Massenüberwachung ist nicht abstrakt
Chaos-Computer-Club-Sprecherin Constanze Kurz fordert ein neues Nachdenken über die Arbeit der Geheimdienste. Massenüberwachung sei nicht abstrakt, sondern konkret. Kurz stellt den aktuellen Report über den Umgang mit den Grundrechten in Deutschland vor.
BND-Präsident Gerhard Schindler sei nach seinem Auftritt vor dem NSA-Untersuchungsausschuss nur noch ein "Chef auf Abruf", sagte die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, Constanze Kurz im Deutschlandradio Kultur. Sie fordert ein neues Nachdenken über die Arbeit der Geheimdienste. Im Vergleich zu anderen Ländern gebe es in Deutschland eine intensivere Debatte, sagte die Internetaktivistin.
Die umstrittene sogenannte "Selektorenliste" werde bisher auch deshalb nicht veröffentlicht, weil dann sichtbar werde, dass die Massenüberwachung nicht abstrakt sei, sagte Kurz. Es gebe konkrete Menschen und Unternehmen, die überwacht worden seien. Es handele sich allerdings nur um einen von mehreren Skandalen. Deshalb sei der Grundrechte-Report, den sie als Vertreterin des Chaos Computer Clubs vorstellt, eine gute Lektüre für die Parlamentarier.
BND führt Parlament an der Nase herum
Kurz sagte, der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Gerhard Schindler, sei nur noch ein "Chef auf Abruf", nachdem er vor dem NSA-Untersuchungsausschuss sein Unwissen zugegeben habe. Die Internet-Aktivistin kritisierte, dass der BND das Parlament an der Nase herumführe. Er rücke immer nur scheibchenweise die Informationen heraus, die ohnehin in der Presse stünden. Bei der Massenüberwachung werde im Moment kleingeredet, wie viele Milliarden von Datensätzen der BND an die USA weiter gebe. "Ich glaube, man muss sich nochmal klarmachen, was die Selektoren sind", sagte sie. "Wir reden hier von vielen Millionen Betroffenen."
Alternativer Verfassungsschutzbericht
Acht Bürgerrechtsorganisationen stellen am Freitag in Karlsruhe ihre Einschätzung zur aktuellen Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland vor. Schwerpunkte des "Grundrechte-Reports 2015" sind die Überwachung durch Geheimdienste, der Umgang mit Flüchtlingen und die Sozialpolitik in der EU. Die Analyse wird diesmal von Constanze Kurz präsentiert.
Der seit 1997 jährlich erscheinende Report versteht sich als "alternativer Verfassungsschutzbericht". Zu den Verfassern gehören die Humanistische Union, die Internationale Liga für Menschenrechte und die Neue Richtervereinigung. Sie wollen aufzeigen, in welchen Bereichen "staatliche Behörden Grundgesetz und Grundrechte immer wieder verletzen".
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die Nacht der Schlapphüte war ja gestern, ein bisschen überspitzt gesagt! Der Chef des Bundesnachrichtendienstes musste zum Rapport beim NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages und sollte berichten, wer was wusste vonseiten des Dienstes über die sogenannten Selektoren – auch ein neues Wort, was wir gelernt haben –, also die Suchbegriffe, die der amerikanische Geheimdienst NSA den deutschen Kollegen auf den Tisch gelegt hat. Und Gerhard Schindler, BND-Chef, räumte Fehler seiner Behörde ein, man habe wohl nicht richtig hingeguckt, was die Amerikaner da an Suchkriterien geschickt hätten.
Allerdings sagte er auch ebenso deutlich: Ohne die Amerikaner wäre Deutschland ohne Ohren in der Welt. Wer's glaubt! Zweifel äußert zumindest der Grundrechtereport: Bereits zum 19. Mal stellen acht deutsche Bürgerrechtsorganisationen der Öffentlichkeit einen Grundrechte-Report vor, das ist so was wie ein alternativer Verfassungsschutz, könnte man sagen, und beschäftigt sich damit auch eingehend mit den Geheimdiensten. Constanze Kurz ist Sprecherin des Chaos Computer Clubs und stellt heute diesen Grundrechte-Report vor! Guten Morgen!
Constanze Kurz: Guten Morgen!
Brink: Der Bundestag bemüht sich ja um Aufklärung. Was kann der Grundrechte-Report darüber hinaus leisten, was man nicht schon weiß?
