Grünen-Chefin kündigt "Atomkanzlerin“ heißen Herbst an
Die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen kündigt nach einem Gutachten zu verschiedenen Energieszenarien einen "heißen Herbst" in Sachen Atomkraft an. Das Gutachten beweise, dass eine Laufzeitverlängerung gar keine Vorteile bringe.
Deutschlandradio Kultur: Können die afghanischen Frauen gut Fußball spielen?
Claudia Roth: Ich glaub schon. Das war eines der emotionalsten und bewegendsten Treffen bei ganz vielen, die wir in dieser Woche in Afghanistan hatten. Drei Vertreterinnen der afghanischen Fußballnationalmannschaft, die mit einer Kraft und einer Leidenschaft sagen: Wir können spielen, wenn wir denn einen Platz hätten, wo wir trainieren könnten, wenn wir Unterstützung bekommen. Und wir wissen, wir kämpfen um unsere Rechte, um unsere Freiheit. Und weil wir das kennen, diesen Kampf, sind wir auch die besten Spielerinnen. – Es waren wunderbare Begegnungen. Sie haben sich sehr bedankt für die Unterstützung und ich werde alles dafür tun, dass bei der Fußballweltmeisterschaft der Frauen im nächsten Jahr in Deutschland diese afghanische Mannschaft, diese mutigen Frauen, die oft gegen den Willen ihrer Eltern, ihrer Brüder sich durchsetzen wollen, dass die hier in Deutschland Gast sind.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie da schon Kontakt zum DFB hergestellt, dass die mal gegen Weltmeisterinnen spielen können?
Claudia Roth: Ja, wir haben schon den Kontakt hergestellt. Es gab auch schon mehrere Einladungen von Seiten des DFB. Ich will mal schauen, ob wir nicht ihnen einen Coach zur Verfügung stellen können Es gab einen Trainer, der von Deutschland finanziert wurde, der die Männernationalmannschaft trainiert hat in Afghanistan. Es wäre ein sportliches und ein gesellschaftspolitisches Zeichen, das auch der Frauennationalmannschaft zur Verfügung zu stellen. – Aber das war das Positive, die starken Frauen, die Angst haben, dass man ihnen ihre Rechte wieder wegnehmen will, dass man ihre Rechte einschränken will, und die sagen: Wir können es, gebt uns Unterstützung.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren in dieser Woche, wir haben es gehört, zu Besuch in Afghanistan, bei den Bundeswehrstandorten, aber auch in Kabul. Was ist denn Ihr Eindruck von diesem Land?
Claudia Roth: Ja, ich bin noch ganz frisch zurück in Berlin. Und ich muss Ihnen sagen: Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Wir haben uns heute viel Zeit genommen, also, nicht vier Stunden eben mal im Bundeswehr-Camp und drei Stunden in Kabul, sondern wir waren eine Woche und haben wirklich versucht, einen sehr breiten Eindruck zu bekommen, die ganz unterschiedlichen Perspektiven zu erfahren. Wie sieht die Sicherheitslage aus? Wie sieht der zivile Wiederaufbau aus? Wie sieht die politische Entwicklung aus? Gibt’s überhaupt eine regionale Politik?
Und ich muss Ihnen sagen, die Eindrücke sind ernüchternd. Es gibt erhebliche Verschärfung der Sicherheitslage in den letzten Jahren, erheblich. Und wenn Sie das dann unmittelbar erleben, wenn Sie in einem Militärcamp stehen mit deutschen Soldaten und ein ungarischer Soldat dazu kommt und ich ihn frage, wie geht’s Ihnen, und er mir dann auf Englisch sagt, es geht ihm nicht gut, und mir erzählt, dass just in diesem Moment ein Angriff von einer Mine auf drei ungarische Soldaten passiert ist, einer sofort getötet war, der andere schwer verletzt ist, wenn Sie in Kabul bei einem Gespräch sitzen und erfahren mitten in dem Gespräch, dass in Kabul Schülerinnen und Lehrer und Lehrerinnen in einer Schule vergiftet worden sind, wenn Sie erfahren, dass spanische Polizeiausbilder von einem Auszubildenden erschossen worden sind, also, Sie spüren, es gibt eine Gewalteskalation. Die Sicherheitslage ist dramatisch. Und da muss man Konsequenzen draus ziehen.
Andererseits sehen Sie dann aber ganz, ganz viele Mädchen, die in die Schule gehen, die Lust haben am Lernen. Also, man sieht es halt, die sehen nicht gequält aus, sondern da macht Schule, da macht Lernen Spaß. Sie erleben ein Kabul, ich habe das auch anders erlebt, als ich 2000 zum ersten Mal da war. Da gab's kein Kino, da gab's keine Filme, da gab's kein Radio. Da gab's keine Musik. Sie erleben eine Medienlandschaft, ich glaube, mit 100 Radios. Jeder hat seinen eigenen Radiosender, eine breite Medienlandschaft. Sie erleben also eine Verbesserung, aber gleichzeitig eine erhebliche Verschlechterung der allgemeinen Lage.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei der Sicherheitslage. Hat sich der Strategiewechsel also nicht bewährt? Ist der nicht erfolgreich?
Claudia Roth: Also, ich muss sagen, ich bin außerordentlich skeptisch, was diesen Strategiewechsel angeht. Ich will gleich sagen, wie er uns verkauft wird oder wie man ihn uns beschreibt, erstens, weil ich ihn für absolut widersprüchlich halte. – Also, auf der einen Seite ist ja richtig, man soll die Herzen der Menschen gewinnen. Also, es darf nicht ein internationaler Einsatz sein, der verstanden wird als Krieg gegen die Zivilbevölkerung, was im Rahmen von Operation Enduring Freedom die Tatsache war. Es darf nicht sein, dass die internationalen Truppenkräfte als Besatzungsmacht empfunden werden. Also: Herzen gewinnen der Menschen, das ist richtig.
Der zweite wichtige Punkt Strategiewechsel: Maßnahmen zur Reintegration von – ich sage mal – einfachen Talibankämpfern. Erstens ist es natürlich auch ein Dilemma, was die eigenen Ansprüche angeht. Zum anderen ist es aber sicher richtig, dass man versucht, die einfacheren Kader, die einfacheren Kämpfer, indem man ihnen Jobangebote, Perspektiven gibt, wie sie ihre Familien ernähren können, integriert. – Auf der anderen Seite ist dieser Strategiewechsel aber ganz offensichtlich ein militärisch offensiver, der immer mehr in die offensive Aufstandsbekämpfung auch im breiten Feld ausartet.
