Der lange Weg der deutschen Aufarbeitung
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1961 gründet Paul Schäfer in Chile die Colonia Dignidad. Der Deutsche genießt wohlwollende Unterstützung aus der Heimat, vor Ort hat das Projekt lange einen guten Ruf. Seinen Anhängern verheißt Schäfer das Paradies auf Erden, dabei ist es eine Hölle.
Die Vergangenheit wird zur internationalen Fernsehserie:"Dignity". Der Ort des Geschehens ist weit weg und doch sehr deutsch – die Colonia Dignidad in Chile.
"Paul Schäfer, ein deutscher Soldat, der im Zweiten Weltkrieg Gott gefunden hatte, gründete 1961 eine Siedlung mit mehr als 200 deutschen Auswanderern im Süden Chiles", heißt es in der Serie. "Die Siedlung nannte er Colonia Dignidad: ‚Nur Gott kennt deine Sünden. Und ich. Das bleibt unser Geheimnis. Hast du das verstanden, Pedro? Sonst wirst du in der Hölle brennen.‘"
Die Grünen-Politikerin Renate Künast erzählt: "Als wir da waren, war es, fast kann man sagen, so ein Gefühl wie, man ist im Film. Es kann eigentlich nicht wahr sein. Sie kommen in einer landschaftlich schönen Gegend an, in der Ferne hohe Berge mit Schnee obendrauf, Tannen, Kiefern, Weiden. Und plötzlich gibt es da einen alten Zaun."
Harte Arbeit, psychischer Druck und Gewalt
Ein deutscher Laienprediger hat hier eine Hölle errichtet. Schon in Deutschland hatte Paul Schäfer Anhänger um sich geschart und ein Kinderheim gegründet. Wegen sexueller Übergriffe auf seine Schützlinge wurde bald ein Haftbefehl ausgestellt.
Schäfer flieht nach Chile – nicht ohne die deutschen Behörden vorher zu fragen, ob er den Sitz seines Kinderheimes dorthin verlegen darf. Er durfte. Auch Renten und Lebensversicherungen seiner Anhänger fließen nach Chile. Renate Künast kennt dieses Kapitel der deutsch-chilenischen Komplizenschaft.
"Ganz am Anfang war das Kuriosum, dass Paul Schäfer hier gesucht wurde und dann noch Ministerien sagten, Herr Botschafter, unterstützt den bitte, der macht gute Jugendarbeit", sagt sie.
Gute Jugendarbeit? Mit Schlägen, psychischem Druck und sexualisierter Gewalt! Nach außen geben sich Schäfer und seine deutschen Anhänger seriös. Ihr Aushängeschild: ein Krankenhaus. Daneben betreibt man Waffenhandel und andere schmutzige Geschäfte. Und als Chiles Diktator Pinochet Oppositionelle verschwinden und ermorden lässt, hat er in der Kolonie willige Helfer.
"Die haben da aber auch ein potemkinsches Dorf aufgebaut" erläutert Renate Künast. "Sie haben ihre eigenen Kinder gefoltert, sie haben die Freiheit der Menschen missachtet und sie haben eben in Kooperation mit der Militärjunta, haben beim Putsch faktisch unterstützt - und beim Foltern und Vergraben geholfen."
Ein deutscher Freundeskreis, der gut vernetzt ist
Immer wieder dringt nach außen, was passiert. Der Bundesnachrichtendienst weiß davon - seit 1966. Doch die Menschenrechtsverletzungen werden lange ignoriert. In Deutschland entsteht sogar ein Freundeskreis der Colonia Dignidad – gegründet von Gerhard Mertins, einst Mitglied der Waffen-SS und später Gründer der Merex-AG. Deren Spezialgebiet: Handel mit deutschen Waffen. Der Freundeskreis ist gut vernetzt mit Politikern von CDU und CSU.
"Sie haben nicht hingeschaut", sagt Renate Künast. "Sie hatten damals und lange Zeit noch ein Weltbild, das hieß: Da war Zucht und Ordnung. Genauso auch viele Chilenen in der Region, die froh waren, dass das Land urbar gemacht wurde, die waren alle so züchtig und ordentlich."
Im Jahr 2016, besuchte die Bundestagsabgeordnete Renate Künast den Ort, der einst die Colonia Dignidad war. Chile wird nicht mehr von einem Diktator regiert. Paul Schäfer ist 2010 in einem chilenischen Gefängnis gestorben. Seine grauenvolle Hinterlassenschaft bleibt.
