"Europa muss nicht als Bittsteller auftreten"
Kanzlerin Merkel sollte selbstbewusster gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan auftreten, fordert der Grünen-Politiker Cem Özdemir. Die Türkei könne weder politisch noch wirtschaftlich auf die Europäische Union verzichten.
Auf Betreiben von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat das türkische Parlament die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten beschlossen. Mehr als zwei Drittel der Parlamentarier stimmten heute in Ankara für den umstrittenen Vorstoß von Erdogans islamisch-konservativer AKP. Die Maßnahme betrifft zwar 138 Abgeordnete aus allen vier Parteien im Parlament, richtet sich aber vor allem gegen die pro-kurdische HDP.
Erdogan wirft der HDP vor, der "verlängerte Arm" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Erdogan hatte ausdrücklich dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben, denen nun Untersuchungshaft drohen könnte.
Selbstentmachtung des türkischen Parlaments
Das türkische Parlament habe sich selbst entmachtet, kommentierte der Grünen-Politiker Cem Özdemir im Deutschlandradio Kultur. Die Chance, das Kurden-Problem parlamentarisch zu lösen, sei vertan:
"Die einmalige Chance, die bereits bei den vorletzten Parlamentswahlen entstanden ist – dadurch dass im Prinzip das gesamte Spektrum der Türkei im Parlament abgebildet wurde – die prokurdische Partei HDP, aber auch die Nationalisten, die Religiösen, die Sozialdemokraten – und damit eine Chance bestand, im Parlament, das kurdische Problem in Angriff zu nehmen, Lösungen zu entwickeln, diese Chance wird mutwillig kaputt gemacht."
Staatspräsident Erdogan bastele sich derzeit einen "Staat, wie es ihm gefällt".
Merkel habe Türkei lange vernachlässigt
Bundeskanzlerin Merkel ermunterte der Grünen-Politiker, deutlich selbstbewusster gegenüber der Türkei gerade in der aktuellen Entwicklung aufzutreten:
"Warum kann sie nicht beispielsweise auch Oppositionspolitiker treffen? Zum Beispiel Politiker der HDP, deren Immunität aufgehoben wird. Warum kann sie nicht auch Tageszeitungen, Medien, besuchen, die dort massiv unter Druck stehen?"
Das falle ihr vielleicht auch deshalb schwer, weil sie die Türkei außenpolitisch lange vernachlässigt habe. Özdemir:
"Ein Teil der Probleme hat sie sich auch selber eingebrockt, indem sie eben 2005, als sie Bundeskanzlerin wurde, ohne Not, wo die Türkei (…) sich in die richtige Richtung entwickelt hat, diesen Prozess de facto gestoppt hat und die Beitrittsverhandlungen durch die priviligierte Partnerschaft ersetzt hat."
Europa darf kein "Bittsteller" sein
Danach habe sich Merkel nicht mehr wirklich für die Türkei interessiert und das Land erst während der Flüchtlingskrise wiederentdeckt.
Erdogan genieße es nun ganz offensichtlich, von Kanzlerin Merkel außenpolitisch konsultiert zu werden. Doch das Machtverhältnis sei durchaus nicht einseitig zu seinen Gunsten. Özdemir nannte die Türkei einen politischen "Scheinriesen".
"Denn mindestens so sehr die Europäische Union - und wir - die Türkei brauchen, braucht auch die Türkei die Europäische Union. Sie ist außenpolitisch isoliert – von Washington, über Teheran bis zu Damaskus.
Also, alle Versuche der Türkei, Alternativen zur Europäischen Union aufzubauen, sind weitgehend gescheitert. Auch die Wirtschaft wird Schaden nehmen, wenn die Europäische Union und die Türkei sich auseinander entwickeln. Insofern besteht gar kein Grund dazu, dass Europa dort als Bittsteller auftritt."