Und ich frage diese Bundesregierung auch, sie soll mir mal erklären: Ist es denn ein schleichender Rollenwechsel auch der Bundeswehr, weg von einem Stabilisierungseinsatz, von einer Unterstützung der Regierung, von einer Assistenz beim Wiederaufbau hin zu einer militärischen Aufstandsbekämpfung, die übrigens selbst der Präsident Kasai, mit dem wir geredet haben, ablehnt. Eine Aufstandsbekämpfung, wo nachts in Häuser eingedrungen wird, wo Leute verhaftet werden, wo es auch zu Toten kommt, über 2.000 Taliban seien festgenommen, verhaftet oder zum Teil getötet worden, wo es gezielte Tötungen gibt, nicht von der Bundeswehr, aber von den US-amerikanischen Kräften? Und da frage ich mich schon: Wie soll das denn zusammenpassen? Auf der einen Seite will ich die Taliban reintegrieren. Ich will ein Aussöhnungsprogramm mit den Talibanspitzen? Hohe Frage: Wie soll das gehen? Ein Dilemma, wie das überhaupt gehen soll. Und auf der anderen Seite bekämpfe ich militärisch.
Deutschlandradio Kultur: Was fordern Sie? Ende der Aufstandsbekämpfung?
Claudia Roth: Ich fordere, dass es ein ganz klarer Stabilitätseinsatz ist und nicht eine militärische Offensive, die von den Menschen, von den ganz einfachen Menschen als nicht eine Unterstützung verstanden wird und übrigens von den Nichtregierungsorganisationen, die uns alle geschildert haben ... Nicht dass sie den Abzug wollen, das hat uns niemand gesagt. Jemand, der den Sofort-Abzug fordert, muss ich Ihnen sagen, dem geht’s überhaupt nicht um die Lage der Menschen in Afghanistan. Das ist eine innenpolitische Begründung. Sie brauchen einen Sicherheitsraum, aber Sie brauchen eine klare Unabhängigkeit von unmittelbaren militärischen Einsätzen, denn dieser Einsatz führt auch zu einer Radikalisierung der Taliban. Das hören wir.
Übrigens, es ist natürlich auch eine Frage: Was erreiche ich denn? Erreiche ist, wenn ich 2.000, 2.500, 3.000 Taliban festsetze, verhafte oder "ausschalte" in der Wortwahl derer, die da kämpfen, wenn gleichzeitig in Pakistan – sagt uns die UNO – 20.- bis 40.000 Madrassen, also Religionsschulen, Koranschulen, wo ausgebildet wird, wo ohne Unterbrechung Talibankämpfer ausgebildet werden, dann ist das alles für mich nicht ersichtlich.
Also: Dieser Strategiewechsel mit noch mehr Militär, mit einer größeren militärischen Offensive ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg.
Deutschlandradio Kultur: Ich verstehe Sie noch nicht so richtig. Denn Sie sagen ja selbst, dass Sanitätsfahrzeuge angegriffen werden. Das heißt, die Taliban greifen auch die Bundeswehr an der schwächsten Stelle an. Was sollen die denn machen? Zugucken?
Claudia Roth: Nein, sie sollen nicht zugucken, natürlich nicht. Ich sage ja, es ist ein Dilemma. Da habe ich jetzt nicht eine einfache Antwort. Ich sage nur, dass es keinen Erfolg verspricht, wenn man mehr Militär, mehr militärische Offensive als Aufstandsbekämpfung auch gegen die Zivilbevölkerung einsetzt und dann natürlich konfrontiert ist, da haben Sie recht, mit einem immer professioneller werdenden Gegner.
Übrigens hören wir auch, dass Söldner unterwegs sind aus Usbekistan, aus anderen Ländern. Das ist ein Dilemma. Da muss man die Frage stellen, kann man nicht drumrum reden und kann behaupten, im März wird alles besser. Sondern: Was lernen wir daraus und wie muss der Aufbau und die Ausbildung von afghanischem Militär auf der einen Seite und von afghanischer Polizei auf der anderen Seite, die eine Sicherheitsgarantie für die Bevölkerung ja bilden soll, mit ganz anderer Unterstützung vollzogen werden. Da gibt’s erhebliche Defizite.
Tatsache ist es auch, dass es in der Zwischenzeit Gebiete gibt, wo Militär nicht mehr reingeht, wo die UNAMA, also die Einrichtung er UNO, davon ausgeht, dass dort auch bei den kommenden Wahlen die Menschen gar nicht dran teilnehmen können, weil der Druck von Seiten der Taliban so groß ist, dass die Drohung so groß ist, dass die Menschen gar nicht wählen können – also, ein richtiges Dilemma.
Deutschlandradio Kultur: Also ist der Zivilaufbau, der immer beschrieben worden ist, bisher auch gescheitert?
Claudia Roth: Nein, der ist nicht gescheitert, das würde ich überhaupt nicht sagen. Es sind viele gute Projekte entstanden, aber viel zu wenig. Es ist wirklich ein unglaubliches Defizit. Es gibt Regionen, da haben die Menschen von dem zivilen Aufbau überhaupt noch nichts mitgekriegt. Ich höre jetzt, dass geplant ist, ein Wasserkraftwerk in der Region Wardak zu bauen. Ja, mit Verlaub! Als ich vor zehn Jahren da war, gab es schon die Bitte, ein Wasserkraftwerk zu bauen. Das war noch in Talibanzeiten. Vor acht Jahren, vor sechs Jahren, immer wieder: Wann kommt der Mehrwert des Wiederaufbaus auch in den Regionen an?
Polizeiausbildung? Das ist wichtig. Das ist von zentraler Bedeutung. Es gibt wahrscheinlich kaum eine Gruppe in der afghanischen Bevölkerung oder in der afghanischen Gesellschaft, die so wenig Vertrauen hat oder so wenig Vertrauen genießt, wie die Polizei, wie die afghanische Polizei. Alle sagen mir, und die Frauen, die wir getroffen haben, die Frauenorganisationen sprechen von zunehmender häuslicher Gewalt, von zunehmender Gewalt insgesamt gegen Frauen. – Dann sage ich, vielleicht naiv, na warum geht ihr denn dann nicht zur Polizei. Dann gucken die mich an und sagen: Ja, aber die sind doch Teil des Problems. Die sind doch oft Teil der Täter.
Also, Polizeiausbildung, da mangelt es erstens an der Vorbildung. Also, das habe ich auch erst vor Ort so richtig empfunden, was es heißt, wenn etwa 75 % aller Menschen dort Analphabeten sind. Also, es fehlt an einer Grundbildung – total! Wie willst du da jemanden intensiv ausbilden?
Dann fehlt es an den Polizeiausbildungskräften. Die, die wir getroffen haben, die deutschen Polizeibeamten, da sage ich wirklich, da bräuchte es viel mehr Anerkennung und Respekt hier in unserem Land. Was die leisten, das ist unglaublich. Die kriegen nicht mehr Geld, die kriegen kaum eine Anerkennung. Die kriegen zu Hause eher sogar oft Ärger in ihren eigenen Dienststellen. Aber wir haben noch nicht mal 200 deutsche Polizeibeamte dort. Und die sollen jetzt eine Polizei ausbilden, eine demokratische Polizei? Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit massiv auseinander.