Rechtsausschuss-Delegation des Bundestages
"Das ist ein unglaublicher Ort", sagt die Politikerin. "Und wenn sie Menschen, die heute noch sehr viel leiden, nach Dingen fragen, nach einzelnen Sachen, erleben sie sehr schnell, dass Leute Tränen in den Augen haben und keine Haltung wiederfinden."
Renate Künast leitet 2016 die Delegation des Rechtsausschusses des Bundestages. Das Auswärtige Amt schien nicht begeistert, so beschreibt es die Politikerin der Grünen:
"Ich habe mich als Ausschussvorsitzende mit Vertretern vom Auswärtigen Amt getroffen, die mir regelmäßig erklärt haben, wie mühevoll das wäre, wenn man mit einem Jetlag in Santiago de Chile ankäme und dann noch in Allerherrgottsfrühe eine vierstündige Bustour über kleine, wackelige Straßen machen müsste, man könnte die doch alle in der Botschaft treffen. Das hat dann Formen angenommen wie: Wir wollen uns damit lieber nicht beschäftigen und wir wollen auch nicht, dass Sie dahinfahren."
Die Rolle der deutschen Botschaft in Santiago
Nicht nur der Weg ist beschwerlich. Auch der Kontakt mit den Opfern. Waren es doch auch offizielle Vertreter Deutschlands, die weggeschaut hatten, als die Opfer um Hilfe baten - und die stattdessen gute Kontakte zu Paul Schäfer pflegten.
"Ein Teil des Problems war, dass ein Teil der Leute in der Botschaft, bis auf ein paar wenige, dies alles hingenommen hat und noch Bescheid gegeben hat, dass die Leute, die geflüchtet waren, wieder abgeholt wurden", erläutert Renate Künast.
"Wie soll denn so jemand, so ein Opfer dann sagen, ich gehe in die Botschaft in Santiago und führe ein offenes Gespräch mit einem deutschen Abgeordneten. Ich hätte es nicht gemacht an deren Stelle und empfand das auch als Zumutung und Missachtung."
Vertane Chancen und Spiel auf Zeit
2016 – da war schon lange bekannt, was diese Colonia Dignidad, die Kolonie Würde, tatsächlich ist. Bewohner der würdelosen Kolonie waren geflüchtet, Amnesty International veröffentlichte umfangreiche Rechercheergebnisse, die Medien berichteten.
1988 schilderte Hugo Bahr, ein Mitbegründer der Colonia Dignidad, vor dem Menschenrechtsausschuss des Bundestages:
"Ich habe auf dem Schwarzmarkt, nachdem ich im September 1970 von Schäfer nach Chile gerufen wurde zu einer Besprechung und von ihm Dollar in bar mitbekam für Waffenkäufe, habe ich auf dem Schwarzmarkt Pistolen, einige Gewehre, zwei Maschinengewehre, einige Maschinenpistolen gekauft und sie ebenso schwarz zusammen mit unseren sogenannten karitativen Sendungen nach Chile geschafft. Das war während der Zeit der Regierung Allendes."
Juristische Konsequenzen hatte das nicht, der potenzielle Zeuge verschwand wieder. Die deutsche Staatsanwaltschaft interessierte sich nicht dafür. Als Helmut Kohl später Chile besuchte, wollte er kein Aufheben um den kriminellen Sektenführer machen. Das Problem würde sich schon irgendwann erledigen. Außerdem wolle man sich nicht in die Angelegenheiten Chiles einmischen.
In Deutschland werden dann doch Gerichtsverfahren eröffnet – gegen Paul Schäfer, aber auch gegen andere Mitglieder der Sekte, zum Beispiel gegen Hartmut Hopp, Arzt und die rechte Hand des Sektengründers. In Chile wurde er wegen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er setzte sich nach Deutschland ab – und ist seitdem ein freier Mann. 2012 nahm die Krefelder Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf – und stellte sie wieder ein.
"Zu wenige Leute sind befragt worden"
Renate Künast ist mit der Arbeit der deutschen Justiz nicht zufrieden: "Es haben sich Teile der Justiz auch in Krefeld zum Bestandteil dieses Systems gemacht, in dem das alles viel zu lange hing. In dem nicht dafür gesorgt wurde, dass es da zu einer Entscheidung kam. Viel zu wenige Leute sind befragt worden. Und, was der allerschlimmste Punkt war: Zu dem Zeitpunkt, wo Dinge noch nicht verjährt waren, keine eigene Aktivität gemacht haben. Es ging um deutsche Staatsbürger als Täter und als Opfer und da hätte man eigene Aktivitäten vollbringen müssen."