Kurz: Ich glaube, er wirft immer so einen bisschen größeren Blick auf die Entwicklung eines ganzen Jahres und nimmt auch manchmal noch die europäische Perspektive mit ein. Ich glaube, es ist der Versuch, den Blick des Rechts immer noch mal mit so einer ein bisschen bürgerrechtskritischen Perspektive zu verbinden.
Rechtsfreie Räume
Brink: Und wie sieht jetzt Ihr Blick des Rechts angesichts dieser BND-NSA-Affäre aus?
Kurz: Im Grunde hat der Untersuchungsausschuss im Bundestag dazu ja auch schon einmal eine Anhörung durchgeführt, wo Staatsrechtler sehr klargemacht haben, dass die Nachrichtendienste eine ganze Menge rechtsfreie Räume haben, in denen sie agieren, wo der Bundestag eigentlich tätig werden müsste, also eigentlich die gesetzlichen Grundlagen dieser geheimdienstlichen Schnüffelei ändern müsste. Der aktuelle Skandal ist ja nur eine Ausformung der vielen Skandale, die im letzten Jahr und in dem Jahr davor herauskamen. Also, hier wird auch immer noch eine gewisse Forderung dann formuliert, in dem Fall auch von Burkhard Hirsch, der darüber schreibt, wie die Geheimdienste eigentlich zu kontrollieren sein müssten.
Brink: Also der FDP-Politiker, meinen Sie.
Kurz: Es ist sicherlich eine gute Lektüre für aktuelle Parlamentarier, glaube ich, die sich neue Gesetze für den Nachrichtendienst ausdenken sollten.
Brink: Ich würde noch gerne ein bisschen auf diesen Kern dieses Skandals kommen, der ja nicht ganz so leicht zu fassen ist. Worüber regen Sie sich am meisten auf, was ist für Sie der Kern, wo es im Argen liegt?
Kurz: Für mich ist es zum einen die Tatsache, dass der Bundesnachrichtendienst offensichtlich das Parlament an der Nase herumführt in der Weise, dass er immer nur scheibchenweise die Informationen herausrückt, die ohnehin in der Presse stehen oder die einfach nicht mehr abzustreiten sind. Das ist natürlich eine Behandlung des Parlaments, wo sich der kontrollierte Geheimdienst offenbar gar nicht in der Lage fühlt, von sich aus die Wahrheit zu sagen.
Das andere ist natürlich die Frage der Massenüberwachung, also, dass hier auch kleingeredet wird, wie viele Milliarden Datensätze der Bundesnachrichtendienst einfach weitergibt an die Amerikaner. Und dass gestern nun auch noch der Chef dieses Geheimdienstes letztlich auch von der technischen ... das mangelnde Wissen zugegeben hat, macht ihn natürlich zu einem Chef auf Abruf.
Wir reden hier von vielen Millionen Betroffenen
Brink: Aber er hat ja immerhin gesagt, wir haben alles überprüft, von unten nach oben sozusagen, ich übernehme die Verantwortung, es sind Fehler passiert. Was hätte er denn mehr tun sollen?
Kurz: Na ja, natürlich kann man immer sagen, es ist jetzt jahrelang so gelaufen, wir haben einen Großteil dieser Selektoren gar nicht so richtig durchgesehen, ja, wir haben da deutsche und europäische Interessen missachtet, tut mir leid! Aber ich denke, das ist doch keine politische Lösung, dass man einräumt, dass man letztlich auch rechtswidrig gehandelt hat! Im Übrigen hat er natürlich auch gesagt, dass er einiges über diese Selektorenlisten gar nicht weiß. Man muss sich, glaube ich, technisch auch noch mal klarmachen, was diese Selektoren sind: Wir reden hier von vielen Millionen Betroffenen.
Denn so ein Selektor ist eben nicht eine einzelne E-Mail-Adresse, sondern kann auch ein ganzer Bereich, etwa ein ganzes Unternehmen sein, was dabei ausgeforscht wird, oder eben auch eine ganze Reihe von Mobiltelefonnummern, oder sogar ein kleines Programm. Insofern, er hat da nicht so sehr viel offengelegt, und vor allen Dingen hat er die Selektorenliste nicht mitgebracht. Ich denke, wir, das Parlament ... Also, wir Bürger und das Parlament, aber auch die deutschen Unternehmen, die betroffen sind, die haben natürlich ein Recht darauf, diese Liste zu sehen!