Deutschlandradio Kultur: Aber jetzt drehe ich mal den Spieß um und frage Sie die Frage, die Ihnen jeder Wähler stellen wird: Wenn Sie so bilanzieren, was wollen wir da in Afghanistan, wir die Deutschen?
Claudia Roth: Ja, diese Frage muss man sich stellen und die muss man auch beantworten. Ich glaube, es war richtig zu sagen, es braucht eine Unterstützung in einem Land, das seit 30 Jahren von Krieg, von Gewalt, von unglaublichem Unrecht gebeutelt ist. Es sind viele, viele Menschen, die große Hoffnungen haben, übrigens gerade immer, wenn es drum geht, dass sie sagen, wir haben doch mit Deutschland eine ganz besondere Beziehung.
Aber was fehlt, ist, dass es keine Evaluierung gibt, keine Überprüfung. Was ist denn in diesen zehn Jahren, fast zehn Jahren passiert? Es gibt keine Überprüfung, und zwar kein ungeschöntes Herangehen an die Frage: Sind denn da nicht auch massive Fehler begangen worden? Ist da nicht auch jahrelang Zeit verloren und sind Chancen verspielt worden? Wo sind die Fehler? Wie wirksam sind die Maßnahmen? – Das gibt es nicht. Ich frage oder unsere Partei, wir fragen seit Jahren die Bundesregierung, sie sollen jetzt endlich mal einen Bericht, eine Evaluierung des deutschen Engagements vorlegen. Gibt es nicht, muss aber gemacht werden.
Noch mal: Der zivile Aufbau, wir sagen das seit Langem, braucht absolute Priorität: Polizei-, Justizaufbau. Was nützt eine gut ausgebildete Polizei, wenn es keine Justiz gibt. Bildung, Bildung, Bildung, Bildung! – Da höre ich von der Bundesregierung: "Wir machen die Bildungsoffensive." Dann gehe ich in Kabul aber zu Gesprächspartnern, die mir erzählen, dass in der hoch gerühmten Armani-Oberrealschule, seit 1924 das Vorzeigeprojekt, die Lehrer gestrichen werden, gerade mal noch drei Lehrer dort sind, dass die Mittel gestrichen werden. Dann höre ich, deutsch-afghanische Kulturkooperationen. Gebt den Menschen ihre Identität zurück. Gebt ihnen überhaupt eine afghanische Identität. – Dann gehen Sie mal ins Goethe-Institut in Kabul. Das war die ehemalige DDR-Botschaft. Da fällt Ihnen aber die Decke auf die Wand. Da brechen die Türen aus dem Rahmen. Das ist eine Schande, wie Deutschland sich in der kulturellen Zusammenarbeit und Unterstützung darstellt. – Riesiges Defizit zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben auch mit Diplomaten gesprochen, mit Politikern. Sie waren auch bei Karsai. Wie stellt sich denn die politische Lösung aus Ihrer Sicht jetzt für Afghanistan dar? Kann das in einem bilateralen Verhältnis zwischen – ich sage mal – "dem Westen" und Afghanistan geregelt werden? Welche Rolle spielen die Nachbarn? Sie sprachen Pakistan schon an.
Claudia Roth: Ich glaube, es sind wirklich drei wichtige Bereiche: Es braucht eine Abzugsperspektive, da bin ich absolut dafür, eine militärische Abzugsperspektive.
Deutschlandradio Kultur: Mit einem Termin?
Claudia Roth: Die Termine hat ja Karsai, hat Obama, da gibt es ja Termine, die sind ja fest genannt worden. Ich glaube, 2014/2015 ist realistisch. Aber dann müssen Zwischenschritte beschrieben werden und dann müssen diese Zwischenschritte überprüfbar auch folgen. Also: Übergabe in Verantwortung heißt ja nicht Gesichtswahrung und weg, sondern heißt dann tatsächlich ausbilden, eine eigene afghanische Sicherheitsstruktur.
Zweitens der zivile Wiederaufbau: Da machen die Nichtregierungsorganisationen unglaublich viel. Da macht die GTZ, der DED, die KfW, die NGOs, wie die Caritas, die wir getroffen haben, die Johanniter, Medica Mondiale, die machen ganz viel. Die wollen aber, mit Verlaub, ihre Unabhängigkeit von der Bundeswehr. Die wollen nicht von Herrn Niebel dazu gezwungen werden, dass sie ihre Arbeit in Afghanistan im Zusammenhang mit Bundeswehr machen.
Und drittens der politische Aufbau: Der ist natürlich von totaler Bedeutung, dass es überhaupt eine staatliche Struktur gibt. Da gibt’s auch viele Defizite, ohne Zweifel. Afghanistan steht vor den Wahlen. Am 18. September wird gewählt. Verständlich, dass der Präsident die Vorbereitungen anders sieht als eher kritische Stimmen, die sagen, es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder zu erheblichen Einflüssen kommt, dass die Wahlen nicht regulär sind. Da hilft die UNAMA sehr viel, um ein möglichst betrugsfreies Wahlverfahren sicherzustellen.
Karsai sagt ganz klar: Das Problem ist Pakistan. Die Taliban werden nicht in den Bergdörfern in Afghanistan ausgebildet. Der Ort, wo die fundamentalistischen terroristischen Kräfte herkommen, sei Pakistan. Er sagt: Wenn die internationale Gemeinschaft gegenüber Pakistan sich nicht klar verhält, seien sie – afghanische Regierung, Präsident – geradezu gezwungen, ihrerseits mit den Taliban zu einer "reconciliation" wie es heißt, also, zu einem Versöhnungsprozess, wie man es freundlich umschreibt, man könnte auch sagen Machtteilhabe, zu kommen.
Ich glaube, das ist bitter. Das ist ein Dilemma. Und ich muss Ihnen sagen, das ist super bitter, anerkennen zu müssen, dass es möglicherweise gar keine Alternative gibt, als tatsächlich mit den Taliban zu verhandeln. Das ist bitter für die Menschenrechtskommission, für die Vorsitzende Dr. Sima Samar, die wir getroffen haben. Die sagt natürlich: Es gibt in Afghanistan Opfer der Taliban. Wie wird garantiert, dass die nicht ein zweites Mal Opfer werden? Wie wird garantiert, dass aus der islamischen Republik Afghanistan, die sich demokratisieren soll, nicht ein islamisches Emirat wird, was die Vorstellung der Taliban ist? Ein Dilemma! Dem muss man sich stellen. Und da muss dann eben auch in einer regionalen Politik, die es ehrlich gesagt kaum gibt, was Pakistan angeht, auch dafür gesorgt werden, dass diese "Produktion" von Taliban aus Pakistan so nicht weiter geht.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren diese Woche in Afghanistan. Kommen wir mal zu Ihrer Partei. Sie haben gestanden nach großen Diskussionen zu diesem Auslandseinsatz in Afghanistan. Ist es der Letzte, dem die Grünen zustimmen werden?
