Grundrechte in der Coronakrise

Wie viel politischer Protest ist erlaubt?

07:02 Minuten
Auf den Asphalt sind gelbe Fußstapfen gemalt und mit weißer Schrift: "Luftbrücke für Geflüchtete" und "Refugees welcome here".
Neue Protestformen braucht das Land: Weil in der Coronakrise größere Versammlungen verboten sind, weichen Aktivisten auf andere Aktionsformen aus. © Kristin Langen
Von Kristin Langen |
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Zahlreiche Grundrechte werden in der Coronakrise eingeschränkt, darunter auch die Demonstrationsfreiheit. Was dennoch an Protest erlaubt ist und was nicht, darüber gehen die Meinungen von Polizei und Aktivisten auseinander.
"Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Alle Versammlungsteilnehmer werden nochmals aufgefordert, den Bereich der Brandenburger Straße umgehend zu verlassen. Ende der Durchsage."
Über 150 Menschen stehen am Ostersonntag auf der Brandenburger Straße in Potsdam bei einem kleinen Bäcker an. Zwischen den Menschen sind mehr als zwei Meter Abstand. Alle tragen Mundschutz. Beim Warten halten sie Protestplakate in die Luft: "Evakuiert die Lager an den EU-Außengrenzen" oder "Schäme dich, EU, niemand ist sicher, bis alle sicher sind", ist darauf zu lesen. Sie nennen es politische Einkaufschlange:
"Am Ostersonntag bei Sonnenlicht mit Maske und Schildchen zum Bäcker gehen ist immer gut."

Eine Warteschlange als politische Versammlung?

Eigentlich hatte das Bündnis Seebrücke eine Menschenkette geplant. Drei Meter Abstand sollte zwischen den Teilnehmern garantiert werden, alle sollten Mundschutz tragen. Doch die Polizei hatte die geplante Aktion mit Verweis auf die Brandenburger Coronaverordnung untersagt. Auch bei der nun alternativ stattfindenden politischen Einkaufsschlange erteilt die Polizei Platzverweise. Einen Mundschutz trägt sie dabei nicht.
Die Polizei wertet die Warteschlange als politische Versammlung. Der Sprecher der Polizei Brandenburg West, Heiko Schmidt:
"Und insofern ist diese Versammlung nach der Eindämmungsverordnung verboten gewesen, von vorneherein und da hat die Polizei keinen Spielraum. Verbotene Versammlungen sind aufzulösen."

Ein Autokorso als politische Versammlung?