Brink: Noch durfte er sie ja nicht mitbringen, weil er sozusagen noch keine Freigabe bekommen hat vom Bundeskanzleramt. Die warten ja auch immer noch darauf, dass die Amerikaner das tun, also rein rechtlich gesehen.
Kurz: Ja.
Brink: Er hat aber auch einen interessanten Punkt ja irgendwie aufgeworfen: Er hat gesagt, na ja, ohne die Amerikaner wären wir Deutschen blind. Das heißt, die Amerikaner brauchen uns nicht, aber wir brauchen sie?
Kurz: Ich denke, diese Abhängigkeit hat er natürlich korrekt dargestellt. Man muss schon sagen, dass die Amerikaner in ihren technischen Abhörmöglichkeiten natürlich enorm mehr können. Da ist der Bundesnachrichtendienst sicherlich technisch nicht so weit. Aber eine gewisse Abhängigkeit der Amerikaner gibt es natürlich auch in Bezug auf die deutschen Daten, insbesondere auf den Knotenpunkt in Frankfurt, der sehr wichtig ist einfach für den europäischen Datenverkehr. Das heißt, ein bisschen was hat der Bundesnachrichtendienst ja auch zu bieten. Der Punkt ist nur, es geht doch gar nicht darum, ob die Nachrichtendienste jetzt da weiterhin diese Massendatenaustauschaktion durchführen können! Wir wollen doch diesen Bereich zurückbauen! Der soll doch nicht noch ausgebaut werden!
Eigenleben der Geheimdienste
Brink: Geht es Ihnen darum, um einen Rückbau?
Kurz: Ich denke, schon. Ich glaube, wenn eines klar wurde nach den fast zwei Jahren Snowden, ist, dass hier ein ganzer Bereich sich gebildet hat, der sich der Kontrolle unseres Parlaments – und das ist ja in den USA oder in Großbritannien gar nicht anders – entzogen hat, die letztlich machen, was sie wollen, und immer nur zugeben, was in der Presse steht.
Brink: Aber alles deutet doch eigentlich darauf hin, dass die tatsächlichen Verbindungen zwischen NSA und BND nicht wirklich aufzuklären sind. Das weiß eigentlich auch die Koalition!
Kurz: Warum sollen sie nicht aufzuklären sein? Wenn man sich quasi mit dem Eigenleben dieser Geheimdienste bereits abgefunden hat, die immer darauf verweisen, dass sie halt Verträge miteinander haben ... Ich denke, das ist keine Haltung, die ein Parlamentarier heute einnehmen kann, schon gar nicht, wenn er in diesem Untersuchungsausschuss sitzt. Ich glaube einfach, dass wir neu über diese Nachrichtendienste nachdenken müssen, übrigens auch die Abhängigkeit der Politik von diesen Nachrichtendiensten.
Intensivere Debatte in Deutschland
Brink: Aber ein Parlamentarier trägt ja auch immer das mit, was er sozusagen aus der Bevölkerung reflektiert bekommt. Und meiner Wahrnehmung nach interessieren sich ja die meisten Menschen in Deutschland nicht wirklich dafür, es ist eigentlich kein Aufregerthema. Also, es gibt nicht diese explosionsartige öffentliche Empörung? Wie erklären Sie sich das?
Kurz: Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum diese Selektorenliste auf keinen Fall öffentlich werden soll, weil nämlich klar wird, dass diese Massenüberwachung nicht abstrakt ist, sondern dass es konkrete Menschen gibt und Unternehmen gibt, die in diese Massenüberwachung fallen.
Ich habe schon den Eindruck, dass in Deutschland anders als in anderen Ländern intensiver debattiert wird darüber. Ich denke, dass die Politik ganz unabhängig davon, ob sich jetzt jeder Mensch in Deutschland persönlich betroffen fühlt, handeln muss. Ich denke, dass ist ihre Pflicht schlicht, auch aus Rechtsgründen. Denn wir leben schließlich in einem Rechtsstaat, wo auch die Bundesregierung selbstverständlich unser eigenes Recht zu beachten hat und dem Geltung zu verschaffen hat.
Brink: Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs. Vielen Dank für das Gespräch!
Kurz: Sehr gern!
Brink:Ja, danke Ihnen, und sie stellt heute den Grundrechtereport vor in Karlsruhe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.