Claudia Roth: Nein. Ich hoffe erstens, dass wir eine präventive, konfliktpräventive Politik auf internationaler Ebene machen, dass wir nicht immer so lange warten, bis ein Gewaltkonflikt entsteht, sondern dass Gewalt im Ansatz viel stärker verhindert werden kann. Aber wir machen es vielleicht anders als andere. Wir sind nicht die Partei des schnellen Ja und des einfachen Nein, sondern wir überprüfen, was war richtig und was falsch.
Ich befürchte, dass sehr viel Fehler gemacht worden sind. Möglicherweise haben wir selber unterschätzt die Herausforderungen. Möglicherweise haben wir selber überschätzt, dass das eigene Entwicklungsmodell einer europäischen Demokratie nicht einfach zu übertragen ist. Wenn ich das sage, dann ist das auch für mich ein Dilemma. Denn was heißt das dann für die Universalität der Menschen- und Frauenrechte? – Also, keine einfachen Antworten.
Der Einsatz ist in die falsche Richtung gegangen, indem er sehr militärfixiert war, indem mit Operation Enduring Freedom ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt worden ist und nicht sozusagen die Assistenz beim Wiederaufbau im Vordergrund gestanden hat. Und ich will nicht, dass die Bundeswehr reinschlittert in eine militärische Aufstandsbekämpfung, die was ganz anderes ist als dieser Stabilitätseinsatz.
Deutschlandradio Kultur: Aber die großen Debatten in Ihrer Partei, ich sage mal, zwischen der linken Autobahnseite Pazifismus und Militäreinsatz auf der anderen Seite der Autobahn, die sind doch erlahmt in Ihrer Partei.
Claudia Roth: Die Debatte, was ist richtig für Afghanistan, ist überhaupt nicht erlahmt. Und deswegen sind wir jetzt auch eben eine Woche gefahren und nicht nur ein paar Stunden, um unserer Partei zu berichten und in unserer Partei zu diskutieren: Was ist das Beste für die Menschen in Afghanistan? Wie sehen die Schritte hin zu einem Abzug aus? So, aber da mache ich es auch nicht so wie die Bundesregierung, die dann den Eindruck erweckt, wir ziehen ab und das war's dann, so schnell wie möglich weg, Hauptsache Gesicht bewahren. Denn ein internationaler Einsatz darf natürlich nicht scheitern.
Sondern dann sage ich: Der Abzug der Militärs, der Abzug der Kampftruppen – und da bin ich sehr dafür, dass es da ein Ziel gibt – heißt natürlich nicht, dass wir dann keine Verantwortung mehr haben. Dann braucht es die weitere Verantwortung bei der Ausbildung. Dann braucht's die Verantwortung bei der Entwicklungszusammenarbeit in einem der ärmsten Länder. Und dann braucht's eine Unterstützung für das, was gut war und was auch schon gut läuft: Lehrerausbildung, Kultur, Bildung, also diese Bereiche.
Deutschlandradio Kultur: Aber warum denken Sie da nicht an die Soldaten? Denn die Soldaten und auch die Polizisten klagen, ihr Auslandseinsatz werde in Deutschland nicht anerkannt. Sie kommen zurück und stoßen auf Unverständnis.
Claudia Roth: Das verstehe ich. Ich muss Ihnen das wirklich sagen. Und ich sage auch für mich: Allerhöchster Respekt, allerhöchste Anerkennung für die Deutschen, die dort vor Ort sind – seien es nun die Polizeibeamten und -beamtinnen, seien es die vielen deutschen Soldatinnen und Soldaten, die schon auch in den direkten Gesprächen, die wir geführt haben fragen, ja, warum sind wir eigentlich da, warum sind wir eigentlich da, die die Antwort wollen. Die sagen: Wenn ein Soldat, ein Kamerad, wie sie sich nennen, stirbt, was sagen wir dann der Familie? Was sagen wir der Ehefrau? Was sagen wir den Kindern? Warum?
Deutschlandradio Kultur: Die Partei die Grünen kümmert sich doch auch nicht um die Soldaten.
Claudia Roth: Also, ich glaube, dass wir – anders als andere – allein nicht durch die Tatsache, dass es bei uns keine Versammlung, keinen Parteitag gibt, wo es nicht auch eine öffentliche, eine breite Debatte in der Partei gibt, dass damit auch den Soldatinnen und Soldaten zeigen, und ich habe das in jedem Gespräch und wir haben das in jedem Gespräch betont. Die Frage einer Zustimmung oder einer Ablehnung eines Mandats, das ist nicht nur die Antwort auf die Frage, was ist gut für Afghanistan, für die Menschen in Afghanistan, sondern das ist immer auch – und da haben Menschen, wie Winni Nachtwei, der lange Jahre im Bundestag war und jetzt weiterarbeitet, in Afghanistan im Moment auch ist, immer wieder darauf bestanden – zu fragen: Was sind die Voraussetzungen, unter denen wir es verantworten können, auch deutsche Soldatinnen und Soldaten in einen Einsatz zu schicken? Das ist ihr Umfeld, das ist aber auch die Begründung, warum so ein Einsatz richtig ist und warum er stattfindet.
Und auch da höchstes Lob von mir, was wir da erlebt haben, was wir gesehen haben, unter welchen Bedingungen die dort arbeiten, Soldatinnen und Soldaten, die überhaupt nicht militaristische Rambos sind, sondern die wirklich mit großer Überzeugung und Engagement sagen: Wir wollen, dass es den Menschen dort besser geht.
Deutschlandradio Kultur: Frau Roth, ganz zum Schluss unseres Gespräches doch noch eine Frage zur aktuellen innenpolitischen Debatte um den Atomausstieg, Laufzeitverlängerung der AKWs. Ganz kurz von Ihnen: Warum sollen die Laufzeiten eigentlich nicht verlängert werden, wenn es denn doch so kostengünstig und so klimafreundlich ist?
Claudia Roth: Also erstens, dieses berühmt-berüchtigte Energieszenario, das ja unter Verschluss gehalten wird wie ein Staatsgeheimnis, wo ich mich auch frage, woher kommt das, wenn es doch unabhängig sein soll, beweist ja, dass es gar keine Vorteile gibt. Die Laufzeitverlängerung wirkt sich nicht positiv auf den Strompreis aus. Es gibt keine Versorgungslücke. Wir brauchen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke nicht. Sie sind allerdings eine erhebliche Sicherheitsgefährdung für die Bevölkerung. Es ist nicht geklärt, wo der verstrahlte Müll hin soll. Die ASSE ist ein Milliardengrab. Es verstopft die Chancen für die erneuerbaren Energien. Die Stadtwerke beklagen sich, dass es nur eine Unterstützung für die Oligarchie der vier großen Atomriesen ist, für die Atom-, für die Energiekonzerne.
