse allein gestiegen. Nach dem Fall der Sowjetunion und den folgenden Jahren der Arbeitslosigkeit, entscheiden ihre Eltern 2001, die Ukraine zu verlassen. Da beide jüdische Wurzeln haben, können sie nach Deutschland auswandern. Mit ihrem einzigen Kind Natalya ziehen sie nach Augsburg.
"Da war es so, dass die erste Zeit für mich sehr hart war, weil ich kein Wort Deutsch sprach. Ich war elf und hatte natürlich meine ganzen Freunde zurückgelassen. Ich war auch immer sehr gut in der Schule und dann kam ich hier an und war zuerst in einer Übergangsklasse, was ich überhaupt nicht empfehlen würde."
In der Klasse waren nur neu angekommene Kinder aus unterschiedlichen Ländern. Nepomnyashcha glaubt, sie hätte in einer normalen Klasse schneller Deutsch gelernt. Ihre Eltern sprechen kein Deutsch und leben von Hartz IV. Sie kommt auf die Realschule. Dort gehört sie bald zu den Klassenbesten. Nach der neunten Klasse hat sie einen Schnitt von 1,3. Das sollte doch ausreichen fürs Gymnasium, denkt sie.
"Ich bin dann zum Mitarbeiter der Schulleitung eines Gymnasiums in Augsburg, was den Ruf hatte, dass man da relativ einfach draufkommt. Da waren auch ein paar Freunde von mir, die zum Teil wirklich kein Komma richtig setzen konnten. Ich dachte mir, es kann doch nicht sein, dass die auf dem Gymnasium sind und ich nicht."
Natalya Nepomnyashcha hat diese Geschichte schon oft erzählt. Aber noch immer wird sie wütend dabei:
"Und der hat mich wirklich nur ausgelacht und war total überrascht, dass ich da aufgetaucht bin in seinem Büro und hat nur gesagt, dass ich mich schwer genug tun würde mit der Realschule und die sollte ich in Ruhe fertig machen und dann könnte ich ja schauen, was ich danach mache."
"Da war es so, dass die erste Zeit für mich sehr hart war, weil ich kein Wort Deutsch sprach. Ich war elf und hatte natürlich meine ganzen Freunde zurückgelassen. Ich war auch immer sehr gut in der Schule und dann kam ich hier an und war zuerst in einer Übergangsklasse, was ich überhaupt nicht empfehlen würde."
In der Klasse waren nur neu angekommene Kinder aus unterschiedlichen Ländern. Nepomnyashcha glaubt, sie hätte in einer normalen Klasse schneller Deutsch gelernt. Ihre Eltern sprechen kein Deutsch und leben von Hartz IV. Sie kommt auf die Realschule. Dort gehört sie bald zu den Klassenbesten. Nach der neunten Klasse hat sie einen Schnitt von 1,3. Das sollte doch ausreichen fürs Gymnasium, denkt sie.
"Ich bin dann zum Mitarbeiter der Schulleitung eines Gymnasiums in Augsburg, was den Ruf hatte, dass man da relativ einfach draufkommt. Da waren auch ein paar Freunde von mir, die zum Teil wirklich kein Komma richtig setzen konnten. Ich dachte mir, es kann doch nicht sein, dass die auf dem Gymnasium sind und ich nicht."
Natalya Nepomnyashcha hat diese Geschichte schon oft erzählt. Aber noch immer wird sie wütend dabei:
"Und der hat mich wirklich nur ausgelacht und war total überrascht, dass ich da aufgetaucht bin in seinem Büro und hat nur gesagt, dass ich mich schwer genug tun würde mit der Realschule und die sollte ich in Ruhe fertig machen und dann könnte ich ja schauen, was ich danach mache."
Kaum Bafög, kein Zuspruch
Sie ist frustriert und fühlt sich ohnmächtig. Andererseits dachte ich mir: Dem werde ich es zeigen. Der wird noch von mir hören."
Sie schließt die Realschule als Schulbeste ab und zieht nach München, um dort eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin zu machen. Aber dann die nächste Hürde: Sie bekommt nur 200 Euro Bafög ohne einen Zuschuss zum Wohnen. Die Begründung vom Bafög-Amt: Sie könne die Ausbildung doch auch in Augsburg machen und bei ihren Eltern wohnen. Allerdings gibt es die Ausbildung dort nur an privaten Schulen. Die 17-Jährige Nepomnyashcha geht zum Ausbildungsförderungsamt und fragt nach.
"Und den Satz werde ich nicht vergessen, die Antwort war: Das sei für den Gesetzgeber nicht von Bedeutung, dass es diese Ausbildung in Augsburg nur für Geld gibt – und dass man sie sich als Hartz-IV-Kind nicht leisten kann."
Sie schließt die Realschule als Schulbeste ab und zieht nach München, um dort eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin zu machen. Aber dann die nächste Hürde: Sie bekommt nur 200 Euro Bafög ohne einen Zuschuss zum Wohnen. Die Begründung vom Bafög-Amt: Sie könne die Ausbildung doch auch in Augsburg machen und bei ihren Eltern wohnen. Allerdings gibt es die Ausbildung dort nur an privaten Schulen. Die 17-Jährige Nepomnyashcha geht zum Ausbildungsförderungsamt und fragt nach.