Die Täter werden nicht mehr zur Rechenschaft gezogen. Es gibt keine juristischen Möglichkeiten mehr. Bleiben die Opfer. Wie geht Deutschland mit ihnen um? Das Wort "Entschädigung" hören die offiziellen Stellen nicht gern.
Die Opfer warten lange auf Entschädigung
"Ich bin ja selbst Juristin", sagt Renate Künast. "Deshalb darf ich das sowieso schon sagen. Es gibt ja auch im Ministerium Juristen, die der Meinung sind, dass man keine neuen Maßstäbe setzen darf und dann andere Opfergruppen auch kommen und mehr Geld wollen und Vergleichbarkeiten und so. Das finde ich eigentlich erschütternd."
Der Bundestag wollte nicht wegsehen.
"Der Punkt war ja, dass wir ziemlich vor der Sommerpause und vor den Wahlen 2017 einen Beschluss gefasst haben als Bundestag, wo wir gesagt haben, wir wollen, dass uns die Bundesregierung ein Konzept vorlegt für individuelle Leistungen an die Opfer, Deutsche und Chilenen. Da waren ja Kinder", sagt die Grünenpolitikerin.
"Glücklicherweise haben wir damals eine Frist gesetzt bis zum Sommer 2018, als dann noch mit Verzögerung das Konzept vorgelegt wurde. Und dann, das war eigentlich der nächste Ansatzpunkt, der Versuch der Verhinderung, weil, entgegen dem Beschluss des Deutschen Bundestages wurde da gesagt, wir sehen keine individuellen Leistungen vor."
10.000 Euro für eine gestohlene Kindheit
Ein erstes Hilfskonzept der Bundesregierung wurde von Renate Künast, aber auch vom CDU-Abgeordneten Michael Brandt kritisiert. Einige Kämpfe später wurde der Beschluss gefasst, dass jedes Opfer der Colonia Dignidad mit 10.000 Euro entschädigt werden soll.
Rund dreieinhalb Millionen Euro sind für die notwendige Hilfe veranschlagt. 10.000 Euro für eine gestohlene Kindheit. Das gilt als Erfolg. Die ersten Gelder flossen 2020, Paul Schäfer war da seit zehn Jahren tot.
"Ich habe es auch noch nicht verstanden, wie das Weggucken funktioniert, auch wenn Botschafter da waren oder Ähnliches", sagt Renate Künast.
"Ich glaube, der Fehler war, dass sie eine Nähe zu denen hatten, die sie auf zwei Augen hat blind werden lassen. Sie haben sich die Show vorführen lassen, dass die Leute da nett stehen und ganz brave Kinder, vielleicht zu brav, nett gekämmt und gekleidet dastehen und ein Liedchen singen und so. Aber sie haben ja gar nicht gemerkt, dass die sich da nicht frei bewegen und was da eigentlich passiert."
Aufklären und gedenken – aber wo und wie?
Ein abgeschottetes Gelände in Chile. Ein Mann und seine Unterstützer führen ein autoritäres, ein kriminelles Regime. Wie kann so etwas entstehen – und über Jahrzehnte Bestand haben?
In Chile soll ein Ort der Aufklärung und des Gedenkens entstehen. Es ist schwierig. Auch, weil es sehr unterschiedliche Opfergruppen und unterschiedliche Erwartungen gibt.
"Beispielsweise für die Angehörigen von Verschwundenen. Für die war das lange schwierig zu sehen, dass es auch eine Opfergeschichte innerhalb der Villa Baviera, also der ehemaligen Colonia gibt, dass es auch deutsche Opfer unter den Betroffenen gibt, oder dass es eine dritte Opfergruppe gibt, die chilenischen Missbrauchsopfer", sagt Elke Gryglewski. "Das heißt, es war ganz schwierig, diese Gruppen erst miteinander ins Gespräch zu bekommen, was wären denn ihre Bedürfnisse für so eine Gedenkstätte."
Die Planung ist kompliziert. Es gibt unterschiedliche Interessen. Es dauert.
