Grundgesetz und Flüchtlinge

Werte gelten auch ohne Bekenntnis

Ein Buch zum Deutschen Grundgesetz.
Das Grundgesetz gilt - ob mit Bekenntnis oder ohne. © imago / Florian Schuh
Von Gesine Palmer |
Immer wieder fordern Politiker von Flüchtlingen ein Bekenntnis zu den Werten des Grundgesetzes. Ein Solches würde die Theologin Gesine Palmer nicht unterschreiben. Sie meint: Es dürfe keine Pflicht zum Gesinnungsbekenntnis geben.
Erinnert sich noch jemand? Als am 20. Mai 1949 der bayerische Landtag über die Annahme des Grundgesetzes abstimmte, bekannte sich eine klare Mehrheit dagegen - auf Empfehlung der damaligen Landesregierung. Die von heute erwartet jedoch von jedem Flüchtling, der in Deutschland bleiben darf und bleiben will, ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz.
Es ist eine eigentümliche Sache mit den Bekenntnissen. Als 1880 der Historiker Heinrich von Treitschke die Juden als "unser Unglück" identifiziert hatte, antwortete der damals einzige jüdische Ordinarius für Philosophie, Hermann Cohen, genervt: "Es ist also wieder dahin gekommen, dass wir bekennen müssen."
Und was bekannte er? Treue zu den Werten des Landes? Nein, er bekannte Treue zu seinem Judentum – und Enttäuschung, dass man ihm wegen seines religiösen Bekenntnisses nicht zutraute, dem deutschen Vaterland treu zu dienen. Treue haben – nicht nur im Ersten Weltkrieg - Tausende seiner Glaubensbrüder bewiesen. Gedankt wurde es ihnen nicht.
Grundgesetz setzt kein Bekenntnis voraus
Heute also werden wieder Bekenntnisse gefordert. Stirnrunzelnd fragte daraufhin der Bundesjustizminister, warum nur Flüchtlinge sich zu unseren Werten bekennen sollten und nicht auch manche Deutsche, die als schlecht integrierbar angesehen werden.
Als einer der beiden Verfassungsminister hätte er gedanklich noch einen Schritt weitergehen sollen. Das Grundgesetz gilt, egal was der einzelne Bürger von ihm denkt. Ein ausdrückliches Bekenntnis zu den verfassten Rechten und Pflichten verlangt es nicht. Es sei denn, jemand übt ein öffentliches Amt aus.
Bürgersinn und Bürgerengagement sind gefragt, vielleicht auch selbstverständlich, aber niemals verpflichtend. Das missverstehen Symbolpolitiker und Gesinnungsexhibitionisten notorisch.
Wer als Mensch guten Willens gelten wolle, so wird beispielsweise in manchen Soziotopen verlangt, der solle durch sichtbare Taten und ehrenamtlichen Einsatz zur "Willkommenskultur" beitragen. Wer das – aus welchen persönlichen Gründen auch immer – nicht tut, gerät leicht unter Verdacht, geldorientiert, islamophob oder rassistisch zu sein.
Bekenntnis unterstellt Unzuverlässigkeit
Wo immer ein Bekenntnis gefordert wird, ist die Unterstellung schon da. Der Fordernde setzt sich selbst als rechtlich oder gesellschaftlich zuverlässig – und denjenigen, von dem er ein Bekenntnis fordert, als unzuverlässig. Dabei gilt der Zweifel nicht nur der Haltung, etwa der Geflüchteten, sondern vor allem der Kraft des Grundgesetzes.
Wer eine Unterschrift zu einem parlamentarisch verabschiedeten Gesetz verlangt, der zeigt, dass er von dessen selbstverständlicher Wirksamkeit und Geltung nicht überzeugt ist. Demnach würden das Grundgesetz oder das Bürgerliche Gesetzbuch nur jene betreffen und binden, die es noch einmal eigens unterschrieben haben.
Wenn das so wäre, dann könnten wir uns tatsächlich auf uns selbst und auf unsere Rechtsordnung nicht mehr verlassen. Natürlich werden die Prinzipien der Verfassung oder des Zivilrechts erst Realität, wenn sie von der Gesellschaft wie von jedem einzelnen im Alltagsleben respektiert werden.
Gesinnung duldet keine Normenkontrolle
Daraus folgt aber nicht, es sei erlaubt, von jedermann eine bestimmte Gesinnung einzufordern. Das hieße, eine kritische, eine distanzierte Einstellung zum Recht nicht zu dulden, letztlich auch keine Normenkontrolle. Seit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur jedoch halten wir auch in Deutschland Menschenrechte sogar dann für einklagbar, wenn sie von Gesetzes wegen nicht anerkannt werden.
Und zu den Menschenrechten gehört auch, nicht genötigt zu werden, seine Gesinnung offenzulegen. Auf diese und andere Garantien des Grundgesetzes würde ich mich weiterhin gern verlassen – einfach so. Müsste ich das eigens irgendwo unterschreiben, hätte ich das Gefühl: Es stimmt etwas nicht.
Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik".
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Die Religionsphilosophin Gesine Palmer© privat
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