Also, die Laufzeitverlängerung hat nur Nachteile, ist nicht nötig, ist nicht billig, aber sie ist ein wunderbarer Zugewinn für die großen Konzerne. Und die Atomkanzlerin wird sich noch wundern, wie heiß dieser Herbst wird.
Deutschlandradio Kultur: Frau Roth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Claudia Roth: Ich glaub schon. Das war eines der emotionalsten und bewegendsten Treffen bei ganz vielen, die wir in dieser Woche in Afghanistan hatten. Drei Vertreterinnen der afghanischen Fußballnationalmannschaft, die mit einer Kraft und einer Leidenschaft sagen: Wir können spielen, wenn wir denn einen Platz hätten, wo wir trainieren könnten, wenn wir Unterstützung bekommen. Und wir wissen, wir kämpfen um unsere Rechte, um unsere Freiheit. Und weil wir das kennen, diesen Kampf, sind wir auch die besten Spielerinnen. – Es waren wunderbare Begegnungen. Sie haben sich sehr bedankt für die Unterstützung und ich werde alles dafür tun, dass bei der Fußballweltmeisterschaft der Frauen im nächsten Jahr in Deutschland diese afghanische Mannschaft, diese mutigen Frauen, die oft gegen den Willen ihrer Eltern, ihrer Brüder sich durchsetzen wollen, dass die hier in Deutschland Gast sind.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie da schon Kontakt zum DFB hergestellt, dass die mal gegen Weltmeisterinnen spielen können?
Claudia Roth: Ja, wir haben schon den Kontakt hergestellt. Es gab auch schon mehrere Einladungen von Seiten des DFB. Ich will mal schauen, ob wir nicht ihnen einen Coach zur Verfügung stellen können Es gab einen Trainer, der von Deutschland finanziert wurde, der die Männernationalmannschaft trainiert hat in Afghanistan. Es wäre ein sportliches und ein gesellschaftspolitisches Zeichen, das auch der Frauennationalmannschaft zur Verfügung zu stellen. – Aber das war das Positive, die starken Frauen, die Angst haben, dass man ihnen ihre Rechte wieder wegnehmen will, dass man ihre Rechte einschränken will, und die sagen: Wir können es, gebt uns Unterstützung.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren in dieser Woche, wir haben es gehört, zu Besuch in Afghanistan, bei den Bundeswehrstandorten, aber auch in Kabul. Was ist denn Ihr Eindruck von diesem Land?
Claudia Roth: Ja, ich bin noch ganz frisch zurück in Berlin. Und ich muss Ihnen sagen: Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Wir haben uns heute viel Zeit genommen, also, nicht vier Stunden eben mal im Bundeswehr-Camp und drei Stunden in Kabul, sondern wir waren eine Woche und haben wirklich versucht, einen sehr breiten Eindruck zu bekommen, die ganz unterschiedlichen Perspektiven zu erfahren. Wie sieht die Sicherheitslage aus? Wie sieht der zivile Wiederaufbau aus? Wie sieht die politische Entwicklung aus? Gibt’s überhaupt eine regionale Politik?
Und ich muss Ihnen sagen, die Eindrücke sind ernüchternd. Es gibt erhebliche Verschärfung der Sicherheitslage in den letzten Jahren, erheblich. Und wenn Sie das dann unmittelbar erleben, wenn Sie in einem Militärcamp stehen mit deutschen Soldaten und ein ungarischer Soldat dazu kommt und ich ihn frage, wie geht’s Ihnen, und er mir dann auf Englisch sagt, es geht ihm nicht gut, und mir erzählt, dass just in diesem Moment ein Angriff von einer Mine auf drei ungarische Soldaten passiert ist, einer sofort getötet war, der andere schwer verletzt ist, wenn Sie in Kabul bei einem Gespräch sitzen und erfahren mitten in dem Gespräch, dass in Kabul Schülerinnen und Lehrer und Lehrerinnen in einer Schule vergiftet worden sind, wenn Sie erfahren, dass spanische Polizeiausbilder von einem Auszubildenden erschossen worden sind, also, Sie spüren, es gibt eine Gewalteskalation. Die Sicherheitslage ist dramatisch. Und da muss man Konsequenzen draus ziehen.
Andererseits sehen Sie dann aber ganz, ganz viele Mädchen, die in die Schule gehen, die Lust haben am Lernen. Also, man sieht es halt, die sehen nicht gequält aus, sondern da macht Schule, da macht Lernen Spaß. Sie erleben ein Kabul, ich habe das auch anders erlebt, als ich 2000 zum ersten Mal da war. Da gab's kein Kino, da gab's keine Filme, da gab's kein Radio. Da gab's keine Musik. Sie erleben eine Medienlandschaft, ich glaube, mit 100 Radios. Jeder hat seinen eigenen Radiosender, eine breite Medienlandschaft. Sie erleben also eine Verbesserung, aber gleichzeitig eine erhebliche Verschlechterung der allgemeinen Lage.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei der Sicherheitslage. Hat sich der Strategiewechsel also nicht bewährt? Ist der nicht erfolgreich?
Claudia Roth: Also, ich muss sagen, ich bin außerordentlich skeptisch, was diesen Strategiewechsel angeht. Ich will gleich sagen, wie er uns verkauft wird oder wie man ihn uns beschreibt, erstens, weil ich ihn für absolut widersprüchlich halte. – Also, auf der einen Seite ist ja richtig, man soll die Herzen der Menschen gewinnen. Also, es darf nicht ein internationaler Einsatz sein, der verstanden wird als Krieg gegen die Zivilbevölkerung, was im Rahmen von Operation Enduring Freedom die Tatsache war. Es darf nicht sein, dass die internationalen Truppenkräfte als Besatzungsmacht empfunden werden. Also: Herzen gewinnen der Menschen, das ist richtig.
Der zweite wichtige Punkt Strategiewechsel: Maßnahmen zur Reintegration von – ich sage mal – einfachen Talibankämpfern. Erstens ist es natürlich auch ein Dilemma, was die eigenen Ansprüche angeht. Zum anderen ist es aber sicher richtig, dass man versucht, die einfacheren Kader, die einfacheren Kämpfer, indem man ihnen Jobangebote, Perspektiven gibt, wie sie ihre Familien ernähren können, integriert. – Auf der anderen Seite ist dieser Strategiewechsel aber ganz offensichtlich ein militärisch offensiver, der immer mehr in die offensive Aufstandsbekämpfung auch im breiten Feld ausartet.