"Für die Angehörigen der Verschwundenen ist es von zentraler Bedeutung, einen Gedenkort zu haben, der an einer anderen Stelle sein müsste als eine Ausstellung beispielsweise, die auch eine Lernfunktion hätte, wo es um eine Dokumentation ginge, wo Bildungskonzepte und so was stattfinden könnten. Das hat einfach sehr lange gedauert, bis man diese Schritte definieren konnte", erklärt die Historikerin.
Aufarbeitung als chilenisch-deutsche Zusammenarbeit
Elke Gryglewski ist Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seit 2014 ist sie eine von vier Historikerinnen und Historikern – zwei aus Chile und zwei aus Deutschland – die damit betraut sind, auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad ein Dokumentationszentrum und eine Gedenkstätte zu planen.
"Das Problem ist, wenn wir an die Bewohner der Colonia Dignidad denken, dass dieses System darauf basiert hat, die Gruppen untereinander auszuspielen", erklärt sie. "Das heißt, dass es Menschen gibt, die eindeutig Opfer waren. Die aber zum Beispiel an so einem Abend, an dem jemand als Zielscheibe ausgewählt wurde, verprügelt zu werden, sich in Teilen auch ‚zu Tätern‘ gemacht haben. Also dieses System von Kontrolle, Denunziation und so weiter. Das hat genauso funktioniert, dass man in vielen Fällen nicht sagen kann, diese Person ist nur Opfer oder nur Täter. Es gibt eindeutige Täter und solche Systeme funktionieren nie nur damit, dass eine Person der einzig Schuldige ist. Um so ein Repressionsgebilde zu stabilisieren, braucht man mehr Menschen. Aber das ist der Hintergrund, weshalb es so kompliziert ist."
Keine homogene Gruppe der Opfer
Die überlebenden Opfer sind oft traumatisiert. Sie gehen unterschiedlich mit dem Erlebten um: Während die einen einfach jetzt ihr Leben leben wollen und die Hinterlassenschaften der Colonia Dignidad als wirtschaftliche Basis nutzen, wollen andere sich mit dem, was passiert ist auseinandersetzen. Wieder andere wollen gar nichts mit der Vergangenheit zu tun haben.
"Diese Entscheidung, wer geht weg, wer bleibt, die hat etwas mit anderen Fragestellungen zu tun", erklärt die Historikerin. "Zum einen ist es so, dass es Mut brauchte, wegzugehen. Die Frage war, wenn man keine Ausbildung hatte: Wie baute man sich außerhalb eine Existenz auf? Das sind alles Gründe, die mit die Entscheidung beeinflusst haben, ob jemand weggezogen ist oder nicht."
Die Suche nach dem passenden Ort
Und auch manche Täter und deren Angehörige leben noch in der Kolonie. Ein Gemeinschaftsbau wurde zum Hotel umgebaut, bayerische Folklore soll touristische Einnahmen bringen. Für die Gestaltung einer Gedenkstätte wirft das und anderes auch ganz praktische Fragen auf.
"Was macht man denn beispielsweise mit Gebäuden, wo jetzt Bewohner der Villa leben und die man für eine Gedenkstätte bräuchte. Wie geht man damit um? Kauft man sie denen ab oder was macht man? Oder fällt das dann möglicherweise in der Wahrnehmung in so eine Kategorie: Jetzt gibt man den möglicherweise Mitschuldigen oder Beteiligten eine Aufwandsentschädigung", sagt die Historikerin.
Und dann gibt es auch chilenische Opfer - und Täter. Renate Künast: "Und die ganzen honorigen Familien in Chile hatten ganz viele Jungs beim Militär oder beim Geheimdienst. Das ist nicht deren großes Interesse, hier zu einer Aufarbeitung zu kommen."
"Man muss begreifen lernen"
Komplizierte Fragen, auf die es keine allgemeingültigen Antworten geben kann. Klar scheint aber: Es muss einen Ort des Gedenkens geben. Und man muss begreifen lernen, wie die Errichtung einer autoritären Gesellschaft funktioniert.
"Da kann man ja insgesamt lernen", sagt Renate Künast, "auch international: Was muss eigentlich in Gesellschaften, in Gemeinschaften passieren und was passiert da, damit solche Prozesse am Ende passieren, unterstützt werden, nicht aufgeklärt werden. Man kann daraus für die Demokratie lernen. So einen Ort würde ich da gerne haben."