Buchempfehlungen

Grundgesetz-Jubiläum: 75 Jahre Unantastbarkeit

Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, an einer Wand eines Justizgebäudes in Frankfurt.
Artikel 1 des Grundgesetzes an einer Wand eines Justizgebäudes in Frankfurt: Die meisten Deutschen haben ein positives Verhältnis zu ihrer Verfassung. © picture alliance / Wolfgang Minich / Wolfgang Minich
Die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, wird 75 Jahre alt. Ein Grund zum Feiern - aber auch zu kritischer Reflexion. Wir haben aus vielen aktuellen Büchern zum Thema die interessantesten ausgewählt.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet auch 75 Jahre nach seiner Verkündung hohe Zustimmung: Bei einer aktuellen Umfrage des Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM) sagten 81 Prozent der Befragten, das Grundgesetz habe sich bewährt - nur sechs Prozent waren gegenteiliger Auffassung.
Allerdings gibt es auch Bevölkerungsteile, die die deutschen Verfassung am liebsten einer Totalrevision unterziehen würden - unter den AfD-Anhängern sind es 39 Prozent. Doch das bleibt eine Minderheitenmeinung. Im Großen und Ganzen wird das Grundgesetz als Erfolgsgeschichte betrachtet. Was nicht heißt, dass man das Paragraphenwerk nur feiern sollte, man darf es ruhig kritisch würdigen.

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Wir haben aus den aktuellen Büchern zum Thema einige Veröffentlichungen ausgesucht, die auf ihre jeweils eigene Weise entscheidende Fragen rund um die deutsche Verfassung beantworten. Wie kam die Würde ins Grundgesetz? Wie ist es entstanden, wer hat es geschrieben? Wie ernst war die Gleichberechtigung von Mann und Frau gemeint? Hat das Grundgesetz einen Gänsehautfaktor? Was haben wir mit der Wiedervereinigung daraus gemacht? Und: Ist das Grundgesetz fit für die Klimakrise?

Habbo Knoch: „Im Namen der Würde“

Die Würde des Menschen ist dem Grundgesetz kein unverbindlicher Zierrat, sondern bildet in Artikel 1 die Basis des bundesdeutschen Rechtsstaats. Das mag heute selbstverständlich erscheinen, aber das war es nicht, zeigt der Historiker Habbo Knoch.
In seinem kenntnisreichen Buch zeichnet er detailliert und spannend nach, wie aus einer Distanzierung vom Nationalsozialismus ein echtes Versprechen wurde – ein mächtiges Werkzeug im Kampf für Gleichberechtigung, Minderheitenrechte und gegen Ungerechtigkeit, auch über die deutschen Grenzen hinaus. Und er untersucht, wo dieses Versprechen auch heute noch nicht eingelöst ist - und wer es bedroht.

Habbo Knoch: „Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte“
Hanser, München 2023
480 Seiten, 29 Euro

Sabine Böhne-Di Leo: „Die Erfindung der Bundesrepublik“

Es ist die Entstehungsgeschichte des vielleicht stabilsten Provisoriums, das die Bundesrepublik je gesehen hat: das Grundgesetz. Im Sommer 1948 kommen in Bonn 61 Männer und vier Frauen zusammen, um im Auftrag der westlichen Alliierten eine Verfassung zu entwerfen. Aber (wie) geht das, während die Sowjetunion Berlin abriegelt? Und wie soll das geteilte Land aussehen?
Die Journalistin Sabine Böhne-Di Leo protokolliert eine unwahrscheinliche Gesetzgebung, sie porträtiert die Köpfe der westdeutschen Verfassung und beschreibt den deutschen Alltag der unmittelbaren Nachkriegszeit. Und erzählt, wie die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern dann doch noch ins Grundgesetz geschrieben wurde.