Und ich frage diese Bundesregierung auch, sie soll mir mal erklären: Ist es denn ein schleichender Rollenwechsel auch der Bundeswehr, weg von einem Stabilisierungseinsatz, von einer Unterstützung der Regierung, von einer Assistenz beim Wiederaufbau hin zu einer militärischen Aufstandsbekämpfung, die übrigens selbst der Präsident Kasai, mit dem wir geredet haben, ablehnt. Eine Aufstandsbekämpfung, wo nachts in Häuser eingedrungen wird, wo Leute verhaftet werden, wo es auch zu Toten kommt, über 2.000 Taliban seien festgenommen, verhaftet oder zum Teil getötet worden, wo es gezielte Tötungen gibt, nicht von der Bundeswehr, aber von den US-amerikanischen Kräften? Und da frage ich mich schon: Wie soll das denn zusammenpassen? Auf der einen Seite will ich die Taliban reintegrieren. Ich will ein Aussöhnungsprogramm mit den Talibanspitzen? Hohe Frage: Wie soll das gehen? Ein Dilemma, wie das überhaupt gehen soll. Und auf der anderen Seite bekämpfe ich militärisch.
Deutschlandradio Kultur: Was fordern Sie? Ende der Aufstandsbekämpfung?
Claudia Roth: Ich fordere, dass es ein ganz klarer Stabilitätseinsatz ist und nicht eine militärische Offensive, die von den Menschen, von den ganz einfachen Menschen als nicht eine Unterstützung verstanden wird und übrigens von den Nichtregierungsorganisationen, die uns alle geschildert haben ... Nicht dass sie den Abzug wollen, das hat uns niemand gesagt. Jemand, der den Sofort-Abzug fordert, muss ich Ihnen sagen, dem geht’s überhaupt nicht um die Lage der Menschen in Afghanistan. Das ist eine innenpolitische Begründung. Sie brauchen einen Sicherheitsraum, aber Sie brauchen eine klare Unabhängigkeit von unmittelbaren militärischen Einsätzen, denn dieser Einsatz führt auch zu einer Radikalisierung der Taliban. Das hören wir.
Übrigens, es ist natürlich auch eine Frage: Was erreiche ich denn? Erreiche ist, wenn ich 2.000, 2.500, 3.000 Taliban festsetze, verhafte oder "ausschalte" in der Wortwahl derer, die da kämpfen, wenn gleichzeitig in Pakistan – sagt uns die UNO – 20.- bis 40.000 Madrassen, also Religionsschulen, Koranschulen, wo ausgebildet wird, wo ohne Unterbrechung Talibankämpfer ausgebildet werden, dann ist das alles für mich nicht ersichtlich.
Also: Dieser Strategiewechsel mit noch mehr Militär, mit einer größeren militärischen Offensive ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg.
Deutschlandradio Kultur: Ich verstehe Sie noch nicht so richtig. Denn Sie sagen ja selbst, dass Sanitätsfahrzeuge angegriffen werden. Das heißt, die Taliban greifen auch die Bundeswehr an der schwächsten Stelle an. Was sollen die denn machen? Zugucken?
Claudia Roth: Nein, sie sollen nicht zugucken, natürlich nicht. Ich sage ja, es ist ein Dilemma. Da habe ich jetzt nicht eine einfache Antwort. Ich sage nur, dass es keinen Erfolg verspricht, wenn man mehr Militär, mehr militärische Offensive als Aufstandsbekämpfung auch gegen die Zivilbevölkerung einsetzt und dann natürlich konfrontiert ist, da haben Sie recht, mit einem immer professioneller werdenden Gegner.
Übrigens hören wir auch, dass Söldner unterwegs sind aus Usbekistan, aus anderen Ländern. Das ist ein Dilemma. Da muss man die Frage stellen, kann man nicht drumrum reden und kann behaupten, im März wird alles besser. Sondern: Was lernen wir daraus und wie muss der Aufbau und die Ausbildung von afghanischem Militär auf der einen Seite und von afghanischer Polizei auf der anderen Seite, die eine Sicherheitsgarantie für die Bevölkerung ja bilden soll, mit ganz anderer Unterstützung vollzogen werden. Da gibt’s erhebliche Defizite.
Tatsache ist es auch, dass es in der Zwischenzeit Gebiete gibt, wo Militär nicht mehr reingeht, wo die UNAMA, also die Einrichtung er UNO, davon ausgeht, dass dort auch bei den kommenden Wahlen die Menschen gar nicht dran teilnehmen können, weil der Druck von Seiten der Taliban so groß ist, dass die Drohung so groß ist, dass die Menschen gar nicht wählen können – also, ein richtiges Dilemma.
Deutschlandradio Kultur: Also ist der Zivilaufbau, der immer beschrieben worden ist, bisher auch gescheitert?
Claudia Roth: Nein, der ist nicht gescheitert, das würde ich überhaupt nicht sagen. Es sind viele gute Projekte entstanden, aber viel zu wenig. Es ist wirklich ein unglaubliches Defizit. Es gibt Regionen, da haben die Menschen von dem zivilen Aufbau überhaupt noch nichts mitgekriegt. Ich höre jetzt, dass geplant ist, ein Wasserkraftwerk in der Region Wardak zu bauen. Ja, mit Verlaub! Als ich vor zehn Jahren da war, gab es schon die Bitte, ein Wasserkraftwerk zu bauen. Das war noch in Talibanzeiten. Vor acht Jahren, vor sechs Jahren, immer wieder: Wann kommt der Mehrwert des Wiederaufbaus auch in den Regionen an?
Polizeiausbildung? Das ist wichtig. Das ist von zentraler Bedeutung. Es gibt wahrscheinlich kaum eine Gruppe in der afghanischen Bevölkerung oder in der afghanischen Gesellschaft, die so wenig Vertrauen hat oder so wenig Vertrauen genießt, wie die Polizei, wie die afghanische Polizei. Alle sagen mir, und die Frauen, die wir getroffen haben, die Frauenorganisationen sprechen von zunehmender häuslicher Gewalt, von zunehmender Gewalt insgesamt gegen Frauen. – Dann sage ich, vielleicht naiv, na warum geht ihr denn dann nicht zur Polizei. Dann gucken die mich an und sagen: Ja, aber die sind doch Teil des Problems. Die sind doch oft Teil der Täter.
Also, Polizeiausbildung, da mangelt es erstens an der Vorbildung. Also, das habe ich auch erst vor Ort so richtig empfunden, was es heißt, wenn etwa 75 % aller Menschen dort Analphabeten sind. Also, es fehlt an einer Grundbildung – total! Wie willst du da jemanden intensiv ausbilden?
Dann fehlt es an den Polizeiausbildungskräften. Die, die wir getroffen haben, die deutschen Polizeibeamten, da sage ich wirklich, da bräuchte es viel mehr Anerkennung und Respekt hier in unserem Land. Was die leisten, das ist unglaublich. Die kriegen nicht mehr Geld, die kriegen kaum eine Anerkennung. Die kriegen zu Hause eher sogar oft Ärger in ihren eigenen Dienststellen. Aber wir haben noch nicht mal 200 deutsche Polizeibeamte dort. Und die sollen jetzt eine Polizei ausbilden, eine demokratische Polizei? Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit massiv auseinander.
Deutschlandradio Kultur: Aber jetzt drehe ich mal den Spieß um und frage Sie die Frage, die Ihnen jeder Wähler stellen wird: Wenn Sie so bilanzieren, was wollen wir da in Afghanistan, wir die Deutschen?
