Gründungsvater der deutschen Soziologie

Rezensiert von Richard Schroetter |
Zu Lebzeiten hat Max Weber nur zwei Bücher veröffentlicht, dennoch gilt er als der Gründungsvater der deutschen Soziologie. Mit seinem kurzen, von einer Nervenkrankheit geprägten Leben befasst sich nun der Historiker Joachim Radkau in der umfassenden Biografie "Max Weber".
Er war - so könnte man frei nach Arno Schmidt sagen - ein "Gehirntier"; ein aus allen Wissensquellen schöpfender überragender Kopf - für die Öffentlichkeit, privat eine zerrissene selbstquälerische Erscheinung wie aus einem Strindberg-Stück. Die "maßlose Schroffheit seines Urteils" konnte extrem verletzend sein, aber wie sein kolossales Wissen auch maßlosen Respekt einflößen. Gemeint ist Max Weber, der Gründungsvater der deutschen Soziologie, der bereits 56-jährig 1920 in München starb.

Zu Lebzeiten hat er nur zwei richtige Bücher publiziert, der Rest seiner Schriften sind Aufsätze, Reden, Enquete-Berichte, unzählige Briefe, die erst nach seinem Tod in Buchform erschienen. Weber sei, meinte der Philosoph Karl Jaspers bewundernd, "der größte Deutsche unseres Zeitalters" gewesen. So sahen es auch Konrad Adenauer, Theodor Heuß, Carl Zuckmayer und viele andere, und so sieht es auch Joachim Radkau in seiner jüngsten 1007 Seiten dicken Weber-Biografie. Nur möchte er das altmodische Klischee vom Geistesheroen und ”Säulenheiligen der Sozialwissenschaften", vom "großen Mann" nicht noch weiter untermauern - im Gegenteil.

Radkau: "Am Ende weiß man nicht mehr, ob Weber unter seinen Zeitgenossen ein "großer Mann" war - falls man je wusste, was ein "großer Mann" ist. Aber ob groß oder nicht: Gewiss ist Weber einer, durch den die Sozialwissenschaften ein Gesicht bekommen; einer, an dem man sich reiben kann, und der wächst, wenn man seine Texte wieder und wieder liest. Irgendwo ein armer Kerl, und doch einer, der einem Trost gibt."

Von Kindheit an schien Max Weber gefährdet zu sein. Eine Hirnhautentzündung des Jungen lässt die Familie die "Gefahr der Verblödung" befürchten. Doch Max ist ein sehr guter Schüler.
Als Wissenschaftler macht Weber eine Blitzkarriere. Mit 22 legt er bereits sein juristisches Referendarexamen ab. Die Fachwelt setzt das Spektrum seiner Themen in Erstaunen. Er schreibt über die römische Agrargeschichte und die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, über mittelalterliche Handelsgesellschaften, über Wertpapiere und Börse. Mit 30 erhält er eine ordentliche Professur für Nationalökonomie. Vier Jahre später bricht dieser Workoholic plötzlich zusammen.

Weber erkrankt an einem schwer diagnostizierbaren Nervenleiden. Extreme Schlafprobleme, Arbeitsstörungen, eine sexuelle Dysfunktion gehören zu den Symptomen seiner Leidensgeschichte. 1900 verschwindet er in einer Nervenheilanstalt. Es dauert dreieinhalb Jahre, bis er wieder ein Buch konzentriert lesen kann. Fast 20 Jahre ist er vom Lehrbetrieb suspendiert.

In dieser Zeit ist er rastlos unterwegs. Er reist, oft nach Italien, ein Land, das er besonders liebt, um besser arbeiten zu können. Insgesamt sechs Jahre verbringt Weber im Ausland, als sei's ihm nur recht, für längere Zeit von seiner modernen Frau, der klugen Frauenrechtlerin Marianne Weber, getrennt zu sein.

Seine großen Arbeiten, das sehen wir hier ganz deutlich, wie etwa die "seinen Weltruhm begründende Studie" über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus, sind in einer Zeit der seelischer Krisen und allergrößter Versagensängste entstanden. Erst die Liebesbeziehung zu Else Jaffé ein Jahr vor seinem Tod scheint ihn davon zu erlösen.

Die Psychohistorie Max Webers, die Körpergeschichte wie Radkau sagt, ist eine Fundgrube für alle, die daran glauben wollen, dass Genie, Wahnsinn und Katastrophe ganz nahe beieinander liegen.
Dabei will uns der Bielefelder Historiker ja nur zeigen, dass bei Max Weber wie bei anderen Menschen auch, so heißt es im Vorwort, unter Verweis auf Arbeiten jüngeren Datums der Neurophysiologie:

Radkau: "Gedanken und Gefühle untrennbar zusammenhängen. "

Doch soweit ist die Neurophysiologie noch nicht gediehen, die Entstehungsgeschichte großer Bücher und Ideen, auch nur im Ansatz erklären zu können. Unfreiwillig entfaltet sich dieses Buch zu einer Art Indizienprozess mit einem Riesenaufgebot an Zeitzeugen und Dokumenten gegen Max Weber als Repräsentanten eines bürgerlich-idealistisch - mag sein verlogenen - und auch selbstgefälligen Wissenschaftsbetriebs. Webers denkerische Potenz, seine Bahn brechenden Theorieangebote, seine bisweilen selbstzerstörerische Aufrichtigkeit, kurz seine intellektuelle Biographie werden zugunsten der Alltags-, Nerven- und Zeitgeschichte relativiert und in den Hintergrund gedrängt.

Das alles würde man vielleicht besser ertragen, besäße Radkau nicht die fatale Eigenschaft, statt die Fakten in ihrer oft undurchschaubaren Fragilität erst einmal zum Sprechen zu bringen, konfrontiert er uns lieber mit Ansichten und Meinungen über sie. Das Buch ist voll lähmender Abschweifungen, Mutmaßungen und Exkurse, die eigentlich in einen separaten Kommentarband gehörten, und ständig werden Zeitsprünge gemacht - der chronologische Ablauf auseinander gerissen. So wird einem peu a peu die Lust am Weiterlesen genommen.

Das größte Manko dieser ausufernden Biographie ist, das ihr sachkundiger Verfasser unendlich viel anzumerken weiß, aber leider nicht gut erzählen kann.

Joachim Radkau : Max Weber - Die Leidenschaft des Denkens
Hanser Verlag 2005
1007 Seiten, 45 Euro