Sabine Böhne-Di Leo: „Die Erfindung der Bundesrepublik. Wie unser Grundgesetz entstand“
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024
216 Seiten, 23 Euro

Deutscher Bundestag (Hrsg.): „Der nächste Redner ist eine Dame"

Wer waren die Pionierinnen des westdeutschen Parlaments, jene Frauen, die im Herbst 1949 in den ersten Deutschen Bundestag einzogen? Der vom Deutschen Bundestag herausgegebene Band erzählt von ihnen und von den Widerständen, gegen die sie im männerdominierten Parlament zu kämpfen hatten.
In Texten und Kurzporträts von Helene Bukowski, Julia Franck, Terézia Mora, Juli Zeh und anderen lesen wir über die erste weibliche Partei- und Fraktionsvorsitzende Helene Wessel, über den Kampf der Holocaustüberlebenden Jeanette Wolff für Entschädigungen der jüdischen Opfer und über Anne Marie Heiler, die bei ihrer ersten Rede angekündigt wurde mit den Worten: „Der nächste Redner ist eine Dame.“ Die grundgesetzlich garantierte Gleichberechtigung ist eben auch im Parlament nicht von allen ernst genommen worden.
Bild aus dem Jahr 1953: Eine Rednerin steht hinter Mikrofonen am Rednerpult im Deutschen Bundestag und blickt ins Plenum.
Helene Wessel 1953 am Rednerpult des Deutschen Bundestages: Sie gilt als eine der "Mütter" des Grundgesetzes.© dpa / picture alliance / Georg Brock

Deutscher Bundestag (Hrsg.): „Der nächste Redner ist eine Dame. Die Frauen im ersten Deutschen Bundestag“
Ch. Links Verlag, Berlin 2024
256 Seiten, 25 Euro

Steffen Augsberg (Hrsg.): „Verfassungspatriotismus"

Seit 75 Jahren regelt ein eigentlich als Übergangsverfassung geplantes Grundgesetz das Zusammenleben in der Bundesrepublik. Das tut es stabil und verlässlich. Aber kann das Grundgesetz auch mehr? Taugt es als patriotischer Gänsehautfaktor? Kann das Grundgesetz Sinn und Identität stiften?
Dafür erfand der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger 1970 den Begriff des „Verfassungspatriotismus", und der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas griff ihn 16 Jahre später wieder auf. Und heute? Ob ein Verfassungspatriotismus die vielfältiger werdende Gesellschaft zusammenhalten kann, ergründet der vom Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg herausgegebene Band.

Steffen Augsberg (Hrsg.): „Verfassungspatriotismus. Konzept, Kritik, künftige Relevanz“
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2024
180 Seiten, 24 Euro

Christina Morina: „Tausend Aufbrüche"

Christina Morina untersucht die politische Verfasstheit der beiden deutschen Staaten und beleuchtet demokratische Aufbrüche und vertane Chancen seit den 1980er-Jahren und bei der Wiedervereinigung. In akribischer wissenschaftlicher Arbeit hat die Historikerin ausgewertet, was die Bevölkerung in Ost und West selbst geschrieben hat: Bürgerbriefe, Petitionen und Flugblätter.
Dadurch kommt sie den unterschiedlichen Vorstellungen von Staat und Politik auf die Spur und erforscht eine spezifische ostdeutsche Staatsferne, die die Skepsis gegen Institutionen und das gleichzeitige Beharren auf Bürgersinn bis heute erklärbar macht. Das Ergebnis ist ein wohltuend differenzierter gesamtdeutscher Blick auch auf die Zustimmung zur AfD: wissenschaftlich fundiert, gut lesbar, überzeugend argumentiert. Und nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2024.

Christina Morina: „Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren“
Siedler, München 2023
400 Seiten, 28 Euro

Jens Kersten: „Das ökologische Grundgesetz“

Der Schutz von Umwelt, Klima und Tier steht als Staatsziel im Grundgesetz. Aber damit sei die deutsche Verfassung noch nicht fit für die Klimakrise, argumentiert der Jurist Jens Kersten. Er fordert eine ganze Reihe neuer ökologische Rechte, beispielsweise das Recht auf ökologische Integrität.
Auch müsse die Natur juristisch bessergestellt werden. So müsse ein Wald beispielsweise als „ökologische Person“ anerkannt werden – so wie Firmen als juristische Person auftreten. Und Eigentum müsse nicht mehr nur sozial verpflichten, sondern auch ökologisch.
Kersten formuliert aber nicht nur Vorschläge für einzelne Artikel und Paragraphen. Sein Buch ist eine Anleitung zur ökologischen Generalsanierung der deutschen Verfassung und richtet sich an Juristen und Laien, die es genauer wissen wollen.

Jens Kersten: „Das ökologische Grundgesetz“
C.H. Beck, München 2022
240 Seiten, 34,95 Euro

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