Brandenburg ist nicht das einzige Beispiel. Auch in anderen Bundesländern wurden Anfang April Versammlungen pauschal verboten. Das führte zu teilweise absurden Situationen. In Berlin berichten Aktivisten des Bündnis Seebrücke, wie aus Protest abgelegte Schuhe von der Polizei umgehend weggeräumt wurden. Oder wie ein Autokorso mit Plakaten an den Fensterscheiben von der Polizei gestoppt wurde. Die Polizei müsse so handeln, betont Heiko Schmidt bei einem Gespräch Anfang April:
"Versammlungen sind nicht erlaubt und ein Autokorso fällt hier auch ganz eindeutig darunter."
Die Brandenburger Landesregierung hatte Versammlungen pauschal mit Hilfe von Verordnungen verboten, ohne Zustimmung des Landesparlaments. Der Innenminister von Brandenburg, Michael Stübgen, hält das für gerechtfertigt:
"Es ist ausdrücklich möglich, auch bürgerliche Rechte, einschließlich des Grundrechtes auf Demonstration, im Verordnungsweg befristet auszusetzen."
Die Juristin Pauline Weller widerspricht: Ein Grundrecht darf nicht ausgesetzt werden, sagt sie, der Kern eines Grundrechts darf nie angetastet werden.
Pauline Weller sitzt in ihrem Büro in Berlin-Mitte. Als Juristin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen der Coronakrise auf die Zivilgesellschaft. Warum ein Autokorso oder eine politische Einkaufsschlange verboten sind, ist für sie nicht nachvollziehbar:
"Natürlich gelten auch in der aktuellen Lage die Grundrechte in voller Gänze und man kann jetzt nicht einfach sagen: Ach, jetzt ist mal anderes wichtig. Also, andersherum könnte man sogar sagen: Gerade jetzt in so einer Krisenzeit ist es wichtig, dass wir eben den Grundrechtsschutz wirklich beibehalten. Und andererseits ist natürlich klar, dass eine Riesendemo wie die Ostermärsche nicht genauso stattfinden können, wie das jetzt vor der Coronazeit war."
Michael Stübgen allerdings ist überzeugt, dass das Aussetzen des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit notwendig war.
"Die erste Eindämmungsverordnung, die bundesweit ähnlich war und extrem strikt angelegt war. Diese Eingriffe waren extrem scharf, aber sie waren notwendig, einschließlich Aussetzung des Demonstrationsrechts, um die Infektionsfälle zu stoppen. Da wir sie jetzt reduzieren konnten, werden wir hier zur Öffnung kommen, soweit es geht."
Eine junge blonde Frau mit hochgesteckten Haaren und dunklem Pullover lächelt in die Kamera.
"Der Kern eines Grundrechts darf nie angetastet werden", sagt Pauline Weller von der Gesellschaft für Freiheitsrechte.© Kristin Langen
Mitte April stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass das generelle Verbot von Versammlungen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Jede Versammlung müsse im Einzelfall geprüft werden. Die Bundesländer reagieren. Ende April sind Versammlungen zwar in keinem Bundesland mehr generell verboten, aber oft nur in Ausnahmefällen erlaubt. Und genau das hält die Juristin Pauline Weller weiterhin für fragwürdig:
"Aus meiner Sicht ist es verfassungsrechtlich problematisch, wenn Veranstaltungen pauschal verboten sind und nur in Ausnahmefällen erlaubt sind. Die freiheitliche, demokratische Grundordnung muss in der Regel Versammlungen erlauben. Im Einzelfall können sie dann immer noch verboten werden, aber eben nur ausnahmsweise, wenn die Versammlung nach erfolgter Prüfung auch unter Auflagen nicht stattfinden kann."
Die Juristin betont, dass digitaler Protest, auf den Behörden teilweise verweisen, aus grundrechtlicher Perspektive kein Ersatz sei. All diejenigen, die keinen Zugang zu Computern haben, würden dabei ausgeschlossen. Und der Einfluss auf den öffentlichen Diskurs sei bei digitalen Protestformen nicht im selben Maß gegeben wie auf der Straße.

"Auch in Zeiten von Corona muss Protest möglich sein"

So müssen Flüchtlingsorganisationen, Klimaaktivisten oder andere zivilgesellschaftliche Akteure viel Kreativität aufbringen, um sich in Coronazeiten Gehör zu verschaffen. Die Klimabewegung "Fridays for Future" legte am Freitag 10.000 Plakate vor dem Bundestag ab und demonstrierte digital für mehr Klimaschutz. Pauline Brünger von Fridays for Future zieht ein positives Resümee:
"Und es ist ja total klar, dass auch in Zeiten von Corona Protest weiter möglich sein muss. Deswegen ist es, glaube ich, so super wichtig, dass wir als Fridays for Future unseren Protest gegen die Klimakrise so auf die Straße gebracht haben."
Allerdings: Trotz Infektionsschutz ist Protest auf der Straße nicht immer erlaubt. Am Sonntag sind in Berlin kleine Gruppen mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren. An ihren Rädern: Plakate, die die Evakuierung der Flüchtlingslager in Griechenland fordern. Sie werden von der Polizei angehalten, die Personalien aufgenommen und aufgefordert, die Botschaften zu entfernen. Die Begründung: Fahrrad fahren ist erlaubt, unangemeldet gemeinsam eine politische Meinung äußern nicht.
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