"Und den Satz werde ich nicht vergessen, die Antwort war: Das sei für den Gesetzgeber nicht von Bedeutung, dass es diese Ausbildung in Augsburg nur für Geld gibt – und dass man sie sich als Hartz-IV-Kind nicht leisten kann."
"Aufsteigerinnen sind ganz tolle Arbeitnehmerinnen"
Mit einem Nebenjob und viel Durchhaltevermögen schafft sie den Abschluss in München und hängt eine zweite Ausbildung dran: zur Dolmetscherin für Englisch und Spanisch. In Großbritannien wird die als Bachelor anerkannt. Das eröffnet ihr neue Möglichkeiten. Sie kann dort an der Universität internationale Politik studieren. Auslandsbafög erhält sie dafür nicht. Doch sie beißt sich weiter durch, schafft den Master-Abschluss und kehrt zurück nach Deutschland, nach Berlin.
Es sollte nicht so schwer sein, sozial aufzusteigen, sagt sie. Deswegen gründete sie Netzwerk Chancen.
"Eine Sache, die mir wirklich sehr am Herzen liegt, ist eben wirklich soziale Diversität und die Nachricht zu verbreiten, dass soziale Aufsteigerinnen ganz tolle Arbeitnehmerinnen sind, die ganz häufig nicht die Chancen bekommen."
Etwa, weil die Lebensläufe nicht gerade sind oder der Abschluss von der Elite-Uni fehlt.
"Irgendwo ist ja auch die Frage, ob jemand der bei minus 50 startet, der bei einer alleinerziehenden Mutter, die von Hartz IV lebt, in Berlin-Marzahn aufgewachsen ist und dann vielleicht nur bei Plus zehn ankommt, indem er zum Beispiel nur einen Bachelor-Abschluss von einer kleinen FH hat, ob diese Person dann nicht mehr Stärke und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen hat, als jemand der bei Plus 20 startet, weil seine Eltern beide AnwältInnen sind und einen Abschluss von Oxford haben, aber eben wesentlich weniger dafür kämpfen musste."
Es sollte nicht so schwer sein, sozial aufzusteigen, sagt sie. Deswegen gründete sie Netzwerk Chancen.
"Eine Sache, die mir wirklich sehr am Herzen liegt, ist eben wirklich soziale Diversität und die Nachricht zu verbreiten, dass soziale Aufsteigerinnen ganz tolle Arbeitnehmerinnen sind, die ganz häufig nicht die Chancen bekommen."
Etwa, weil die Lebensläufe nicht gerade sind oder der Abschluss von der Elite-Uni fehlt.
"Irgendwo ist ja auch die Frage, ob jemand der bei minus 50 startet, der bei einer alleinerziehenden Mutter, die von Hartz IV lebt, in Berlin-Marzahn aufgewachsen ist und dann vielleicht nur bei Plus zehn ankommt, indem er zum Beispiel nur einen Bachelor-Abschluss von einer kleinen FH hat, ob diese Person dann nicht mehr Stärke und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen hat, als jemand der bei Plus 20 startet, weil seine Eltern beide AnwältInnen sind und einen Abschluss von Oxford haben, aber eben wesentlich weniger dafür kämpfen musste."
"Ich bin ehrgeizig und ich steh dazu"
Netzwerk Chancen stellt jungen Menschen eine Mentorin oder einen Mentor an die Seite. Externe Coaches geben Workshops zu Themen wie "Selbstpositionierung", beraten bei Bewerbungen und helfen im Berufsalltag. Außerdem gibt es direkte Kontakte zu Arbeitgebern. Das Projekt finanziert sich durch Spenden, Sponsoring und ehrenamtliche Mitarbeit. Nepomnyashcha selbst kümmert sich um Organisation und Presse.
Von Kiew nach Augsburg, München, London und jetzt Berlin. Hier fühlt sie sich am ehesten zu Hause. Die Stadt strahlt für sie Freiheit aus.
"Und das genieße ich wirklich sehr an Berlin, dass hier jede und jeder sein kann, wie er und sie möchte."
Ob ihr Weg in Berlin weitergeht oder doch noch woanders hinführt, das weiß Natalya Nepomnyashcha noch nicht.
"Ich bin ehrgeizig und ich steh dazu. Wie mein Leben sich so weiterentwickeln wird? Ich bin jetzt 31 und da glaube ich, muss ich irgendwie mich auch überraschen lassen. Ich will nicht stehen bleiben auf jeden Fall."
Von Kiew nach Augsburg, München, London und jetzt Berlin. Hier fühlt sie sich am ehesten zu Hause. Die Stadt strahlt für sie Freiheit aus.
"Und das genieße ich wirklich sehr an Berlin, dass hier jede und jeder sein kann, wie er und sie möchte."
Ob ihr Weg in Berlin weitergeht oder doch noch woanders hinführt, das weiß Natalya Nepomnyashcha noch nicht.
"Ich bin ehrgeizig und ich steh dazu. Wie mein Leben sich so weiterentwickeln wird? Ich bin jetzt 31 und da glaube ich, muss ich irgendwie mich auch überraschen lassen. Ich will nicht stehen bleiben auf jeden Fall."