Claudia Roth: Ja, diese Frage muss man sich stellen und die muss man auch beantworten. Ich glaube, es war richtig zu sagen, es braucht eine Unterstützung in einem Land, das seit 30 Jahren von Krieg, von Gewalt, von unglaublichem Unrecht gebeutelt ist. Es sind viele, viele Menschen, die große Hoffnungen haben, übrigens gerade immer, wenn es drum geht, dass sie sagen, wir haben doch mit Deutschland eine ganz besondere Beziehung.
Aber was fehlt, ist, dass es keine Evaluierung gibt, keine Überprüfung. Was ist denn in diesen zehn Jahren, fast zehn Jahren passiert? Es gibt keine Überprüfung, und zwar kein ungeschöntes Herangehen an die Frage: Sind denn da nicht auch massive Fehler begangen worden? Ist da nicht auch jahrelang Zeit verloren und sind Chancen verspielt worden? Wo sind die Fehler? Wie wirksam sind die Maßnahmen? – Das gibt es nicht. Ich frage oder unsere Partei, wir fragen seit Jahren die Bundesregierung, sie sollen jetzt endlich mal einen Bericht, eine Evaluierung des deutschen Engagements vorlegen. Gibt es nicht, muss aber gemacht werden.
Noch mal: Der zivile Aufbau, wir sagen das seit Langem, braucht absolute Priorität: Polizei-, Justizaufbau. Was nützt eine gut ausgebildete Polizei, wenn es keine Justiz gibt. Bildung, Bildung, Bildung, Bildung! – Da höre ich von der Bundesregierung: "Wir machen die Bildungsoffensive." Dann gehe ich in Kabul aber zu Gesprächspartnern, die mir erzählen, dass in der hoch gerühmten Armani-Oberrealschule, seit 1924 das Vorzeigeprojekt, die Lehrer gestrichen werden, gerade mal noch drei Lehrer dort sind, dass die Mittel gestrichen werden. Dann höre ich, deutsch-afghanische Kulturkooperationen. Gebt den Menschen ihre Identität zurück. Gebt ihnen überhaupt eine afghanische Identität. – Dann gehen Sie mal ins Goethe-Institut in Kabul. Das war die ehemalige DDR-Botschaft. Da fällt Ihnen aber die Decke auf die Wand. Da brechen die Türen aus dem Rahmen. Das ist eine Schande, wie Deutschland sich in der kulturellen Zusammenarbeit und Unterstützung darstellt. – Riesiges Defizit zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben auch mit Diplomaten gesprochen, mit Politikern. Sie waren auch bei Karsai. Wie stellt sich denn die politische Lösung aus Ihrer Sicht jetzt für Afghanistan dar? Kann das in einem bilateralen Verhältnis zwischen – ich sage mal – "dem Westen" und Afghanistan geregelt werden? Welche Rolle spielen die Nachbarn? Sie sprachen Pakistan schon an.
Claudia Roth: Ich glaube, es sind wirklich drei wichtige Bereiche: Es braucht eine Abzugsperspektive, da bin ich absolut dafür, eine militärische Abzugsperspektive.
Deutschlandradio Kultur: Mit einem Termin?
Claudia Roth: Die Termine hat ja Karsai, hat Obama, da gibt es ja Termine, die sind ja fest genannt worden. Ich glaube, 2014/2015 ist realistisch. Aber dann müssen Zwischenschritte beschrieben werden und dann müssen diese Zwischenschritte überprüfbar auch folgen. Also: Übergabe in Verantwortung heißt ja nicht Gesichtswahrung und weg, sondern heißt dann tatsächlich ausbilden, eine eigene afghanische Sicherheitsstruktur.
Zweitens der zivile Wiederaufbau: Da machen die Nichtregierungsorganisationen unglaublich viel. Da macht die GTZ, der DED, die KfW, die NGOs, wie die Caritas, die wir getroffen haben, die Johanniter, Medica Mondiale, die machen ganz viel. Die wollen aber, mit Verlaub, ihre Unabhängigkeit von der Bundeswehr. Die wollen nicht von Herrn Niebel dazu gezwungen werden, dass sie ihre Arbeit in Afghanistan im Zusammenhang mit Bundeswehr machen.
Und drittens der politische Aufbau: Der ist natürlich von totaler Bedeutung, dass es überhaupt eine staatliche Struktur gibt. Da gibt’s auch viele Defizite, ohne Zweifel. Afghanistan steht vor den Wahlen. Am 18. September wird gewählt. Verständlich, dass der Präsident die Vorbereitungen anders sieht als eher kritische Stimmen, die sagen, es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder zu erheblichen Einflüssen kommt, dass die Wahlen nicht regulär sind. Da hilft die UNAMA sehr viel, um ein möglichst betrugsfreies Wahlverfahren sicherzustellen.
Karsai sagt ganz klar: Das Problem ist Pakistan. Die Taliban werden nicht in den Bergdörfern in Afghanistan ausgebildet. Der Ort, wo die fundamentalistischen terroristischen Kräfte herkommen, sei Pakistan. Er sagt: Wenn die internationale Gemeinschaft gegenüber Pakistan sich nicht klar verhält, seien sie – afghanische Regierung, Präsident – geradezu gezwungen, ihrerseits mit den Taliban zu einer "reconciliation" wie es heißt, also, zu einem Versöhnungsprozess, wie man es freundlich umschreibt, man könnte auch sagen Machtteilhabe, zu kommen.
Ich glaube, das ist bitter. Das ist ein Dilemma. Und ich muss Ihnen sagen, das ist super bitter, anerkennen zu müssen, dass es möglicherweise gar keine Alternative gibt, als tatsächlich mit den Taliban zu verhandeln. Das ist bitter für die Menschenrechtskommission, für die Vorsitzende Dr. Sima Samar, die wir getroffen haben. Die sagt natürlich: Es gibt in Afghanistan Opfer der Taliban. Wie wird garantiert, dass die nicht ein zweites Mal Opfer werden? Wie wird garantiert, dass aus der islamischen Republik Afghanistan, die sich demokratisieren soll, nicht ein islamisches Emirat wird, was die Vorstellung der Taliban ist? Ein Dilemma! Dem muss man sich stellen. Und da muss dann eben auch in einer regionalen Politik, die es ehrlich gesagt kaum gibt, was Pakistan angeht, auch dafür gesorgt werden, dass diese "Produktion" von Taliban aus Pakistan so nicht weiter geht.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren diese Woche in Afghanistan. Kommen wir mal zu Ihrer Partei. Sie haben gestanden nach großen Diskussionen zu diesem Auslandseinsatz in Afghanistan. Ist es der Letzte, dem die Grünen zustimmen werden?
