Kommentar: Klima-Utopie
Klimafreundliche Transformation: Einst eine Hochbahntrasse - ist die High Line in Manhattan jetzt ein Park. © IMAGO / VWPics / IMAGO / Sergi Reboredo / VWPics
Her mit dem Großstadtdschungel!
04:33 Minuten
Städtisches Grün ist nicht nur gut fürs Klima, es dient auch der körperlichen Gesundheit und dem Glücksempfinden. Deshalb brauchen wir nicht nur neue Parks, sondern revolutionäre, echte Gartenstraßen - wie die High Line in New York.
Das Summen der Insekten ist unglaublich. Die Menge der Erholungssuchenden auch. Noch unglaublicher ist, dass wir uns knapp acht Meter über dem New Yorker Verkehrschaos befinden – und so gut wie nichts davon mitbekommen. Die Luft? Erheblich besser. Die Stimmung der Flanierenden? Euphorisch. Der High Line Park nutzt eine stillgelegte Güterzugtrasse im Westen von Manhattan, ist 2,6 Kilometer lang, wurde von Privatleuten initiiert. Die außergewöhnliche Stadtlunge zeigt, dass es sich lohnt, neue Wege bei der Begrünung des urbanen Raums zu gehen. Auch gegen Widerstände.
In deutschen Städten grüne Hochtrassen zu bauen, wäre eine wundervolle Herausforderung für die exzellente Ingenieurskunst, die etwas weniger exzellente Bürokratie und, nicht zuletzt, die, nun ja, potenziell exzellente Spendenbereitschaft der Industrie. In Zeiten klammer Stadtsäckel könnte sich etwa ein Konzern wie VW, der im letzten Jahr 17,9 Milliarden Euro Gewinn verbucht hat, nicht zuletzt mit spritdurstigen SUVs, tatkräftig an der umweltfreundlichen Infrastruktur beteiligen.
Grünflächen schaffen, wo heute Straßen sind
So schön wie Parks auf Stelzen sind, noch besser angelegt wäre das Geld in einem echten Gamechanger, bodenständig und lebensfroh: Garten-Straßen.
Die Idee ist denkbar “einfach” und komplex zugleich: Innerstädtische Straßen würden zu Einbahnstraßen. Ausnahmslos. Sie glauben nicht, dass so etwas funktioniert? Tut es aber schon. Etwa in Philadelphia. Dessen Innenstadt besteht fast nur aus Einbahnstraßen, ebenso wie der New Yorker Stadtteil Manhattan.
Also “einfach” die Asphaltwüste halbieren, Grünflächen mit Geh- und Radfahrwegen anlegen. Bäume pflanzen, die an heißen Tagen Schatten spenden, unter denen Anwohner und Anwohnerinnen auf Bänken sitzen und plaudern. Dazwischen Spielplätze, für Groß und Klein. Einige wenige Cafés zahlten Pacht, die der Pflege der Garten-Straßen zugutekäme.
Außerdem könnten - seien wir ehrlich: müssten - Hausgemeinschaften die Straßengärten vor ihrer Tür adoptieren und einen Gartengroschen, an die Grundsteuer gekoppelt, leisten. Das Urban Gardening wäre sowohl Pflicht als auch Kür. Dafür gäbe es das Recht, einen Teil der Grünflächen als Schrebergarten zu nutzen.
Parkplätze wären nur noch auf einer Straßenseite erlaubt. Was zusätzlich Platz schüfe. Die Halbierung des Parkraums muss, fraglos, sozial abgefedert werden. PendlerInnen und Menschen mit Behinderungen würden bei der Vergabe von Anwohnerparkausweisen bevorzugt. Wer auf ein Auto verzichtet, könnte eine Carsharing-Gutschrift erhalten, den öffentlichen Nahverkehr günstiger nutzen.
Mit KI und gemeinsamem Engagement
Solch ein Wandel gelingt nur, wenn es vor Ort BürgerInnenräte gibt. Moral singt am besten im Chor.
Um die wesentlichen Verkehrsflüsse – Lieferdienste, Taxen, Krankenwagen – nachhaltig zu steuern und in den Kernzeiten Staus zu verringern, kann künstliche Intelligenz Wunder wirken. Dank Echtzeit-Daten steuern KI-Algorithmen Ampelsignale, leiten Autos und Lkw um. Fahrzeit und Kraftstoffverbrauch verringern sich. In Wuppertal und Ingolstadt werden solche „Smart Citys“ schon erprobt.
Auch für das Klima wären die Garten-Straßen ein Gewinn. Ähnlich wie Dach- und Fassadenbegrünungen und Entwässerungsmulden wären Sie ein notwendiger Bestandteil der Sponge City, der Schwammstadt. Bei Starkregen kann eine Schwammstadt gefährliche Niederschlagsmengen “schlucken”, Überschwemmungen verhindern. Pflanzen speichern Feuchtigkeit. Das Stadtökosystem wird bei Extremwetterlagen widerstandsfähiger.
Eine Schlaraffenstadt der blühenden Garten-Straßen ohne Mitdenken, Mitmachen und Mitzahlen wird es allerdings nicht geben. Der Preis für uns als Gesellschaft, wenn wir uns nicht bald von der “autogerechten Stadt” verabschieden, dürfte jedoch viel höher sein.
Jeder Einsatz dafür zählt, so klein er auch sein mag. Nun, da ich die Garten-Straße vorgeschlagen habe, gebe ich einen Teil meiner eigenen Privilegien auf. Ich werde unseren Kleinwagen abschaffen, einen Anwohnerparkplatz in Berlin-Mitte räumen.