Claudia Roth: Nein. Ich hoffe erstens, dass wir eine präventive, konfliktpräventive Politik auf internationaler Ebene machen, dass wir nicht immer so lange warten, bis ein Gewaltkonflikt entsteht, sondern dass Gewalt im Ansatz viel stärker verhindert werden kann. Aber wir machen es vielleicht anders als andere. Wir sind nicht die Partei des schnellen Ja und des einfachen Nein, sondern wir überprüfen, was war richtig und was falsch.
Ich befürchte, dass sehr viel Fehler gemacht worden sind. Möglicherweise haben wir selber unterschätzt die Herausforderungen. Möglicherweise haben wir selber überschätzt, dass das eigene Entwicklungsmodell einer europäischen Demokratie nicht einfach zu übertragen ist. Wenn ich das sage, dann ist das auch für mich ein Dilemma. Denn was heißt das dann für die Universalität der Menschen- und Frauenrechte? – Also, keine einfachen Antworten.
Der Einsatz ist in die falsche Richtung gegangen, indem er sehr militärfixiert war, indem mit Operation Enduring Freedom ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt worden ist und nicht sozusagen die Assistenz beim Wiederaufbau im Vordergrund gestanden hat. Und ich will nicht, dass die Bundeswehr reinschlittert in eine militärische Aufstandsbekämpfung, die was ganz anderes ist als dieser Stabilitätseinsatz.
Deutschlandradio Kultur: Aber die großen Debatten in Ihrer Partei, ich sage mal, zwischen der linken Autobahnseite Pazifismus und Militäreinsatz auf der anderen Seite der Autobahn, die sind doch erlahmt in Ihrer Partei.
Claudia Roth: Die Debatte, was ist richtig für Afghanistan, ist überhaupt nicht erlahmt. Und deswegen sind wir jetzt auch eben eine Woche gefahren und nicht nur ein paar Stunden, um unserer Partei zu berichten und in unserer Partei zu diskutieren: Was ist das Beste für die Menschen in Afghanistan? Wie sehen die Schritte hin zu einem Abzug aus? So, aber da mache ich es auch nicht so wie die Bundesregierung, die dann den Eindruck erweckt, wir ziehen ab und das war's dann, so schnell wie möglich weg, Hauptsache Gesicht bewahren. Denn ein internationaler Einsatz darf natürlich nicht scheitern.
Sondern dann sage ich: Der Abzug der Militärs, der Abzug der Kampftruppen – und da bin ich sehr dafür, dass es da ein Ziel gibt – heißt natürlich nicht, dass wir dann keine Verantwortung mehr haben. Dann braucht es die weitere Verantwortung bei der Ausbildung. Dann braucht's die Verantwortung bei der Entwicklungszusammenarbeit in einem der ärmsten Länder. Und dann braucht's eine Unterstützung für das, was gut war und was auch schon gut läuft: Lehrerausbildung, Kultur, Bildung, also diese Bereiche.
Deutschlandradio Kultur: Aber warum denken Sie da nicht an die Soldaten? Denn die Soldaten und auch die Polizisten klagen, ihr Auslandseinsatz werde in Deutschland nicht anerkannt. Sie kommen zurück und stoßen auf Unverständnis.
Claudia Roth: Das verstehe ich. Ich muss Ihnen das wirklich sagen. Und ich sage auch für mich: Allerhöchster Respekt, allerhöchste Anerkennung für die Deutschen, die dort vor Ort sind – seien es nun die Polizeibeamten und -beamtinnen, seien es die vielen deutschen Soldatinnen und Soldaten, die schon auch in den direkten Gesprächen, die wir geführt haben fragen, ja, warum sind wir eigentlich da, warum sind wir eigentlich da, die die Antwort wollen. Die sagen: Wenn ein Soldat, ein Kamerad, wie sie sich nennen, stirbt, was sagen wir dann der Familie? Was sagen wir der Ehefrau? Was sagen wir den Kindern? Warum?
Deutschlandradio Kultur: Die Partei die Grünen kümmert sich doch auch nicht um die Soldaten.
Claudia Roth: Also, ich glaube, dass wir – anders als andere – allein nicht durch die Tatsache, dass es bei uns keine Versammlung, keinen Parteitag gibt, wo es nicht auch eine öffentliche, eine breite Debatte in der Partei gibt, dass damit auch den Soldatinnen und Soldaten zeigen, und ich habe das in jedem Gespräch und wir haben das in jedem Gespräch betont. Die Frage einer Zustimmung oder einer Ablehnung eines Mandats, das ist nicht nur die Antwort auf die Frage, was ist gut für Afghanistan, für die Menschen in Afghanistan, sondern das ist immer auch – und da haben Menschen, wie Winni Nachtwei, der lange Jahre im Bundestag war und jetzt weiterarbeitet, in Afghanistan im Moment auch ist, immer wieder darauf bestanden – zu fragen: Was sind die Voraussetzungen, unter denen wir es verantworten können, auch deutsche Soldatinnen und Soldaten in einen Einsatz zu schicken? Das ist ihr Umfeld, das ist aber auch die Begründung, warum so ein Einsatz richtig ist und warum er stattfindet.
Und auch da höchstes Lob von mir, was wir da erlebt haben, was wir gesehen haben, unter welchen Bedingungen die dort arbeiten, Soldatinnen und Soldaten, die überhaupt nicht militaristische Rambos sind, sondern die wirklich mit großer Überzeugung und Engagement sagen: Wir wollen, dass es den Menschen dort besser geht.
Deutschlandradio Kultur: Frau Roth, ganz zum Schluss unseres Gespräches doch noch eine Frage zur aktuellen innenpolitischen Debatte um den Atomausstieg, Laufzeitverlängerung der AKWs. Ganz kurz von Ihnen: Warum sollen die Laufzeiten eigentlich nicht verlängert werden, wenn es denn doch so kostengünstig und so klimafreundlich ist?
Claudia Roth: Also erstens, dieses berühmt-berüchtigte Energieszenario, das ja unter Verschluss gehalten wird wie ein Staatsgeheimnis, wo ich mich auch frage, woher kommt das, wenn es doch unabhängig sein soll, beweist ja, dass es gar keine Vorteile gibt. Die Laufzeitverlängerung wirkt sich nicht positiv auf den Strompreis aus. Es gibt keine Versorgungslücke. Wir brauchen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke nicht. Sie sind allerdings eine erhebliche Sicherheitsgefährdung für die Bevölkerung. Es ist nicht geklärt, wo der verstrahlte Müll hin soll. Die ASSE ist ein Milliardengrab. Es verstopft die Chancen für die erneuerbaren Energien. Die Stadtwerke beklagen sich, dass es nur eine Unterstützung für die Oligarchie der vier großen Atomriesen ist, für die Atom-, für die Energiekonzerne.
Also, die Laufzeitverlängerung hat nur Nachteile, ist nicht nötig, ist nicht billig, aber sie ist ein wunderbarer Zugewinn für die großen Konzerne. Und die Atomkanzlerin wird sich noch wundern, wie heiß dieser Herbst wird.
Deutschlandradio Kultur: Frau Roth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.